Zensur

Zensur

Alle Gesellschaften zu allen Zeiten kannten und kennen Zensur oder ihr verwandte Praktiken. In der DDR war Zensur allgegenwärtig. Das MfS öffnete Briefe, schwärzte Wörter und Sätze, entnahm Fotos und Geldscheine oder nahm die Briefe zu den Akten. Westpaketen wurden von der Stasi nicht genehmigte Inhalte entnommen, etwa jene ungezählten Audiokassetten zumeist mit leichter Muse und Hörspielen, um sie, mangels ausreichender einheimischer Produktion, zur Aufzeichnung eigener Abhöraktionen zu verwenden.

Wer einen Text, gleich welcher Sorte, veröffentlichen wollte, musste dies genehmigt bekommen. Das gleiche galt für Filme und Tonträger. Im Fall der Literatur rangen Funktionäre, Verlagsmitarbeiterinnen und Autorinnen um Aussagen, Sätze und Formulierungen auf dem Weg zur (Nicht-)Veröffentlichung. Bei Bildern, Filmen und Theaterinszenierungen war u. a. die vermeintlich richtige Darstellung der Realität und des sozialistischen Menschen die Schwelle für den Schritt an die Öffentlichkeit. Bei Liedern, Oratorien, Operetten und Opern war gegebenenfalls der Text der Stein des Anstoßes. Im Fall der nichttextierten Musik setzte sich sehr bald die Einsicht durch, dass es keine „kapitalistische oder sozialistische Terz oder Sexte“ gebe,1Aussprache in der Sektion 1 „Musiktheoretische Fragen“ des Musik-Kongresses 1964 am 21. September 1964, 9 Uhr im Kulturraum der DIA Nahrung, Berlin W 8, Schicklerstr. 5, Archiv der AdK, Berlin, Bestand: Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR, Signatur: 10, das Zitat Bl. 109; vgl. auch die Druckfassung des Diskussionsbeitrages von Heinz Alfred Brockhaus unter dem Titel: Musikwissenschaft und neues Schaffen, in: MuG 15 (1965), 19–21, 21. allerdings vor dem Hintergrund, dass bestimmte Genres, musikalische Haltungen und Sounds in der DDR zeitweise unter Generalverdacht standen.

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Grob lassen sich drei Arten von Zensur unterscheiden. Vorzensur meint, dass Texte, also auch Notentexte oder Aufnahmen, vor ihrer Veröffentlichung von einer Instanz abgesegnet werden müssen.2Vor der Veröffentlichung bedurfte ein Buch der ‚Druckgenehmigung‘. Für die Musik vgl. Bettina Hinterthür: Noten nach Plan. Die Musikverlage in der SBZ/DDR. Zensursystem, zentrale Planwirtschaft und deutsch-deutsche-Beziehungen bis Anfang der 60er Jahre, Stuttgart 2006. Die Auseinandersetzung um die Oper Das Verhör des Lukullus von Bertolt Brecht und Paul Dessau kann als herausragendster Fall der Vorzensur auf dem Gebiet der Musik in der soeben gegründeten DDR angesehen werden.

Nachzensur meint ein ähnliches Procedere, nachdem ein Werk bereits an die Öffentlichkeit gelangt ist. Das kann alle Varianten zwischen dem Verbot, der Damnatio memoriae oder der nachträglichen Forderung von Änderungen bedeuten. Die kulturpolitische Kampagne gegen Hanns Eislers Faustus-Opernprojekt dürfte der schwerwiegendste Fall von Nachzensur auf dem Gebiet der Musik in der frühen DDR gewesen sein. Das Libretto wurde aus dem Buchhandel entfernt, Restbestände wurden eingestampft und der Autor moralisch niedergeknüppelt.

Die dritte Ebene ist am schwersten zu greifen. Immer und überall gab und gibt es zum Teil unausgesprochene, Gebote, Tabus, Sitten und Gebräuche, welche unbewusst, das Schnittmuster für die Schere im Kopf vorzeichnen.3„Kanon war ein Machtmittel, um Ziele auf Konsensbasis zu erreichen, Handeln durch Selbsttätigkeit in eine intendierte Richtung zu treiben. Wenn aber die handlungsleitende Funktion des Kanons Formen der Anerkennung voraussetzt, muß seine Existenz gerade da vermutet werden, wo er oberflächlich nicht wahrnehmbar und, im Sinne erfolgreicher Vermittlung von Interessen, wie ‚selbstverständlich‘, gewissermaßen naturhaft, anwesend und wirksam war.“ Martina Langermann, Thomas Taterka: Von der versuchten Verfertigung einer Literaturgesellschaft. Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der DDR, in: dieselben mit Birgit Dahlke (Hg.): LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n), Stuttgart, Weimar 2000, 1–32, 17. In der frühen DDR setzte etwa die aus dem Russischen übersetzte Reihe Musik und Zeit4Die sowjetische Musik im Aufstieg. Eine Sammlung von Aufsätzen (= Musik und Zeit, Bd. I), Halle 1952; Um die Grundlagen der Musik. Diskussionsbeiträge über die Auswirkung der Arbeit J. W. Stalins „Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft auf die Musik“, [Teil 1] (= Musik und Zeit, Bd. II), Halle (Saale) 1952; Grigori Schneerson: Musik im Dienste der Reaktion (= Musik und Zeit, Bd. III), Halle (Saale) 1953; Tamara Liwanowa: Die Kritikertätigkeit der russischen klassischen Komponisten (= Musik und Zeit, Bd. IV), Halle (Saale) 1953; Viktor Gorodinski: Geistige Armut in der Musik (= Musik und Zeit, Bd. V), Halle (Saale) 1953; Probleme der sowjetischen Musik. Eine Sammlung von Aufsätzen (= Musik und Zeit, Bd. VI), Halle (Saale) 1953; Um die Grundlagen der Musik 2. Diskussionsbeiträge über die Auswirkung der Arbeit J. W. Stalins „Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft auf die Musik“, [Teil 2] (= Musik und Zeit, Bd. VII), Leipzig 1954; Band VIII ist nicht erschienen; I. Ryshkin: Die russische klassische Musikwissenschaft im Kampf gegen den Formalismus (= Musik und Zeit, Bd. IX), Leipzig 1955. kanonisierend den Ton, während die Stakuko und das Amt für Literatur Züge von Zensurbehörden trugen,5Die Stakuko sah sich als Vollstreckerin des Fünfjahrplans auf dem Gebiet der Kunst: Kulturentwicklungsplan Kunst und Theater. Gesetz über den Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik (1951–1955) vom 1. 11. 1951, GBl. Nr. 128, 8. November 1951, 973–991; Gesetz über den Volkswirtschaftsplan 1952, das zweite Jahr des Fünfjahrplanes, zur Entwicklung der Volkswirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Februar 1952, GBl. Nr. 20, 14. Februar 1952, 111–125; Gesetz über den Volkswirtschaftsplan 1953, das dritte Jahr des Fünfjahrplanes zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 17. Dezember 1952, GBl. Nr. 177, 22. Dezember 1952, 1319–1332. obwohl die Verfassung der DDR aus dem Jahr 1949 in Artikel 32 garantierte: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“ Das so antiamerikanische wie anteilig rassistische Feindbild des Jazz, die menschenverachtenden Kommentare zu Rock’n’Roll bzw. Beat, der biologistische bzw. antiwestliche Affekt oder die Reaktivierung des nationalsozialistischen Entartungs-Verdikts gehören ebenfalls der dritten Facette von Zensur an.

Die Erforschung der Musikzensur steht, anders als die Forschung zu Zensur in der Literatur, noch am Anfang. Eingriffe in Klingendes scheinen theoretisch schwerer zu fassen als jene in diskursive Sprache, Film oder bildende Kunst.

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Musikzensur wird hier verstanden als das Aktiv-Werden der diskursiven Polizei an der Grenze der Privatheit des Komponierzimmers, Tonstudios oder Probenraums zur musikalischen Öffentlichkeit oder eben als Nachzensur. Drei Triggerpunkte für Zensur scheinen zentral: Ein erstes Themenfeld ist die Werk- bzw. Klangfeindlichkeit. Von vertonten Texten, neuen Tänzen, bestimmten Inszenierungsstilen oder Klängen geht eine Bedrohung für das Selbstbild der Herrschenden bzw. die angestrebte Form der öffentlichen Ordnung, die Familienwerte, die Bündniszugehörigkeit, die Wehrfähigkeit oder das Verhältnis der Generationen und Geschlechter aus. Klänge werden dabei inkriminiert als fremd (ausländisch, westlich, artfremd, entartet, aus dem Urwald), unmelodisch (atonal, dodekaphon, Unmusik), rhythmisch ungewohnt, geräuschhaft, verzerrt, erotisierend, triebhaft, verdummend etc.

Das zweite Themenfeld könnte man als gruppenspezifische Musikfeindschaft bezeichnen. Die Musikerinnen und Musiker sind in den Augen der Zensoren ebenso falsch wie ihr Publikum. Sie sind falsch gekleidet, frisiert, sozialisiert, politisch und sexuell orientiert etc. Vorzugsweise sind sie Feinde, mit dem Feind verbündet, Höhlenmenschen oder Tiere, namentlich Affen.6In der Leipziger Volkszeitung war am 20. 10. 1965 zu lesen: „Sie tragen lange, unordentliche, teilweise vor Schmutz nur so starrende Haare, hüllen sich – wie die ‚Guitar Men‘ – in imitierte Tigerfelle, gebärden sich bei ihren ‚Darbietungen‘ wie Affen, stoßen unartikulierte Laute aus.“ Zitiert nach: DDR-Musikfans: „Gammler, Rowdys, Asoziale“, in: Spiegel Online, 30. 10. 2015, https://www.spiegel.de/fotostrecke/beat-verbot-stasi-verbietet-1965-ddr-band-the-butlers-fotostrecke-131231.html (2. 10. 2024). Schuld daran ist insbesondere die falsche Musik: In der DDR traf der Zorn der Kulturverwalter zeitweise die musikalische Moderne, den Jazz, Rock’n’Roll, Beat, Punk und deren jeweilige Hörerschaft. Die Hinwendung der Fans zu einer bestimmten Musik ließ gegenseitige Solidarisierung bis hin zur Etablierung einer verschworenen alternativen Öffentlichkeit fürchten. Der Prozess war selbststeuernd. Je größer der offizielle Druck auf eine kulturelle Nische ausfiel, um so stärker wurde der innere Zusammenhalt. Man musste harmlose Musikfreunde nur lange genug wie Staatsfeinde behandelt, bis sie sich wie solche zu fühlen und handeln begannen.

