Musik im DEFA-Spielfilm – Kurze Geschichte

Zusammenfassung

Als Teil der DEFA-Geschichte von 1946 bis 1993 wurde die komponierte und partiell kompilierte Musik für Spiel-, Dokumentar- und Animationsfilme in Umfang sowie stilistischer und klanglicher Ausprägung hauptsächlich von den politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Gegebenheiten der DDR als Produktionsland bestimmt. Diese Einflüsse von Politik, Ökonomie und Ideologie (letztere oft in Form von Parteitagsbeschlüssen der SED) lassen sich in der relativen Hermetik der Produktionsbedingungen (vor allem in den 1940er bis 1960er Jahren) bis in die konkrete Struktur der musikalischen Gestaltungsmittel dingfest machen. Anfängliche ästhetische Positionen einer auf die Massen musikerzieherisch einzuwirkenden sinfonischen Orchestermusik, die teilweise für den Konzertsaal adaptiert wurde, sind mit den wachsenden ökonomischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten ab den 1970er Jahren zugunsten einer stilistischen Pluralität aufgegeben worden. In den Mittelpunkt rückte der Unterhaltungswert einer Filmmusik, die sich zunehmend auch an westlichen popmusikalischen Soundkonzepten orientierte. Die Fokussierung dieses Beitrags auf den Spielfilm bringt den Vorteil, in dieser repräsentativen und soziologisch wichtigsten Filmgattung die spezifischen Probleme der Komposition für den DEFA-Film pointiert darstellen zu können.

I Prämissen

Die Nachkriegszeit mit ihrer materiellen Not und ihren gesellschaftlichen Traumata sowie die Teilung Deutschlands in zwei Staaten mit konträren Gesellschaftsordnungen und den hieraus resultierenden unterschiedlichen Lebensentwürfen und Alltagserfahrungen stellen tiefgreifende und folgenreiche Ereignisse in der Geschichte des deutschen Films zwischen 1946 und 1989 dar. Die Entwicklung zweier Kinematographien mit gleicher Vorgeschichte, ästhetischer Tradition, einem künstlerischen und technischen Personal, das bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 trotz wachsender inhaltlicher Unterschiede und Zielsetzungen vielfach sowohl für den west- als auch ostdeutschen Film arbeitete, zeigt nahezu paradigmatisch die Einflüsse von Politik und Ökonomie auf die Ausprägung von Stil und bevorzugten Filmgenres bis hin zur Auswirkung auf einzelne, konkrete Gestaltungsmittel und deren Einsatz und Veränderung. Das gemeinsame immaterielle Erbe im Filmwesen beider deutscher Staaten waren die ästhetischen Konventionen der UFA-Traumfabrik und die personelle Kontinuität in nahezu allen Gewerken. In der Filmmusik-Produktion arbeiteten selbst Komponisten, die an NS-Propagandafilmen mitgewirkt hatten, teilweise bis in die fünfziger Jahre hinein für Filmprojekte in beiden Teilen Deutschlands. Deshalb kann eine Analyse und Bewertung jener Filmmusik, die in diesem Zeitraum in Ost- und Westdeutschland entstand, nur unter Beachtung des komplexen Abhängigkeitsgefüges von Politik und Kultur, offener und verdeckter Ideologie, Ökonomie und Kunst adäquat erfolgen. Auf den ersten Blick erscheinen diese Abhängigkeiten von verschiedensten außermusikalischen Faktoren auf die stilistisch-ästhetische und funktionelle Ausprägung der Filmmusik in der anfangs sowjetisch besetzten Zone und ab 1949 bis 1990 in der DDR produzierten DEFA-Filmen offenkundiger und deutlicher an der Oberfläche liegend als im überwiegend stark kommerziell geprägten westdeutschen Film. Dies betrifft sowohl relevante Unterschiede hinsichtlich ihres Aufgabenbereichs und Wirkungsfeldes – bezogen auf die dramaturgischen Funktionen im engeren Sinne in den jeweils gesellschaftlich speziell herausgebildeten und bevorzugten Filmgenres – sowie ihres sozio-kulturellen Stellenwertes bis hin zu den Arbeits- und Lebensbedingungen der Komponisten und deren Stellung im Filmbetrieb und im allgemeinen Musikleben.