Der dritte Schwerpunkt ließe sich als Performativitätskritik umreißen. Ort, Art und Form des Auftretens stellen eine Bedrohung für die herrschenden Verhältnisse dar. Straßenmusik oder Tanzen auf den Straßen kann in diesem Sinne als unkontrollierbare Intervention im öffentlichen Raum verstanden werden. Auf Konzerten oder Festivals kann eine kritische Masse von ästhetisch Gleichgesinnten zusammentreffen, welche eventuell die Sprengkraft der spontanen politischen Aktivität birgt.7Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Aufführung von Daniel-Françoise-Esprit Auberts Oper La muette di Portici im Brüsseler Theater La Monnaie am 25. 8. 1830 anlässlich des Geburtstags von König Wilhelm I. von den Niederlanden läutete einen Regimewechsel ein. Der König war durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses in Belgien an die Macht gekommen. Bereits beim Duett Amour sacré de la patrie war das Publikum unruhig geworden, und als Masaniello in dritten Akt, bewaffnet mit einer Axt, sang „Laufet zur Rache, die Waffen, das Feuer!“, rief das Publikum zu den Waffen und erzwang mit den anschließenden Unruhen die Unabhängigkeit Belgiens. Wenn die Veranstaltungsform ins Visier der Zensur gerät, sind auch die Veranstalter bzw. zuständige Kulturpolitiker betroffen. Für eine in den Augen der Parteiführung verfehlte musikalische Gestaltung der Karl-Marx-Feierlichkeiten wurde der verantwortliche Funktionär, und nicht der Komponist bzw. sein Librettist, mit Versetzung in die Provinz bestraft. Es war dies anteilig eine Variante des Vorwurfs der Kontaktschuld, wie er in der Sowjetunion, der McCarthy-Ära aber auch in der Bundesrepublik zu Zeiten des Radikalenerlasses in Anschlag gebracht wurde. Man machte sich schuldig, weil man mit anderen Beschuldigten in Verbindung gebracht wurde.8Die Noel-Field-Affäre war eines der brutalsten Beispiele für Kontaktschuld, vgl. Bernd-Rainer Barth, Werner Schweizer, Thomas Grimm: Der Fall Noel Field, Berlin 2006.

Die SED strebte die Planung und Kontrolle aller Lebensbereiche der DDR, so auch des musikalischen Diskurses, an. Dennoch gedieh neben blasser Staatskunst, akademischem Klassizismus alias Sozialistischer Realismus, musikalischer Kaisergeburtstagslyrik und bigotter Sakralmusik für die neuen sozialistischen Rituale Bemerkenswertes, namentlich in den Genres Folk, Liedermacher, Jazz, Filmmusik, Rockmusik und der Neuen Musik aller Spielarten, trotz oder gegebenenfalls gerade wegen der staatlichen Gängelung, der Zensur und der Verbote. Nichts war bedrohlicher für die Kunst und Künstler staatlicherseits als gefährlich eingeschätzt zu werden, und nichts werbewirksamer.

 

Diskursanalyse als Beitrag zur Zensur-Theorie?

Die Zensurgeschichte ist weniger als Opfer- oder Leidensgeschichte adäquat zu schreiben als vielmehr mit Michel Foucault im Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Ent-Unterwerfung. Zu diesem Zweck wird in aller Knappheit rekapituliert, was man unter musikalischem Diskurs verstehen kann:

„Das Diskurskonzept versucht nun darauf einzugehen, in welcher Weise Bedingungen der Möglichkeit des Hervortretens bestimmter Aussagen in ihrer jeweiligen kognitiven Funktion geschaffen und beeinflusst werden durch eine diskursive Formation, die von vorne herein das zu denken bzw. zu sagen Mögliche einschränkt. Es betrifft also die intersubjektive Gültigkeit von Sinn und seine Produktionsbedingungen im Rahmen der sozialen Praxis.“9Dietrich Busse: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987, 222.

Dabei interpretiert der Diskurs nicht einen zuvor gegebenen Gegenstand, sondern bringt diesen erst hervor, indem er ihn für die Betrachtung bzw. Erfahrung auf bestimmte Weise zugänglich macht. Die Anton-Webern-Rezeption im Umfeld der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik ist ein schillerndes Beispiel. Webern ist nicht der zwingende kompositionsästhetische Anknüpfungspunkt nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa, er wird dazu erst im musikalischen Modernitätsdiskurs bei den Ferienkursen. Die allergische Reaktion der Kulturverwalter östlich des Eisernen Vorhangs hierauf ist integraler Bestandteil dieses Prozesses unter den Vorzeichen des Kalten Krieges. Die machtvolle Wirkung, die vom Diskurs ausgeht, besteht in seiner spezifischen Produktion von Wissen, indem er „Gegenstände auf eine bestimmte Weise erfahrbar macht und in diesem Sinne soziale Wirklichkeit erst schafft.“10Andrea Seier: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 75–86, 77. Im Diskurs lassen sich die kippbildartigen Beziehungen von Macht und Wissen analysieren; ästhetische Theorien und Praktiken wären dabei unter ‚Wissen‘ zu subsumieren. Der Diskurs ist keineswegs nur sprachlicher Ausdruck des Kampfes um die Macht, „er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.“11Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1974, 11. Mit Foucault kann in diesem Sinne gefragt werden: „Welche Regeln wendet die Macht an, um Diskurse der Wahrheit zu produzieren?“ bzw. welche Typen von Macht produziert der Diskurs der Wahrheit? Dabei handelt es sich nicht darum, „die Wahrheit zu ‚entdecken‘, sondern vielmehr zu untersuchen, wie Wahrheit ‚erfunden‘ wird“12Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978, 75.. Besagte Erfindung der Wahrheit lässt sich besonders gut an Fällen nachzeichnen, bei denen es um die Konstruktion von Unwahrheit in Gestalt von Akten der Zensur, Repression und Marginalisierung offiziell unerwünschter ästhetischer Artikulation ging. Hier lässt sich trefflich untersuchen, wie die Macht innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen produziert wird und zirkuliert. Denn nicht „in der ‚Unwahrheit‘ der gesellschaftlichen Verhältnisse liegt daher das politische Problem, sondern in der Tatsache ihrer ‚Wahrheit‘.“13Thomas Lemke: Antworten auf eine Frage: Ist Foucaults ‚Geschichte der Wahrheit‘ eine wahre Geschichte?, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 177–193, 190. Damit erscheint die Wahrheit unwiderruflich dem Bereich des Politischen zugeordnet.14Vgl. Urs Marti: Michel Foucault, München 1988, 75. Der Kalte Krieg war ein solches Ringen um Wahrheit sowie Produzieren und Verteilen von Wahrheit. Die Gesellschaften östlich wie westlich des Eisernen Vorhangs sahen sich jeweils ‚im Wahren‘ – als diese Gewissheiten fadenscheinig wurden, endete der Kalte Krieg vorläufig. Das Diskurskonzept ist ein wirkungsvolles Gegenmittel gegen den Dualismus Westen = freie Kunst, Osten = Zensur und epigonale Staatskunst. In Foucaults Geschichtsauffassung ist die Welt des Diskurses nicht zweigeteilt zwischen dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen bzw. zwischen dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs. Diese bestehen aus einer Vielzahl von Strängen, deren Durchdringung und Interdependenzen es lohnt zu beschreiben.

„Diese Verteilung, mit allem, was sie an geforderten und untersagten Äußerungen enthält, mit den Varianten und unterschiedlichen Wirkungen je nach dem, wer spricht, seiner Machtposition und seinem institutionellen Kontext, mit all ihren Verschiebungen und Wiederbenutzungen identischer Formeln zu entgegengesetzten Zwecken – diese Verteilung gilt es zu rekonstruieren.“15Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1991, Bd. 1, 122.

Damit ist nicht nur das Repressionsparadigma als Teil der verschiedenen Ausprägungen der Totalitarismustheorie prinzipiell in Frage gestellt. Eine vermeintlich totale Macht wäre ausschließlich negativ und nicht im Geringsten produktiv. Der Mensch in einem solchen System wäre nur als Unterworfener denkbar. Demzufolge würde sich eine solche Macht in dem Paradox erschöpfen, dass sie nichts vermag, als die Unterworfenen in ihrem Zustand der Machtlosigkeit verharren zu lassen.16Vgl. Isabell Lorey: Macht und Diskurs bei Foucault, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 87–96, 91. Unter einer solchen totalen Macht stünde die Kunst an sich zur Disposition, weil aller Staatskunst die Phantasielosigkeit, wenn nicht Einfalt ihrer Auftraggeber ins Gesicht geschrieben steht.

Sinnvoller ist es, die produktiven Dimensionen gegenüber den repressiven hervorzuheben: „Entgegen der Konzeption von Macht primär als Verbot, Repression und Herrschaft, d. h. als ein rein Negatives, das (dualistisch) ein Positives als das voraussetzt, was unterdrückt wird, erscheint Macht nunmehr als ein produktiver Integrationszusammenhang, der die gesamte Gesellschaft durchdringt und dem nichts äußerlich ist.“17Andrea Seier: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 75–86, 80. Damit ist auch anteilig eine Ästhetik des Widerstandes bzw. Empowerments in den Zeugenstand gerufen. Wenn nämlich Kultur als komplexe Strategie der Domestikation inauguriert wird, wird laut Schößler nicht nur die Aufmerksamkeit für kulturelle Machtprozesse und verschleierte Unterwerfungsstrategien geschärft,18Vgl. Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Tübingen 2006, 46. sondern zudem deutlich gemacht, dass in „dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, […] die Kritik die Funktion der Entunterwerfung“ hat.19Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, 15. Diese Entunterwerfung hat sich wesentlich mit drei Ausschlusssystemen innerhalb des Diskurses auseinanderzusetzen: dem verbotenen Wort; der Ausgrenzung des Wahnsinns20Besondere Formen von Religiosität und Spiritualität wären im Staatsozialismus – ohne sie diskreditieren zu wollen – unter diesem Schlagwort zu fassen. und dem Willen zur Wahrheit. Dabei stützt sich letzterer, ebenso wie die anderen Ausschlusssysteme auch, auf ein Geflecht von Praktiken. Der Wille zur Wahrheit wird verstärkt und beständig erneuert von der Pädagogik, dem System der Medien, der Verlage und Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften und in neuerer Zeit den Laboratorien.21Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1998, 16. Bezogen auf die Musik geraten damit u.a. die Musikerausbildung, die Musikwissenschaft mit ihren Publikationen, Verlagen und Bibliotheken, die Konzertagentur, die Akademien der Künste und Wissenschaften, die Veranstaltungsorte sowie die Rundfunkanstalten in den Blick. Dies waren die Orte des Diskurses, welche mittels verschiedenster Ausschlussmechanismen darüber entschieden, wer in den Diskurs eintreten durfte und wer nicht: Zwar ist es „immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht“.22Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1998, 25. Mit Blick auf das „wilde Außen“ wäre an ‚maßgebliche Außenseiter‘ in der DDR wie den Komponisten Jörg Herchet oder der Punk-Musiker Aljoscha Rompe zu denken. Wenn Diskursgesellschaften Tabus aussprechen, so zum Beispiel eine Bibliothek ‚Giftschränke‘ bzw. ‚Sonderlesebereiche‘ für beargwöhnte Bücher und Partituren einrichtet, ist die Nicht-Zirkulation bis zur Damnatio memoriae Ausdruck ihrer Macht. Zensur ist jedoch kein Indikator für Ideologie im Sinne von falschem Bewusstsein. Dies entspricht der Erkenntnis Foucaults, der Ideologie als Teil der Praktiken verstanden wissen will, in denen die Wahrheit verhandelt wird: „Die Ideologie liegt nicht außerhalb der Wissenschaftlichkeit.“23Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, 264. Demzufolge wird die Rolle der Ideologie „nicht in dem Maße geschmälert, in dem die Strenge zunimmt und die Falschheit verschwindet.“24Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, 265. Ideologie ist mithin keine Ansammlung von Irrtümern und Vorurteilen jenseits der reinen wissenschaftlichen Lehre, sondern tritt überall dort auf, wo Wissensfindung in gesellschaftlichen Zusammenhängen praktiziert wird.25Paul Veyne geht so weit, dem Ideologiebegriff Hausverbot zu erteilen: „Ein für allemal: die Ideologie existiert nicht, den geheiligten Texten zum Trotz, und man sollte sich dazu entschließen, dieses Wort nie mehr zu gebrauchen.“ Paul Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a. M. 1992, 45.

 

Stalinzeit

Eine prägende gemeinsame Erfahrung der deutschen Kommunisten im Moskauer Exil, wo sie sich im Sinne Stalins auf eine Machtübernahme nach dem Ende der Hitlerdiktatur vorbereiteten,26Zur Vorgeschichte der späteren SED-Führung im Moskauer Exil vgl. Peter Erler (Hg): „Nach Hitler kommen wir“: Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994. war das Trauma der weitgehenden Absorption der gut organisierten linken Arbeiterbewegung in Deutschland in die völkische wie rassische Ideologie des Nationalsozialismus. Die Ursünde der deutschen Kommunisten, die taktische Frontstellung gegen die SPD – statt der Bildung einer Volksfront gegen die Nationalsozialisten –, war bis zum Ende der DDR eines der größten Tabus.27Gleichzeitig löste es einen der letzten großen Zensurfälle aus. Die SED ließ im Herbst 1988 den Versand des sowjetischen Readers Digest Sputnik einstellen, wegen Beiträgen zum Hitler-Stalin-Pakt und der ambivalenten Haltung der deutschen Kommunisten zur NSDAP. Im ND vom 19. 11. 1988 hieß es unter der Überschrift Mitteilung der Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen: „Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift ‚Sputnik‘ von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte.“ Die musikalische Avantgarde der Zwischenkriegszeit, namentlich Arnold Schönberg und seine Schule,28Kunst die angeblich keinen Inhalt hat, wurde als formalistisch diffamiert. Wenn Kunst unterstellt wurde, fortschrittlich zu sein, war in der DDR ihr Inhalt bevorzugt der Klassenkampf auf dem Weg zum Kommunismus. „Die Realität der großen sozialen Bewegung, auf Grund deren Beethovens Werk entstehen konnte, die Realität des freiheitlichen Strebens erscheint in ihrem Inhalt.“ (61) Die Kunst der Wiener und Weimarer Klassik war durch ihren Bezug zur Volkskunst (Märchen, Fabel, Volkslied) national, im Gegensatz zum so genannten Kosmopolitismus – einem Vorwurf, der auf antisemitische Ressentiments wie den heimatlosen ewigen Juden Ahasver rekurrierte. Die Musik „verlor zusehends ihre ethische, moralische, produktive, vorwärtsführende Kraft. Von da ab gerieten viele Künstler, die im bürgerlichen Sinne und im bürgerlichen Musikbetrieb tätig waren, in ein wachsendes Dilemma. Einige von ihnen erkannten — oder ahnten zumindest –, daß die ideologische Funktion des bürgerlichen Kunstbetriebes sich immer mehr in eine gesellschaftsferne, rückwärtsgewandte und geistesfeindliche verwandelte. Wurde doch die Musik schließlich dazu ausgenutzt, die brutal-unterdrückerischen Ziele des Monopolkapitalismus ganz unmittelbar zu unterstützen (Nazifaschismus).“ (120 f.) Selbst, wenn die zum Teil linken, jüdischen Avantgardekünstler von den Nazis verfolgt wurden, hatten sie diesen angeblich nolens volens den Steigbügel gehalten, da ihre Kunst nicht im Sinne eines linken Klassenkampfes dem NS die Stirn geboten hatten – ein krude Schuldumkehrung angesichts des Kurses der KPD in den letzten Weimarer Jahren. „Eine Reihe der Verfechter solch abstrakter oder neurotischer, nihilistischer Musikstile waren vom Nazifaschismus vertrieben, entwurzelt oder eingeschüchtert worden. Es ist bedauerlich, daß sie nicht die Kraft aufgebracht haben, aus ihren eigenen Lebenserfahrungen den richtigen Schluß zu ziehen — in ihrem Kunstschaffen den Weg des Kampfes gegen Reaktion und Imperialismus zu gehen, anstatt sich weiter mit ihren stilistischen Abstraktionen zu beschäftigen. […] Eine Kunst ist immer nur fortschrittlich in Beziehung auf die fortschrittlichen Kräfte in der Gesellschaft.“ Ernst Hermann Meyer: Musik im Zeitgeschehen, Berlin 1952, 151. aber auch der gesungene Klassenkampf von Brecht, Busch und Eisler29Brecht stand in der frühen DDR, nicht ganz zu Unrecht, unter Generalverdacht, mit seinem Theater einen Staat im Staat zu etablieren und darüber hinaus die Weimarer Klassik zu verfremden. Ernst Busch war, anders als die Führungsriege der SED, tatsächlich im Widerstand gewesen, zudem eine Ikone der internationalen Arbeiterbewegung, ein Publikumsliebling, ein erfolgreicher Schallplattenunternehmer und Intimfeind Erich Honeckers. Eisler hatte sich des Formalismus in seinem Faustus-Libretto schuldig gemacht. Das Einheitsfrontlied war einer der größten Erfolge des Trios Brecht, Busch, Eisler. Die Machthaber in der DDR neideten den künstlerischen Klassenkämpfern ihre Popularität (bis nach Moskau und Peking) und wurden zudem durch solche Lieder daran erinnert, dass es auf Weisung Moskaus nie zu einer Einheitsfront gekommen war, und sich die gerade musikalisch hervorragend organisierte deutsche Arbeiterbewegung kaum gegen ihre Absorption in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zur Wehr gesetzt hatte. wurden direkt oder indirekt mit für die Niederlage der deutschen Arbeiterklasse verantwortlich gemacht, und in der jungen DDR attackiert, was die Züge einer ‚Übertragung‘ im psychoanalytischen Sinne trägt. Ähnlich psychologisierend könnte man für die Stalinzeit in der DDR von einer Überidentifikation mit dem Sieger des Zweiten Weltkriegs sprechen.

Bis zu Stalins Tod wurde in der Sowjetunion vorexerziert, was der Anspruch auf totale Kontrolle der Künste bedeuten konnte. Es wurde nicht nur nach dem verbotenen Wort gefahndet, sondern auch nach Unbotmäßigem zwischen den Zeilen. „In jedem Text suchten die sowjetischen Zensoren wachsam nach Anspielungen oder einem sogenannten Subtext. Sie hatten sogar den Begriff ‚unkontrollierbarer Subtext‘ erfunden, entdeckten also Andeutungen dort, wo es gar keine gab.“30Wladimir Woinotitsch: Leben und Schicksal des Wassili Grossman und seines Romans, in: Wassili Grossman: Leben und Schicksal, Berlin 2007, 1059–1068, 1060. Im Falle der Musik wollte eben das nicht funktionieren, dennoch profitierte sie im Kommunikationsprozess mit dem Auditorium vom Odium des Verschwörerischen. Der Sowjetkommunismus brachte nicht nur eine neue Praxis des Lesens, sondern auch des Hörens zwischen den Zeilen hervor.