Die Geschichte des DEFA-Films umfasst mit ihrem Epilog im wiedervereinten Deutschland (1991–1993) einen Zeitraum von 47 Jahren. Dieses abgeschlossene Kapitel deutscher Filmgeschichte nach 1945 ist zum einen die Geschichte eines permanenten Spannungsverhältnisses zwischen Politik und Kultur, Ideologie und Kunst, das die Filme in ihrer inhaltlichen Ausrichtung und formalen Gestaltung stark prägte. Zum anderen ist es die Chronik verschiedenster Versuche, den Erstarrungstendenzen, welche durch repressive kulturpolitische Maßnahmen hervorgerufen wurden, mit Phantasie und Kreativität entgegenzuwirken. Auch in der Komposition für den Film gab es vielfältige Ansätze und Bemühungen, das Niveau und Ansehen einer Musikform zu heben, die „wenig beachtet und selbst von vielen Komponisten als zweitrangig angesehen, von den Filmbesuchern als gegeben hingenommen und von der Presse ignoriert“ wird.1Joachim Werzlau: Probleme der Filmmusik, in: MuG 3 (1953), 213–215, 213.

In der Rückschau auf die von über 150 Komponisten für ca. 985 DEFA-Spielfilme komponierte und arrangierte Orchester-, Kammer-, Instrumental-, Vokal- und elektronische Musik wird deutlich, dass die Geschichte der Filmmusik nicht als bloße musikalische Gattungsgeschichte verstanden werden darf. Vielmehr muss sie stets im komplexen Gefüge verschiedenster Faktoren gesehen werden, welche im Laufe der historischen Entwicklung mit unterschiedlicher Intensität Einfluss auf die Ausprägung ihrer Strukturen, auf Stil und Dramaturgie haben. Zu diesen Faktoren gehören die allgemeine Geschichte eines (Film-)Landes, des Weiteren politische und ideologische Prämissen und Postulate, ökonomische, produktionstechnische und (sozio-)kulturelle Rahmenbedingungen sowie die gesellschaftlichen Funktionen des Films als Kunst, Dokumentation, Propaganda und Unterhaltung. Natürlich spielen auch die stilistischen Entwicklungen in der Musik des 20. Jahrhunderts (und seit den 1960er Jahren vor allem aus dem Bereich der Popmusik und ihren elektronisch generierten Sounds) mit hinein. Aber wichtiger als die gelegentliche Partizipation an den stilistischen Veränderungen der Kunst- und Unterhaltungsmusik sind die ästhetischen Entwicklungen im Film selbst; also neue formale und inhaltliche Konzepte, die an die Musik neuartige Aufgaben stellen. Diese Konzepte wiederum stehen in Verbindung zu gesellschaftlichen Prozessen, politischen Weichenstellungen, Erwartungen, Zielen und Wunschvorstellungen.

 

II Zur gesellschaftlichen Bedeutung der DEFA-Spielfilmmusik in der Kulturpolitik der DDR

In den Staaten des sowjetischen Machtbereichs erfreuten sich die Künste (wie stets in Diktaturen) einer besonderen Wertschätzung durch ihr Potential, neben der ästhetischen Bildung und vor allem Unterhaltung der werktätigen Massen gefühlsmobilisierend für staatstragende Präsentation, Agitation und Propaganda effektiv zu werden. Vor allem die ungemein suggestive Wirkungskraft des (Ton-)Films schien für die politische Meinungs- und Gefühlsbildung besonders geeignet. Und so war es auch kein Zufall, dass der Regisseur Wolfgang Staudte nach Kriegsende mit seinem Exposé einer ersten filmischen Aufarbeitung der jüngsten deutschen Vergangenheit nur in der sowjetisch besetzten Zone die Möglichkeit erhielt, unter dem Dach der am 17. Mai 1946 als Deutsche Film A.G. (DEFA) gegründeten Babelsberger Filmfirma den ersten deutschen Nachkriegs-Spielfilm Die Mörder sind unter uns zu realisieren. Da für die Erziehung zur ‚sozialistischen Persönlichkeit‘ sowie für die Interpretation der Geschichte nach den Dogmen des Marxismus-Leninismus auch die starken emotionalen Kräfte der Musik dienstbar gemacht werden sollten, erhielt auch die Filmmusik, die im Kino ein Millionenpublikum erreichte, einen wichtigen kulturpolitischen Stellenwert.2Vgl. Wolfgang Thiel: Ansichten zur gesellschaftlichen Bedeutung und Wirkung der DEFA-(Spiel-)Filmmusik von 1946 bis 1990, in: Musikforum, Nr. 94 (2001), 18–22. Zudem gab es seinerzeit forcierte Bestrebungen, eine Kinopremiere zu einem gesellschaftlichen Ereignis werden zu lassen. „Die Rampe der Opernbühne unter einer Lawine von Blumen verborgen. Die volle Staatskapelle präludiert Berlins künstlerische Elite in dem gewaltigen Zuschauerraum. Der Gegenstand der Betrachtung war dem festlichen Aufwand keineswegs angemessen“, befand die Neue Zeitung aus West-Berlin zur Premiere des kriminalistischen „Zeitfilms“ Razzia in ihrer Ausgabe vom 2. 5. 1947. Mit einem rasanten Streicher-Fugato lässt der Komponist Werner Eisbrenner (1908–1981) den Film musikalisch beginnen und reißt somit die Zuschauer in die Welt der Schwarzmärkte und Razzien. Razzia war bereits die 5. Spielfilmproduktion der DEFA und erlebte diese festliche Uraufführung im Admiralspalast, dem damaligen Domizil der ausgebombten Lindenoper in der Friedrichstraße.