Stalin hatte die großen Komponisten der Sowjetunion durch sein Sprachrohr, A. A. Shdanow, einschüchtern lassen, es jedoch nicht geschafft, ihnen praktikable Regeln vorzuschreiben. Er wagte es nicht, einen der Namhaften verhaften zu lassen. Es stand ihm in seinem Unmut über den Mangel an Jubel, Pathos und Monumentalität in Schostakowitschs 9. Symphonie kein anderes Mittel zu Gebote, als den Komponisten durch Entzug seiner Ämter, Aufführungsmöglichkeiten und Einkommensquellen väterlich abzustrafen und von ihm Reue zu erwarten, die dieser in musikalischen Ergebenheitsadressen wie etwa der Kantate Das Lied von den Wäldern oder der Filmmusik zu Der Fall von Berlin dem Despoten zu Füßen legte. Schostakowitschs finaler Akt der Entunterwerfung war seine komponierte Parodie auf die Formalismuskampagne in Gestalt der Kantate Rajok, deren Partitur er sorgfältig versteckte.31Vergleichbar drastische Maßnahmen wie die gegen Wassili Grossman und seinen Roman Leben und Schicksal hat es in der Musik weder in der Sowjetunion noch in einem ihrer Satellitenstaaten gegeben. Es wurde alles, was in Zusammenhang mit der Entstehung des Buches stand, beschlagnahmt und weggesperrt (Manuskripte, Durchschlagpapier, Farbbänder). „Dieser Fall war sogar in der Geschichte der leidgeprüften sowjetischen Literatur einzigartig. Bis dahin war es natürlich schon vorgekommen, dass ein Autor verhaftet und alle seine Unterlagen wahllos oder gezielt eingezogen worden waren, doch hier wurden nicht der Autor verhaftet, sondern der Roman selbst. Er wurde nicht weggenommen, nicht beschlagnahmt, nicht konfisziert, sondern verhaftet wie ein lebendiger Mensch.“ Wladimir Woinotitsch: Leben und Schicksal des Wassili Grossman und seines Romans, in: Wassili Grossman: Leben und Schicksal, Berlin 2007, 1059–1068, 1061. Die sozialistische Musikzensur brachte ein eigenes Genre des musikalischen Zensurspotts hervor, zu denken wäre in der DDR an Paul Dessaus Fallersleben-Vertonung Nicht Mord, nicht Bann noch Folter in Reaktion auf den 17. Juni 1953 in der DDR oder deutlich später Friedrich Schenkers Leitfaden für angehende Speichellecker (1974) und Reiner Bredemeyers Stück post modern als ironische Reaktion auf das Sputnik-Verbot 1988.

In der DDR spielten die Funktionäre in den ersten Jahren des jungen Staates getreulich die sowjetische Formalismuskampagne nach in ihren Attacken auf Bertolt Brecht und Paul Dessaus Lukullus-Oper, Hanns Eislers Libretto Johann Faustus und die Karl-Marx-Kantate von Kuba und Jean Kurt Forest.

  

60er-Jahre

Ab Mitte der 60er-Jahre (11. Plenum) galt das Misstrauen der Funktionäre weniger der komponierten Musik als vielmehr populäreren Formen der ästhetischen Artikulation. Komponisten, die größer besetzte Stücke aufführen lassen wollten, löckten nicht über Gebühr gegen den Stachel, hingegen galt die angloamerikanische Popkultur als mögliches Einfallstor westlicher Lebensart, welches dementsprechend zu bewachen war. Weil die Lizensierung westlicher Schallplatten Devisen kostete, konnte man nicht auf einheimische Produktion von populärer Musik verzichten. Das Erblühen jedermann verständlicher, weil deutschsprachiger Popmusik jenseits des Schlagers war somit eine Nebenwirkung dieser musikalischen Planwirtschaft. Förderung, Zensur und Verbot gingen dabei Hand in Hand. Nur wer das Prozedere der Einstufung erfolgreich mit der Ausstellung einer Spielerlaubnis durchlaufen hatte, durfte auftreten. Der Entzug der Spielerlaubnis kam einem Auftrittsverbot gleich. Beat wurde eine zeitweilig von der FDJ geförderte musikalische Graswurzelbewegung, bis die SED die beargwöhnten Musiker sowie eine Reihe von Filmemachern und Literaten, namentlich Werner Bräunig, im Rahmen des Kahlschlagplenums abstrafte, nicht zuletzt auch, um von der verfehlten Wirtschaftspolitik in der DDR abzulenken.32Einerseits bescherte das NÖSPL den DDR-Bürgern ungekannte Konsummöglichkeiten, andererseits blieb das inaugurierte Wirtschaftswunder Ost aus. Ausgerechnet der parteiinterne Strippenzieher der Kampagne gegen die Künstler beim 11. Plenum des ZK wurde nach dem vorgeblich freiwilligen Rückzug Walter Ulbrichts aus der ersten Reihe der SED-Führung zum Hoffnungsträger.

 

70er-Jahre

In der Ära Honecker versuchte sich die SED der Loyalität der Bevölkerung durch eine verbesserte Versorgung mit Konsumgütern und Freizeitangeboten zu sichern. Im Vorfeld der Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin 1973 verbesserte sich das Angebot an Tonträgern, Unterhaltungselektronik, Jugendmode und Jugendclubs. Während der Festspiele herrschte eine niemals dagewesene Offenheit in der Hauptstadt der DDR. Bei den Feierlichkeiten wurde ein ungenehmigter kleiner Auftritt Wolf Biermanns in Berlin geduldet, und die Fans konnten gleich mehrmals die überaus beliebte Band Renft hören, bevor diese nach dem Ende der internationalen Aufmerksamkeit endgültig verboten, teilweise inhaftiert und außer Landes getrieben wurde. Die Wellenbewegungen von Duldung im Dienst internationalen Renommees und Zensur, Gängelung und Verboten zum Machterhalt wird an dieser Veranstaltung anschaulich. Die Komponisten Neuer Musik waren zu diesem Zeitpunkt längst auf die ästhetische Spielwiese entlassen.

 

80er-Jahre – KSZE – Gegenöffentlichkeit – Ende der Zensur

Kunstzensur zielt wesentlich auf Reinhaltung der Öffentlichkeit von unerwünschten (ästhetischen) Artikulationen seitens der Herrschenden. In den 1980er-Jahren geriet das Verhältnis von Zensur und Zensierten zum Katz-und-Maus-Spiel33David Robb: Political Song in the GDR: The Cat-and-Mouse Game with Censorship and Institutions, in: David Robb (Hg.): Protest Song in East and West Germany Since the 1960s, Rochester 2007, 227–254. mit einem dialektischen Verhältnis von Fördern und Verhindern.34Die Stasi half den Punks bei der Beschaffung von Instrumenten und Probenräumen, während sie die gleichen Bands unterwanderte, um sie alsbald zu verhaften und außer Landes zu treiben. Die Hammer Rehwü von Karls Erben knüpfte an Piscators Rote Revuen aus den 1920er-Jahren an und konnte im Gegensatz zur Folk-Oper Die Boten des Todes aufgeführt werden und auf Tour gehen. David Robb: Political Song in the GDR: The Cat-and-Mouse Game with Censorship and Institutions, in: David Robb (Hg.): Protest Song in East and West Germany Since the 1960s, Rochester 2007, 227–254, 242. Im Zuge der Entstehung von nennenswerten Gegenöffentlichkeiten bzw. mit Enklaven und Formen der inneren Emigration, wurde Zensur wirkungslos. Seit die SED mit der Sprengung der Leipziger Universitätskirche St. Pauli im Jahr 1968 und der Einführung des Wehrkundeunterrichts (1978) der evangelischen Kirche den Krieg erklärt hatte, öffneten die Kirchen ihre Pforten immer mehr den Friedensbewegten (Schwerter zu Pflugscharen35Vgl. Alexander Leistner: Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR, Konstanz 2016.), den Umweltaktivisten (Umweltbibliothek,36Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Hg.): Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek, letzte Änderung: September 2021, www.jugendopposition.de/145321 (2. 10. 2024). Tschernobyl-Appell 198637Deutsche Welle (Hg.): Bernd Gräßler: Tschernobyl und die DDR, 14. 4. 2011, https://www.dw.com/de/zu-besorgnis-besteht-kein-anlass/a-14981875 (2. 10. 2024).), den Protestierern gegen die Verhaftungen bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988, gegen die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China (Klagetrommel38Siehe u. a. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Hg.): Die Chinesische Lösung, letzte Änderung: Januar 2018, www.jugendopposition.de/145315 (2. 10. 2024).) im Sommer 1989 oder den Protestierenden gegen die Manipulation der Kommunalwahl im April 1989.39Thomas Klein: Heimliches Lesen und staatsfeindliches Schreiben. Bemerkungen zu Zensur und Gegenöffentlichkeit in der DDR der achtziger Jahre, in: Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, 57–65, 57. Im Kirchenraum erhielten zeitgleich unbequeme Dichter und Liedermacher, Blueser, Metal- und Punkbands Asyl.

Die internationale Anerkennung der DDR und die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki banden den Hardlinern in der SED nur scheinbar die Hände. Die andere Seite besagten vermeintlichen Laissez-faire waren die erbarmungslose Zerschlagung der winzigen Punk-Szene in der DDR oder der brutale Überfall der Stasi auf die Berliner Umweltbibliothek 1987. Auch die angsteinflößende Verletzung des Hausrechtes der Kirche, die Zerstörung von deren Infrastruktur und das Einprügeln auf die Anwesenden waren verzweifelte letzte Akte der Zensur.

Zensur in der DDR war stets janusköpfig: Sie hatte im Extrem (künstlerische) Biografien zerstört und zugleich der bedrängten Kunst ein enormes Maß an Aufmerksamkeit weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus gesichert. Freiheit des künstlerischen Ausdrucks war im Selbstbild der realsozialistischen Staaten nicht vorgesehen. Mit umso mehr Macht brachen die Knospen der Individualität durch die verkrustete Oberfläche des DDR-Alltags.

 

Forschungsgeschichte

In beiden deutschen Staaten war die Freiheit der Kunst ein von der Verfassung verbürgtes Recht, welches beiderseits des Eisernen Vorhangs unterschiedlich oft und intensiv gebeugt wurde.40Auch wenn unserer Kenntnis nach niemand, der in der DDR von Zensur sprach, ins Gefängnis kam: „Wer in der DDR behauptete, es gäbe Zensur, Einschränkungen der Meinungs-, Presse- oder Versammlungsfreiheit, dem drohten Prozess und Gefängnis. Denn schon in der Verfassung der DDR von 1949 hieß es im Artikel 9, Absatz 2: ‚Eine Pressezensur findet nicht statt‘. Und in Artikel 27 der Verfassung von 1968 stand: ‚Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundsätzen der Verfassung gemäß, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet.‘ Die Verwirklichung von staatlicher Kontrolle und Genehmigung von Veröffentlichungen im weitesten Sinne (Zensur als Vorzensur), die Einübung der gesellschaftlichen Praxis herrschaftskonformer öffentlicher Artikulation sowie die Gewöhnung der gesellschaftlichen Akteure an deren Konventionen erfolgte auf subtilere Art.“ Thomas Klein: Heimliches Lesen und staatsfeindliches Schreiben. Bemerkungen zu Zensur und Gegenöffentlichkeit in der DDR der achtziger Jahre, in: Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, 57–65, 62. Schon allein die Verwendung des Begriffs „Zensur“ löste entsprechende Reaktionen aus. Ein gutes Beispiel dafür sind die Worte von Hermann Kant in seiner Rede als Schriftstellerverbandschef auf der Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes am 30. Mai 1979, in der er acht kritische Autoren angriff, die am 16. Mai 1979 einen Offenen Brief an Honecker geschrieben und darin den Begriff „Zensur“ gebraucht hatten („Durch die Koppelung von Zensur und Strafgesetzen soll das Erscheinen kritischer Werke verhindert werden.“). Kants Worte dazu waren folgende: „Der Ausdruck ‚Zensur‘, Herrschaften, ist besetzt; belesenen Leuten muß das nicht erläutert werden. Wer die staatliche Lenkung und Planung auch des Verlagswesens Zensur nennt, macht sich nicht Sorgen um unsere Kulturpolitik – er will sie nicht.“ (siehe https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/events#Vorstandssitzung-des-Schriftstellerverbandes-der-DDR-in-Berlin). Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich in der Forschung das Konzept von Zensur, namentlich in der New Censorship Theory,41Matthew Bunn: Reimagining Repression: New Censorship Theory and After, in: History and Theory, 54 (2015), 25–44. deutlich auf alle Bereiche menschlicher Kommunikation ausgeweitet.42„Zensur erschöpft sich heute nicht mehr in der Vorstellung eines konkret beschreibbaren Maßnahmenkatalogs des bestallten Zensors zur Unterdrückung des Unbotmäßigen. Zensur wird nicht mehr nur abschätzig als ‚Obstruktion, Intoleranz, Repression‘ bewertet, sondern als ‚Kulturphänomen‘ betrachtet Das Zensurkonzept hat aufgrund dieser Erweiterung effektiv eine Neubewertung, ja in gewisser Weise eine Aufwertung erfahren.“ Beate Müller: Über Zensur: Wort, Öffentlichkeit und Macht, in: Beat Müller (Hg.): Zensur im modernen deutschen Kulturraum, Tübingen 2003, 2. Eine solche konzeptionelle Weitung scheint interessant, denkt man beispielsweise an den Beschluss der Sektion Musik der Akademie der Künste (Ost), dem Komponisten Friedrich Schenker zwei ältere Kollegen zur Seite zu stellen, die ihn, wie es in der DDR hieß, ‚freundschaftlich beraten‘ sollten.43„Der Solo-Posaunist, Komponist und Mitbegründer der „gruppe neue musik hanns eisler“, der zu Beginn der 60er Jahre zunächst bei Günter Kochan, dann bei Fritz Geißler in Leipzig (1965–68) und schließlich, vergleichsweise spät, als Meisterschüler Dessaus in Zeuthen Kompositionsunterricht genoß (1973–75), hatte es beispielsweise schwer, mit seinen Kompositionen Stück für Virtuosen (1970) und Electrization (1972/73) bei seinen Kollegen im Komponistenverband Beifall zu finden. Das zuerst genannte Werk, welches Herbert Kegel gewidmet ist, erlebte nach seiner Uraufführung 1971 in Leipzig äußerst kontroverse Diskussionen, an welchen auch der Komponist selber teilnahm und die letztlich dazu führten, den, wie es hieß, durchaus begabten, aber fehlgeleiteten Schenker einer vermeintlich letztlich ihm zugute kommenden Patenschaft Fritz Geißlers und Eberhard Lippolds zuzuführen.“ Nina Noeske: Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln 2007, 57; siehe Archiv der AdK, Berlin, Zentrales Akademiearchiv, 480, Bl. 13 f., Sektionssitzung am 7. 5. 1971. Die Aushöhlung des Freundschaftskonzepts im Staatssozialismus kann dementsprechend als Teil eines weiteren Begriffs von Zensur gesehen werden. Die Zensur bzw. Zensurähnliches waren Zankäpfel des Kalten Krieges, oder wie Michael Tippet 1983 hellsichtig formuliert hatte:

“Censorship always happens on the other side of the fence: within other cultures, political systems, religious communities or whatever – never in our own. That, of course, is an illusion. But it is a convenient one which consciously or unconsciously, we seem always to maintain. I think we have to be on guard against it, otherwise we merely deceive ourselves and condemn from a position of manifest self-righteousness.”44Michael Tippet: A convenient illusion, in: Index of Censorship, 1/1983, 3.

Die Erforschung der Musikzensur in der DDR stellt, anders die der Literatur-Zensur, noch weitgehend ein Desiderat dar.45Das von Hall herausgegebene Handbuch stellt weniger theoretische Fragen, als dass es Fallstudien seit der Gregorianik vorstellt. Zudem richtet sich der Fokus stark auf den angloamerikanischen Raum. Patricia Hall (Hg): The Oxford Handbook of Music Censorship, Oxford 2015. Piepers Band deutet eine Vielzahl von Desiderata an. Werner Pieper (Hg.): Verfemt, verbannt, verboten. Musik & Zensur; weltweit, Löhrbach 1999; Brembergers Buch ist eine Inspiration: „Als Musikzensur soll im Folgenden jeder über den privaten Rahmen hinausgehende Versuch verstanden sein, insbesondere aus ideologischen oder sittlich-moralischen Motiven in den musikalischen Kommunikationsprozess einzugreifen mit dem Ziel, diesen zu erschweren, zu verhindern oder aber Beteiligte im Nachhinein zu bestrafen. Die Eingriffe geschehen durch außerhalb des musikalischen Kommunikationsprozesses stehende oder den Verteilungsweg des Produktes kontrollierende Personen bzw. Instanzen. Ihnen liegen insbesondere ideologische oder sittlich-moralische Motive zugrunde. Ohne Bedeutung ist hierbei, ob diese Versuche erfolgreich sind oder nicht, ebensowenig ob sie planmäßig oder zufällig erfolgen.“ Bernhard Bremberger: Musikzensur. Eine Annäherung an die Grenzen des Erlaubten in der Musik, Berlin 1990.

Matthias Tischer

Zum Zensurbegriff

Die Verwendung des Begriffs „Zensur“ zur Bezeichnung des Systems der Konformisierung und Funktionalisierung der Künste in der DDR ist problematisch, da es sich bei diesem System nicht um Zensur im klassischen Sinne handelte.46Die Darstellung folgt weitgehend den Gedankengängen und Formulierungen in zwei meiner früheren Publikationen: Überlegungen zur Zensur in der DDR vor dem Hintergrund der Totalitarismustheorie, in: Detlef Altenburg und Peter Gülke (Hg.): Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland. Bericht über das Symposion der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der Sächsischen Akademie der Künste und des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Leipzig, 4. bis 6. April 2013, Stuttgart und Leipzig 2016 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 84, Heft 1), 59–63; Kontrollinstanzen im Musikleben der DDR, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa 21 (2019), 49–83, 62–64. Es ging vielmehr über „Zensur“ hinaus und ließ einen auf Totalität angelegten Anspruch erkennen. Es erreichte jedoch in seiner Gesamtheit keine totalitären Dimensionen.

Vielleicht sollte von Zensur überhaupt nur dann gesprochen werden, wenn eine Voraussetzung vorliegt, die in der DDR fehlte oder bestenfalls nur eingeschränkt vorhanden war: eine prinzipiell selbstbestimmte Kunst auf der Grundlage einer prinzipiell autonomen, d. h. selbstbestimmten und selbstorganisierten Gesellschaft. Unter solchen Voraussetzungen wäre Zensur als Einschränkung von Freiheit zu verstehen. Wenn Zensur die Einschränkung von etwas Selbstbestimmtem ist, wäre es allerdings absurd, auch dann noch von Zensur zu sprechen, wenn es Selbstbestimmung gar nicht gibt. Klassischerweise besteht die Tätigkeit eines Zensors darin, dem Künstler bestimmte Äußerungen zu verbieten – aber nicht darin, ihm seine Aufgabe und seine Stilmittel vorzuschreiben. Die lediglich als Nachzensur betriebene Zensur im wilhelminischen Deutschland beispielsweise ging gegen Kunstwerke vor, die sie für sittenwidrig hielt. Nie aber hätte sie es als ihre Aufgabe angesehen, Stilmittel der Moderne, wie abstrakte Kunst oder atonale Musik, zu verbieten und einen bestimmten Stil für den einzig zulässigen zu erklären.

Es ist daher mindestens problematisch, wenn – wie es in der Forschung oft geschieht – die kunstlenkenden Staatsorgane der DDR – die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten und das Amt für Literatur und Verlagswesen sowie später das Ministerium für Kultur – als „Zensurbehörden“ bezeichnet werden. Denn deren wichtigste Tätigkeit bestand eben nicht, wie bei der klassischen Zensur, im Verbot der Veröffentlichung von Kunstwerken, sondern im (selektiven) Erlauben derselben. Jedenfalls traf das für die Publikation von Büchern zu. Streng genommen gab es deshalb in der DDR keine Bücherverbote, denn der Staat hat diejenigen Bücher, die er nicht veröffentlicht sehen wollte verboten, er hat vielmehr das Gegenteil getan: Er hat Bücher erlaubt. Er hat bestimmte Bücher vom Verbot ausgenommen. Wenn ein Verlag ein Buch herausbringen wollte, musste er ein aufwändiges Druckgenehmigungsverfahren beantragen, von dessen Ergebnis dann abhing, ob das Buch gedruckt werden konnte oder nicht.