Allerdings war die kulturpolitische Wahrnehmung der Filmmusik auch zu dieser Zeit widersprüchlich. Einerseits rangierte die bis Mitte der 1950er Jahre obligate orchestrale Begleitmusik in der Hierarchie der filmischen Mittel am unteren Ende der Skala.3Vgl. Wilhelm Neef: Filmmusik nach wie vor Lückenbüßer …, in: MuG 12 (1962), 77–79. Andererseits kam der Anachronismus dieser omnipräsenten „Filmsymphonik“, die international in vielen Filmländern über drei Jahrzehnte lang das Klangbild der seriösen Filmmusik prägte und stilistisch die Bruchstelle der nach 1910 in der europäischen Kunstmusik zunehmend gestörten Kommunikation zwischen Konzerthörer und zeitgenössischem Komponisten markierte, den ästhetischen Vorstellungen der Kulturideologen im Sinne einer bedeutungsschweren, ‚ernsten‘ und zugleich breiten Teilen des Publikums vertrauten Musik sehr entgegen. Galten doch in den Kreisen der Parteifunktionäre selbst Hanns Eisler und Paul Dessau trotz ihrer kommunistischen Kampf- und Massenlieder als schwierige Neutöner und somit des Formalismus verdächtig. Sogar der politisch stets ‚linientreue‘ Ernst Hermann Meyer (1905–1988), ein mit Staats- und Parteiorden hochdekorierter Komponist und Musikologe, musste sich dieses Vorwurfs erwehren, obgleich er sich in seinen Filmkompositionen um die Gestaltung eines „heroisch-revolutionären und sozialistisch-realistischen Pathos“ (wie in der Partitur zum Spanien-Film Wo du hingehst … von 1957) mühte und in Solange Leben in mir ist (1965) jenes auf Beethoven verweisende heroische c-Moll-Pathos nachahmte, das in der stalinistischen Musikkritik als angeblich revolutionäres gepriesen wurde.

 