Ein solcher eher engerer Zensurbegriff ist z. B. auch im Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit von 1988 (bzw. der Vorgängerpublikation von 1983) verwendet worden, worin Zensur definiert wird als „Ausschluß oder Modifikation bildlicher, schriftlicher oder verbaler Aussagen, soweit sie zu politischen, rechtlichen oder moralischen Normen in einen Widerspruch geraten“.47Bernd Weyergraf und Peter Lübbe: Art. „Zensur“, in: Wolfgang R. Langenbucher, Ralf Rytlewski und Bernd Weyergraf (Hg.): Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Kulturvergleich, Stuttgart 1988 [Reprint der 1983 unter dem Titel „Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Vergleich“ erschienenen Erstausgabe], 763–765, 763. Zensur betrifft demnach nur die Abweichung von einer Norm, nicht aber die Norm selbst, die Konstituierung der Norm. In den sozialistischen Ländern war aber gerade das Vorhandensein eines den Künsten auferlegten universellen, für alle Beteiligten verbindlichen Normensystems das wesentliche Merkmal der kulturpolitischen Verhältnisse gewesen. Bekanntlich hieß dieses System lange Zeit ‚Sozialistischer Realismus‘, später gab es auch andere Bezeichnungen.

War die Kunstlenkung in der DDR totalitär?

Von einer Kunstlenkung dieser Dimension kann nur gesprochen werden, wenn sie mehr ist als Zensur (im engeren Sinne), also mehr ist als Kontrolle und Verbot, wenn sie viel früher ansetzt – und wirksam wird, noch bevor Kunst entsteht, wenn sie Kunstnormen definiert und diese Normen bei den Künstlern und anderen Akteuren des künstlerischen Lebens durch Erziehung verankert.

Für all das finden sich in der Geschichte der Kulturpolitik der SED entsprechende Nachweise, am deutlichsten wohl 1951 mit der Etablierung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und des Amtes für Literatur und Verlagswesen. Dennoch möchte ich bezweifeln, dass diese Lenkung wirklich jemals totalitäre Dimensionen erreicht hatte. Es hätte dazu ein totalitär ausgerichtetes Gesamtsystem der Steuerung der Künste geben müssen, das aber wohl von der SED niemals wirklich intendiert war.

Aber schon dem Normensystem selbst fehlten die totalitären Dimensionen. So wenig schlüssig wie dieses System insgesamt konstruiert war, so wenig konsequent wurde auch seine Durchsetzung betrieben. Was ‚Sozialistischer Realismus‘ ist, stand nie genau fest, zumal immer wieder betont wurde, es handele sich um keinen Stil, sondern um eine Methode, und von Anfang an fehlte dieser Doktrin ein wichtiges Merkmal des Totalitären: die absolute Gültigkeit der Norm, die jede Abweichung ausschließt.

Der Musikwissenschaftler Michael Berg interpretierte vor einigen Jahren die Beschlüsse der ersten „Bitterfelder Konferenz“ von 1959 als Versuch der „totalen ideologischen Gleichschaltung“ und Todeserklärung für alle reflektierende und autonome Kunst. „Wäre es in der Tat nach den Funktionären des ‚Bitterfelder Weges‘ gegangen“, so folgerte er, würde die Musik „als selbständige, d. h. als eine nichtfunktionale Kunst zu existieren aufgehört haben“.48Michael Berg: Restriktive Ästhetik als kreative Chance, in: ders., Knut Holtsträter und Albrecht von Massow (Hg.): Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2007, 177–191, 186; vgl. ders.: Musik und Diktatur. Vorüberlegungen zum Entwurf einer Geschichte der Musik in der DDR, in: ders.: Materialien zur Musikgeschichte der DDR, Weimar 2001, 7–38, 24. (Natürlich betrifft diese von Berg mit Blick auf die Musik formulierte Folgerung auch alle anderen Künste.) Vermutlich hatte jedoch die Kulturpolitik damals jene totalitäre Perspektive, die ihr Berg unterstellt, nicht im Blick gehabt, geschweige denn zur Grundlage eines entsprechenden Masterplans gemacht. Zu keiner Zeit war in den sozialistischen Staaten ein Zensurprinzip voll ausgebildet, das der bulgarische Dissident Assen Ignatow in den 1980er Jahren „negative Garantie“ nannte und das er folgendermaßen definierte:

  • „Die kommunistische Zensur besitzt Merkmale, die wesentliche Unterschiede zu der faschistischen und rechten Zensur aufweisen. Indem die Zensur der anderen Diktatur nur das untersagt, was in einem direkten Gegensatz zu dem Regime und seiner Ideologie steht, so untersagt die kommunistische Zensur das, was sich von den festgesetzten Normen bloß unterscheidet. […] Während unter allen anderen Regimes das was nicht verboten ist, erlaubt ist, so ist unter dem Kommunismus all das verboten, was nicht erlaubt, besser: nicht angeordnet ist.“49Assen Ignatow, Psychologie des Kommunismus. Studien zur Mentalität der herrschenden Schicht im kommunistischen Machtbereich, München 1985, 91 f.

Diese Definition beschreibt gewiss ein von den Machthabern herbeigewünschtes Ideal. Doch noch nicht einmal in Stalins Sowjetunion hat der Staat jene Kontrolle ausgeübt, „von der die Totalitarismustheoretiker sprachen“, wie der Historiker Jörg Baberowski konstatierte.50Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 9. Das Regime trug jedoch, so Baberowski weiter, „seinen Anspruch, sie zu verwirklichen, in die Gesellschaft. Im Versuch, diesen totalen Anspruch durchzusetzen, wurde die öffentliche und private Sphäre neu eingerichtet und nach repressiven Prinzipien geordnet.“51Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 10. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009, 7. Siehe hier auch Tischers Reflexionen dazu für die Musikverhältnisse der DDR.

Das trifft meines Erachtens auch für unsere Fragestellung den entscheidenden Punkt. Seit längerem schon ist von der Forschung gegen die Totalitarismustheorie eingewandt worden, dass die aus ihr folgende Sichtweise mit der Gefahr verbunden sei, zwischen dem totalitären Anspruch des jeweiligen Regimes einerseits und der Realität andererseits nicht genügend zu differenzieren. Die Vorstellung, die DDR-Gesellschaft sei von der SED sozialstrukturell homogenisiert, ja „gleichsam stillgelegt“ worden,52So Sigrid Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 5–14, 6. mag aus soziologischer und systemtheoretischer Sicht einleuchten und eine gewisse Faszinationskraft haben, sie würde aber nur unter der unzulässigen Annahme zutreffen, dass die Gesellschaft sich stets in Übereinstimmung mit der ihr vom Regime zugewiesenen Rolle befunden53Vgl. z. B. Jörg Baberowski: „Verwandte Feinde? Nationalsozialismus, Stalinismus und die Totalitarismustheorie“ [über Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957], in: Jürgen Danyel, Jan-Holger Kirsch und Martin Sabrow (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, 52–60, 55. und keinerlei ‚Eigensinn‘ entwickelt hätte. Denn wie der Historiker Ralph Jessen anmerkte, vernachlässigt die totalitarismustheoretische Perspektive den „subsystemischen Eigensinn“ der sozialen Welt.54Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 96–110, 107.

Wie sehr beispielsweise im Musikleben der DDR „Eigensinn“ die von ‚oben‘ intendierten Homogenisierungsabsichten konterkarierte, lässt sich an den letztlich erfolglos gebliebenen Versuchen zur Gleichschaltung der Musikkritik zeigen. Kritiker, die gegen die sozialistisch-realistische Norm verstießen, mussten zwar damit rechnen, zurechtgewiesen zu werden, mir ist aber kein einziger Fall bekannt, dass einer von ihnen mit Berufsverbot belegt worden wäre. Bis zuletzt behielt so in der DDR die Musikkritik im Prinzip ihr bürgerlich-feuilletonistisches Gepräge (→ Musikkritik).

Lars Klingberg

Anmerkungen

  1. Aussprache in der Sektion 1 „Musiktheoretische Fragen“ des Musik-Kongresses 1964 am 21. September 1964, 9 Uhr im Kulturraum der DIA Nahrung, Berlin W 8, Schicklerstr. 5, Archiv der AdK, Berlin, Bestand: Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR, Signatur: 10, das Zitat Bl. 109; vgl. auch die Druckfassung des Diskussionsbeitrages von Heinz Alfred Brockhaus unter dem Titel: Musikwissenschaft und neues Schaffen, in: MuG 15 (1965), 19–21, 21.
  2. Vor der Veröffentlichung bedurfte ein Buch der ‚Druckgenehmigung‘. Für die Musik vgl. Bettina Hinterthür: Noten nach Plan. Die Musikverlage in der SBZ/DDR. Zensursystem, zentrale Planwirtschaft und deutsch-deutsche-Beziehungen bis Anfang der 60er Jahre, Stuttgart 2006.
  3. „Kanon war ein Machtmittel, um Ziele auf Konsensbasis zu erreichen, Handeln durch Selbsttätigkeit in eine intendierte Richtung zu treiben. Wenn aber die handlungsleitende Funktion des Kanons Formen der Anerkennung voraussetzt, muß seine Existenz gerade da vermutet werden, wo er oberflächlich nicht wahrnehmbar und, im Sinne erfolgreicher Vermittlung von Interessen, wie ‚selbstverständlich‘, gewissermaßen naturhaft, anwesend und wirksam war.“ Martina Langermann, Thomas Taterka: Von der versuchten Verfertigung einer Literaturgesellschaft. Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der DDR, in: dieselben mit Birgit Dahlke (Hg.): LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n), Stuttgart, Weimar 2000, 1–32, 17.
  4. Die sowjetische Musik im Aufstieg. Eine Sammlung von Aufsätzen (= Musik und Zeit, Bd. I), Halle 1952; Um die Grundlagen der Musik. Diskussionsbeiträge über die Auswirkung der Arbeit J. W. Stalins „Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft auf die Musik“, [Teil 1] (= Musik und Zeit, Bd. II), Halle (Saale) 1952; Grigori Schneerson: Musik im Dienste der Reaktion (= Musik und Zeit, Bd. III), Halle (Saale) 1953; Tamara Liwanowa: Die Kritikertätigkeit der russischen klassischen Komponisten (= Musik und Zeit, Bd. IV), Halle (Saale) 1953; Viktor Gorodinski: Geistige Armut in der Musik (= Musik und Zeit, Bd. V), Halle (Saale) 1953; Probleme der sowjetischen Musik. Eine Sammlung von Aufsätzen (= Musik und Zeit, Bd. VI), Halle (Saale) 1953; Um die Grundlagen der Musik 2. Diskussionsbeiträge über die Auswirkung der Arbeit J. W. Stalins „Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft auf die Musik“, [Teil 2] (= Musik und Zeit, Bd. VII), Leipzig 1954; Band VIII ist nicht erschienen; I. Ryshkin: Die russische klassische Musikwissenschaft im Kampf gegen den Formalismus (= Musik und Zeit, Bd. IX), Leipzig 1955.
  5. Die Stakuko sah sich als Vollstreckerin des Fünfjahrplans auf dem Gebiet der Kunst: Kulturentwicklungsplan Kunst und Theater. Gesetz über den Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik (1951–1955) vom 1. 11. 1951, GBl. Nr. 128, 8. November 1951, 973–991; Gesetz über den Volkswirtschaftsplan 1952, das zweite Jahr des Fünfjahrplanes, zur Entwicklung der Volkswirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Februar 1952, GBl. Nr. 20, 14. Februar 1952, 111–125; Gesetz über den Volkswirtschaftsplan 1953, das dritte Jahr des Fünfjahrplanes zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 17. Dezember 1952, GBl. Nr. 177, 22. Dezember 1952, 1319–1332.
  6. In der Leipziger Volkszeitung war am 20. 10. 1965 zu lesen: „Sie tragen lange, unordentliche, teilweise vor Schmutz nur so starrende Haare, hüllen sich – wie die ‚Guitar Men‘ – in imitierte Tigerfelle, gebärden sich bei ihren ‚Darbietungen‘ wie Affen, stoßen unartikulierte Laute aus.“ Zitiert nach: DDR-Musikfans: „Gammler, Rowdys, Asoziale“, in: Spiegel Online, 30. 10. 2015, https://www.spiegel.de/fotostrecke/beat-verbot-stasi-verbietet-1965-ddr-band-the-butlers-fotostrecke-131231.html (2. 10. 2024).
  7. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Aufführung von Daniel-Françoise-Esprit Auberts Oper La muette di Portici im Brüsseler Theater La Monnaie am 25. 8. 1830 anlässlich des Geburtstags von König Wilhelm I. von den Niederlanden läutete einen Regimewechsel ein. Der König war durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses in Belgien an die Macht gekommen. Bereits beim Duett Amour sacré de la patrie war das Publikum unruhig geworden, und als Masaniello in dritten Akt, bewaffnet mit einer Axt, sang „Laufet zur Rache, die Waffen, das Feuer!“, rief das Publikum zu den Waffen und erzwang mit den anschließenden Unruhen die Unabhängigkeit Belgiens.
  8. Die Noel-Field-Affäre war eines der brutalsten Beispiele für Kontaktschuld, vgl. Bernd-Rainer Barth, Werner Schweizer, Thomas Grimm: Der Fall Noel Field, Berlin 2006.
  9. Dietrich Busse: Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987, 222.
  10. Andrea Seier: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 75–86, 77.
  11. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1974, 11.
  12. Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978, 75.
  13. Thomas Lemke: Antworten auf eine Frage: Ist Foucaults ‚Geschichte der Wahrheit‘ eine wahre Geschichte?, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 177–193, 190.
  14. Vgl. Urs Marti: Michel Foucault, München 1988, 75.
  15. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1991, Bd. 1, 122.
  16. Vgl. Isabell Lorey: Macht und Diskurs bei Foucault, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 87–96, 91.
  17. Andrea Seier: Kategorien der Entzifferung: Macht und Diskurs als Analyseraster, in: Hannelore Bublitz, Andrea Bührmann, Christine Hanke, Andrea Seier (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M. 1999, 75–86, 80.
  18. Vgl. Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Tübingen 2006, 46.
  19. Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, 15.
  20. Besondere Formen von Religiosität und Spiritualität wären im Staatsozialismus – ohne sie diskreditieren zu wollen – unter diesem Schlagwort zu fassen.
  21. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1998, 16.
  22. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1998, 25.
  23. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, 264.
  24. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, 265.
  25. Paul Veyne geht so weit, dem Ideologiebegriff Hausverbot zu erteilen: „Ein für allemal: die Ideologie existiert nicht, den geheiligten Texten zum Trotz, und man sollte sich dazu entschließen, dieses Wort nie mehr zu gebrauchen.“ Paul Veyne: Foucault: Die Revolutionierung der Geschichte, Frankfurt a. M. 1992, 45.
  26. Zur Vorgeschichte der späteren SED-Führung im Moskauer Exil vgl. Peter Erler (Hg): „Nach Hitler kommen wir“: Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994.
  27. Gleichzeitig löste es einen der letzten großen Zensurfälle aus. Die SED ließ im Herbst 1988 den Versand des sowjetischen Readers Digest Sputnik einstellen, wegen Beiträgen zum Hitler-Stalin-Pakt und der ambivalenten Haltung der deutschen Kommunisten zur NSDAP. Im ND vom 19. 11. 1988 hieß es unter der Überschrift Mitteilung der Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen: „Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift ‚Sputnik‘ von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte.“
  28. Kunst die angeblich keinen Inhalt hat, wurde als formalistisch diffamiert. Wenn Kunst unterstellt wurde, fortschrittlich zu sein, war in der DDR ihr Inhalt bevorzugt der Klassenkampf auf dem Weg zum Kommunismus. „Die Realität der großen sozialen Bewegung, auf Grund deren Beethovens Werk entstehen konnte, die Realität des freiheitlichen Strebens erscheint in ihrem Inhalt.“ (61) Die Kunst der Wiener und Weimarer Klassik war durch ihren Bezug zur Volkskunst (Märchen, Fabel, Volkslied) national, im Gegensatz zum so genannten Kosmopolitismus – einem Vorwurf, der auf antisemitische Ressentiments wie den heimatlosen ewigen Juden Ahasver rekurrierte. Die Musik „verlor zusehends ihre ethische, moralische, produktive, vorwärtsführende Kraft. Von da ab gerieten viele Künstler, die im bürgerlichen Sinne und im bürgerlichen Musikbetrieb tätig waren, in ein wachsendes Dilemma. Einige von ihnen erkannten — oder ahnten zumindest –, daß die ideologische Funktion des bürgerlichen Kunstbetriebes sich immer mehr in eine gesellschaftsferne, rückwärtsgewandte und geistesfeindliche verwandelte. Wurde doch die Musik schließlich dazu ausgenutzt, die brutal-unterdrückerischen Ziele des Monopolkapitalismus ganz unmittelbar zu unterstützen (Nazifaschismus).“ (120 f.) Selbst, wenn die zum Teil linken, jüdischen Avantgardekünstler von den Nazis verfolgt wurden, hatten sie diesen angeblich nolens volens den Steigbügel gehalten, da ihre Kunst nicht im Sinne eines linken Klassenkampfes dem NS die Stirn geboten hatten – ein krude Schuldumkehrung angesichts des Kurses der KPD in den letzten Weimarer Jahren. „Eine Reihe der Verfechter solch abstrakter oder neurotischer, nihilistischer Musikstile waren vom Nazifaschismus vertrieben, entwurzelt oder eingeschüchtert worden. Es ist bedauerlich, daß sie nicht die Kraft aufgebracht haben, aus ihren eigenen Lebenserfahrungen den richtigen Schluß zu ziehen — in ihrem Kunstschaffen den Weg des Kampfes gegen Reaktion und Imperialismus zu gehen, anstatt sich weiter mit ihren stilistischen Abstraktionen zu beschäftigen. […] Eine Kunst ist immer nur fortschrittlich in Beziehung auf die fortschrittlichen Kräfte in der Gesellschaft.“ Ernst Hermann Meyer: Musik im Zeitgeschehen, Berlin 1952, 151.
  29. Brecht stand in der frühen DDR, nicht ganz zu Unrecht, unter Generalverdacht, mit seinem Theater einen Staat im Staat zu etablieren und darüber hinaus die Weimarer Klassik zu verfremden. Ernst Busch war, anders als die Führungsriege der SED, tatsächlich im Widerstand gewesen, zudem eine Ikone der internationalen Arbeiterbewegung, ein Publikumsliebling, ein erfolgreicher Schallplattenunternehmer und Intimfeind Erich Honeckers. Eisler hatte sich des Formalismus in seinem Faustus-Libretto schuldig gemacht. Das Einheitsfrontlied war einer der größten Erfolge des Trios Brecht, Busch, Eisler. Die Machthaber in der DDR neideten den künstlerischen Klassenkämpfern ihre Popularität (bis nach Moskau und Peking) und wurden zudem durch solche Lieder daran erinnert, dass es auf Weisung Moskaus nie zu einer Einheitsfront gekommen war, und sich die gerade musikalisch hervorragend organisierte deutsche Arbeiterbewegung kaum gegen ihre Absorption in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zur Wehr gesetzt hatte.
  30. Wladimir Woinotitsch: Leben und Schicksal des Wassili Grossman und seines Romans, in: Wassili Grossman: Leben und Schicksal, Berlin 2007, 1059–1068, 1060.