III Kurze Typologie der DEFA-Spielfilm-Komponisten

Die Geschichte der DEFA begann nicht nur in notdürftig hergerichteten Ateliers mit unzulänglicher technischer Ausrüstung, sondern sie begann – und dies war vielleicht das Schwerste – mit Menschen, die oft ohne innere Überzeugung, sondern nur um des Überlebens willen mitmachten. „Die junge DEFA-Produktion mußte mit Menschen aufgebaut werden, die von einigen Ausnahmen abgesehen, zwölf Jahre bei der UFA gearbeitet hatten […], was besonders für Kameraleute, Szenenbildner, Komponisten zutraf. […] Die Kadersituation in der DEFA reflektierte die allgemeine Lage.“4Christiane Mückenberger: Einleitung, in: Zur Geschichte des DEFA-Spielfilms 1946–1949. Eine Dokumentation. Studentenarbeiten des I. Studienjahres der Fachrichtung Film- und Fernsehwissenschaft, angeleitet, ergänzt und für den Druck bearbeitet von Christiane Mückenberger, in: Hochschule für Film und Fernsehen DDR (Hg.): Information, Nr. 3–6/1976, 13–39, 20 f. Zu dieser pragmatischen Personalpolitik beim Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen (ost-)deutschen Filmkunst gab es keine realistische Alternative. Die Utopie eines radikalen Neubeginns wäre an den objektiven Gegebenheiten gescheitert. Von den aus politischen oder rassistischen Gründen emigrierten Komponisten, die vor 1933 die deutsche Filmmusik geprägt hatten, war 1946/47 noch keiner nach Deutschland zurückgekehrt. Der kompositorische Nachwuchs befand sich in Gefangenschaft oder war im Krieg gefallen. Nur die Filmkomponisten der UFA standen bereitwillig zur Verfügung. Ähnlich war die Situation in den sich wieder formierenden Orchestern. Als Ernst Roters (1892–1961) Anfang September 1946 im Johannisthaler Synchronatelier den Taktstock zur Aufnahme seiner Partitur Die Mörder sind unter uns hob, sahen ihn nur bekannte Gesichter an. Diese „Kadersituation in der DEFA“ hatte zur Folge, dass auch Komponisten hinzugezogen wurden, die durch ihre Mitarbeit an nazistischen Propagandafilmen stark kompromittiert waren. Der „Fall Zeller“ war hierbei nur der bekannteste. 1940 hatte Wolfgang Zeller (1893–1967) die Musik zu Veit Harlans berüchtigtem Film Jud Süß geschrieben. Wenige Jahre später schrieb er eine emotional anrührende Musik zu dem antifaschistischen Melodram Ehe im Schatten (1947) über das tragische Schicksal eines Schauspielerehepaares während der Judenverfolgungen in Nazi-Deutschland.5Vgl. Wolfgang Thiel: Wolfgang Zeller. Ehe im Schatten, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 187–192. Indes war Zeller kein Einzelfall. Dass Hans-Otto Borgmann (1901–1977) von der DEFA beauftragt wurde, die Musik zum Film 1-2-3 Corona (1949) zu schreiben, der Probleme der Nachkriegsjugend und Fragen eines neuen Erziehungsmodells behandelte, ist aus heutiger Sicht schwer verständlich. Stammte doch das wohl bekannteste Lied der HJ, Unsere Fahne flattert uns voran, von eben diesem Autor aus dem Film Hitlerjunge Quex. Auch der weniger bekannte Franz R. Friedl (1892–1977) hatte ein unrühmliches filmmusikalisches Opus zu verbergen. 1940 schrieb er die Musik zu dem wohl übelsten antisemitischen Hetzfilm Der ewige Jude und 1949 für die DEFA die Partitur zu einer Heimkehrer-Tragikomödie Quartett zu fünft. Und noch 1954 betrat mit Herbert Windt (1894–1965) ein einstmals von der Nazipresse gefeierter Komponist der heroischen und nationalpolitischen Filme wie Triumph des Willens, Unternehmen Michael oder Kadetten als Mitarbeiter Wolfgang Staudtes (!) das Musikatelier der DEFA, um 1954 seine Partitur zum Film Leuchtfeuer einzuspielen. Zwang unmittelbar nach 1945 die prekäre personelle Situation, mit belasteten Komponisten der NS-Zeit zusammenzuarbeiten, so wurde dieser Missstand noch jahrzehntelang durch die Unkenntnis über deren Aktivitäten zwischen 1933 und 1945 befördert.6Erst 1982 lag mit Fred K. Priebergs Buch „Musik im NS-Staat“ eine systematisch aufgearbeitete Musikgeschichte dieser Zeit vor.

Durchschnittlich arbeiteten in der DDR jährlich 40–50 Komponisten mit sehr unterschiedlicher Produktivität und Stetigkeit für die DEFA, die ca. 15 Kinospielfilme pro Jahr herausbrachte.7Hinzu kamen neben den Dokumentarfilmen und Animationsstreifen des Dresdner Trickfilmstudios jene Spielfilme, die im Auftrag des Fernsehens von der DEFA produziert wurden. Typologisch gesehen können drei Gruppen von Komponisten unterschieden werden. Die erste umfasst jene Opern- und Konzertsaalkomponisten, die – wie Ernst Hermann Meyer oder Kurt Schwaen – nur gelegentlich bzw. gemessen am Gesamtwerk nur untergeordnet für den Film arbeiteten.