  31. Vergleichbar drastische Maßnahmen wie die gegen Wassili Grossman und seinen Roman Leben und Schicksal hat es in der Musik weder in der Sowjetunion noch in einem ihrer Satellitenstaaten gegeben. Es wurde alles, was in Zusammenhang mit der Entstehung des Buches stand, beschlagnahmt und weggesperrt (Manuskripte, Durchschlagpapier, Farbbänder). „Dieser Fall war sogar in der Geschichte der leidgeprüften sowjetischen Literatur einzigartig. Bis dahin war es natürlich schon vorgekommen, dass ein Autor verhaftet und alle seine Unterlagen wahllos oder gezielt eingezogen worden waren, doch hier wurden nicht der Autor verhaftet, sondern der Roman selbst. Er wurde nicht weggenommen, nicht beschlagnahmt, nicht konfisziert, sondern verhaftet wie ein lebendiger Mensch.“ Wladimir Woinotitsch: Leben und Schicksal des Wassili Grossman und seines Romans, in: Wassili Grossman: Leben und Schicksal, Berlin 2007, 1059–1068, 1061.
  32. Einerseits bescherte das NÖSPL den DDR-Bürgern ungekannte Konsummöglichkeiten, andererseits blieb das inaugurierte Wirtschaftswunder Ost aus.
  33. David Robb: Political Song in the GDR: The Cat-and-Mouse Game with Censorship and Institutions, in: David Robb (Hg.): Protest Song in East and West Germany Since the 1960s, Rochester 2007, 227–254.
  34. Die Stasi half den Punks bei der Beschaffung von Instrumenten und Probenräumen, während sie die gleichen Bands unterwanderte, um sie alsbald zu verhaften und außer Landes zu treiben. Die Hammer Rehwü von Karls Erben knüpfte an Piscators Rote Revuen aus den 1920er-Jahren an und konnte im Gegensatz zur Folk-Oper Die Boten des Todes aufgeführt werden und auf Tour gehen. David Robb: Political Song in the GDR: The Cat-and-Mouse Game with Censorship and Institutions, in: David Robb (Hg.): Protest Song in East and West Germany Since the 1960s, Rochester 2007, 227–254, 242.
  35. Vgl. Alexander Leistner: Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR, Konstanz 2016.
  36. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Hg.): Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek, letzte Änderung: September 2021, www.jugendopposition.de/145321 (2. 10. 2024).
  37. Deutsche Welle (Hg.): Bernd Gräßler: Tschernobyl und die DDR, 14. 4. 2011, https://www.dw.com/de/zu-besorgnis-besteht-kein-anlass/a-14981875 (2. 10. 2024).
  38. Siehe u. a. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Hg.): Die Chinesische Lösung, letzte Änderung: Januar 2018, www.jugendopposition.de/145315 (2. 10. 2024).
  39. Thomas Klein: Heimliches Lesen und staatsfeindliches Schreiben. Bemerkungen zu Zensur und Gegenöffentlichkeit in der DDR der achtziger Jahre, in: Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, 57–65, 57.
  40. Auch wenn unserer Kenntnis nach niemand, der in der DDR von Zensur sprach, ins Gefängnis kam: „Wer in der DDR behauptete, es gäbe Zensur, Einschränkungen der Meinungs-, Presse- oder Versammlungsfreiheit, dem drohten Prozess und Gefängnis. Denn schon in der Verfassung der DDR von 1949 hieß es im Artikel 9, Absatz 2: ‚Eine Pressezensur findet nicht statt‘. Und in Artikel 27 der Verfassung von 1968 stand: ‚Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundsätzen der Verfassung gemäß, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet.‘ Die Verwirklichung von staatlicher Kontrolle und Genehmigung von Veröffentlichungen im weitesten Sinne (Zensur als Vorzensur), die Einübung der gesellschaftlichen Praxis herrschaftskonformer öffentlicher Artikulation sowie die Gewöhnung der gesellschaftlichen Akteure an deren Konventionen erfolgte auf subtilere Art.“ Thomas Klein: Heimliches Lesen und staatsfeindliches Schreiben. Bemerkungen zu Zensur und Gegenöffentlichkeit in der DDR der achtziger Jahre, in: Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, 57–65, 62. Schon allein die Verwendung des Begriffs „Zensur“ löste entsprechende Reaktionen aus. Ein gutes Beispiel dafür sind die Worte von Hermann Kant in seiner Rede als Schriftstellerverbandschef auf der Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes am 30. Mai 1979, in der er acht kritische Autoren angriff, die am 16. Mai 1979 einen Offenen Brief an Honecker geschrieben und darin den Begriff „Zensur“ gebraucht hatten („Durch die Koppelung von Zensur und Strafgesetzen soll das Erscheinen kritischer Werke verhindert werden.“). Kants Worte dazu waren folgende: „Der Ausdruck ‚Zensur‘, Herrschaften, ist besetzt; belesenen Leuten muß das nicht erläutert werden. Wer die staatliche Lenkung und Planung auch des Verlagswesens Zensur nennt, macht sich nicht Sorgen um unsere Kulturpolitik – er will sie nicht.“ (siehe https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/events#Vorstandssitzung-des-Schriftstellerverbandes-der-DDR-in-Berlin).
  41. Matthew Bunn: Reimagining Repression: New Censorship Theory and After, in: History and Theory, 54 (2015), 25–44.
  42. „Zensur erschöpft sich heute nicht mehr in der Vorstellung eines konkret beschreibbaren Maßnahmenkatalogs des bestallten Zensors zur Unterdrückung des Unbotmäßigen. Zensur wird nicht mehr nur abschätzig als ‚Obstruktion, Intoleranz, Repression‘ bewertet, sondern als ‚Kulturphänomen‘ betrachtet Das Zensurkonzept hat aufgrund dieser Erweiterung effektiv eine Neubewertung, ja in gewisser Weise eine Aufwertung erfahren.“ Beate Müller: Über Zensur: Wort, Öffentlichkeit und Macht, in: Beat Müller (Hg.): Zensur im modernen deutschen Kulturraum, Tübingen 2003, 2.
  43. „Der Solo-Posaunist, Komponist und Mitbegründer der „gruppe neue musik hanns eisler“, der zu Beginn der 60er Jahre zunächst bei Günter Kochan, dann bei Fritz Geißler in Leipzig (1965–68) und schließlich, vergleichsweise spät, als Meisterschüler Dessaus in Zeuthen Kompositionsunterricht genoß (1973–75), hatte es beispielsweise schwer, mit seinen Kompositionen Stück für Virtuosen (1970) und Electrization (1972/73) bei seinen Kollegen im Komponistenverband Beifall zu finden. Das zuerst genannte Werk, welches Herbert Kegel gewidmet ist, erlebte nach seiner Uraufführung 1971 in Leipzig äußerst kontroverse Diskussionen, an welchen auch der Komponist selber teilnahm und die letztlich dazu führten, den, wie es hieß, durchaus begabten, aber fehlgeleiteten Schenker einer vermeintlich letztlich ihm zugute kommenden Patenschaft Fritz Geißlers und Eberhard Lippolds zuzuführen.“ Nina Noeske: Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusik in der DDR, Köln 2007, 57; siehe Archiv der AdK, Berlin, Zentrales Akademiearchiv, 480, Bl. 13 f., Sektionssitzung am 7. 5. 1971.
  44. Michael Tippet: A convenient illusion, in: Index of Censorship, 1/1983, 3.
  45. Das von Hall herausgegebene Handbuch stellt weniger theoretische Fragen, als dass es Fallstudien seit der Gregorianik vorstellt. Zudem richtet sich der Fokus stark auf den angloamerikanischen Raum. Patricia Hall (Hg): The Oxford Handbook of Music Censorship, Oxford 2015. Piepers Band deutet eine Vielzahl von Desiderata an. Werner Pieper (Hg.): Verfemt, verbannt, verboten. Musik & Zensur; weltweit, Löhrbach 1999; Brembergers Buch ist eine Inspiration: „Als Musikzensur soll im Folgenden jeder über den privaten Rahmen hinausgehende Versuch verstanden sein, insbesondere aus ideologischen oder sittlich-moralischen Motiven in den musikalischen Kommunikationsprozess einzugreifen mit dem Ziel, diesen zu erschweren, zu verhindern oder aber Beteiligte im Nachhinein zu bestrafen. Die Eingriffe geschehen durch außerhalb des musikalischen Kommunikationsprozesses stehende oder den Verteilungsweg des Produktes kontrollierende Personen bzw. Instanzen. Ihnen liegen insbesondere ideologische oder sittlich-moralische Motive zugrunde. Ohne Bedeutung ist hierbei, ob diese Versuche erfolgreich sind oder nicht, ebensowenig ob sie planmäßig oder zufällig erfolgen.“ Bernhard Bremberger: Musikzensur. Eine Annäherung an die Grenzen des Erlaubten in der Musik, Berlin 1990.
  46. Die Darstellung folgt weitgehend den Gedankengängen und Formulierungen in zwei meiner früheren Publikationen: Überlegungen zur Zensur in der DDR vor dem Hintergrund der Totalitarismustheorie, in: Detlef Altenburg und Peter Gülke (Hg.): Autonomie und Lenkung. Die Künste im doppelten Deutschland. Bericht über das Symposion der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der Sächsischen Akademie der Künste und des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Leipzig, 4. bis 6. April 2013, Stuttgart und Leipzig 2016 (= Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 84, Heft 1), 59–63; Kontrollinstanzen im Musikleben der DDR, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa 21 (2019), 49–83, 62–64.
  47. Bernd Weyergraf und Peter Lübbe: Art. „Zensur“, in: Wolfgang R. Langenbucher, Ralf Rytlewski und Bernd Weyergraf (Hg.): Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Kulturvergleich, Stuttgart 1988 [Reprint der 1983 unter dem Titel „Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Vergleich“ erschienenen Erstausgabe], 763–765, 763.
  48. Michael Berg: Restriktive Ästhetik als kreative Chance, in: ders., Knut Holtsträter und Albrecht von Massow (Hg.): Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2007, 177–191, 186; vgl. ders.: Musik und Diktatur. Vorüberlegungen zum Entwurf einer Geschichte der Musik in der DDR, in: ders.: Materialien zur Musikgeschichte der DDR, Weimar 2001, 7–38, 24.
  49. Assen Ignatow, Psychologie des Kommunismus. Studien zur Mentalität der herrschenden Schicht im kommunistischen Machtbereich, München 1985, 91 f.
  50. Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 9.
  51. Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004, 10. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat. Paul Dessau in der DDR, Köln, Weimar und Wien 2009, 7. Siehe hier auch Tischers Reflexionen dazu für die Musikverhältnisse der DDR.
  52. So Sigrid Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 5–14, 6.
  53. Vgl. z. B. Jörg Baberowski: „Verwandte Feinde? Nationalsozialismus, Stalinismus und die Totalitarismustheorie“ [über Carl J. Friedrich, Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957], in: Jürgen Danyel, Jan-Holger Kirsch und Martin Sabrow (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, 52–60, 55.
  54. Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 96–110, 107.

Autor:innen

Erwähnt in

Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes der DDR in BerlinX. Schriftstellerkongress der Deutschen Demokratischen Republik in Berlin

Zitierempfehlung

Lars Klingberg und Matthias Tischer, Artikel „Zensur“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 07.10.2024, online verfügbar unter https://mugo.hfm-weimar.de/de/topics/zensur-und-selbstzensur, zuletzt abgerufen am 22.10.2024.