Für die DEFA waren nicht nur spezialisierte Filmmusiker tätig, sondern (wie im sowjetischen Kino mit Schostakowitsch, Prokofjew oder Chatschaturjan) schrieben auch viele Komponisten aus dem Bereich der Kunstmusik für den Film. Dies geschah nicht nur aus finanziellen Gründen. Als „Musik für die Massen“ wurde der Filmmusik insbesondere in den 1950er Jahren als soziologisch wichtigster Form ‚angewandter Musik‘ die spezielle Fähigkeit zugesprochen, einen Brückenschlag zwischen der sogenannten E- und U-Musik herzustellen. Aus dieser Aufgabenstellung erwuchsen der Impuls und die Utopie einer ästhetisch erzieherischen Rolle künstlerischer Filmmusik. Zugleich sollte (in den 1950er Jahren) die Beschäftigung mit der ‚angewandten Musik‘ als Prüfstein für die Komponisten dienen, sich nicht durch ‚formalistische‘ Experimente von ihrem Publikum zu entfernen. Dieser musikerzieherische Aspekt wirkte auch ein Jahrzehnt später in gewandelter Form weiter. Eine neue an Brecht, Eisler, Schönberg, Strawinsky und der westeuropäischen Avantgarde geschulte Komponisten-Generation sah in den audio-visuellen Medien die Möglichkeit, eine am epischen Theater orientierte Musikdramaturgie sowie moderne Kompositionstechniken und innovative Klangkonzepte erproben zu können. All dies gelang zwar nur punktuell, da von den Kulturfunktionären stets beargwöhnt. Dabei erfolgten diese innovativen Bemühungen keineswegs in ideologisch subversiver Absicht, sondern als systemimmanente Reformversuche der künstlerischen Gestaltungsmittel. Filmästhetisch progressive Filme wie Lissy, Der Fall Gleiwitz oder Der geteilte Himmel machten neue musikdramaturgische und stilistische Lösungen erforderlich. Zudem wurde der Einsatz von klanglich dissonantem Material jenseits tonaler Bindungen im filmischen Wirkungszusammenhang als parteilich polarisierendes Element und somit zur negativen Charakterisierung des ‚Klassenfeindes‘ kulturpolitisch eher akzeptiert als in den autonomen Musikformen.

Wie in jedem entwickelten Filmland gab es als zweite große Gruppe die spezialisierten Filmkomponisten. Neben Tanz- und Unterhaltungsmusikern umfasste sie auch jene akademisch ausgebildeten Vertreter der ‚Ernsten Musik‘, deren Schaffen gewissermaßen im umgekehrten Verhältnis zur ersten Gruppe steht. Es waren vielfach Musiker mit Geschmack und hohem handwerklichen Standard, die auch Opern, Sinfonien und Konzerte schrieben und aus verschiedensten Gründen vor Atonalität und Zwölftonmusik zurückschreckten. Für sie wurde das Kino zu einem Zufluchtsort vor den stilistischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Diese Autoren hatten bereits für die UFA gearbeitet. Von ihnen waren im DEFA-Film Ernst Roters und Herbert Trantow (1903–1993) die handwerklich versiertesten. Des Weiteren sind Horst-Hanns Sieber (1899–1952; Der Untertan, 1951), Walter Sieber (1904–1969; Das Fräulein von Scuderi, 1955) oder Hans-Hendrik Wehding (1915–1975; Kein Hüsung, 1954) zu nennen.

Schon seit den Anfangstagen des Tonfilms rekrutierten sich als dritte Gruppe Operetten- und Schlagerkomponisten, Barpianisten sowie Leiter von Tanzorchestern oder Bigbands. Ihr hauptsächliches Betätigungsfeld war der heitere Spiel- und Musikfilm in seinen verschiedensten Ausprägungen. Nach 1960 allerdings schrieben sie auch zunehmend für andere Filmgenres wie Gegenwarts-, Kriminal- und Kinderfilm, die bis dahin die Domäne der Filmsymphoniker gewesen waren.

Einige Popmusiker wie z. B. Günther Fischer, die als Inhaber von Videotechnik, live-elektronischem Instrumentarium und eigenem Aufnahmestudio als erste über die Möglichkeit verfügten, anstelle von Partituren sende- und mischfähige Musikbänder abliefern zu können, traten seit den 1970er Jahren in den Vordergrund.

In der Endphase der DEFA wurde 1991/92 mit der Musikerin und Regisseurin Simone Danaylowa die einzige Komponistin für zwei Spielfilme tätig.

 

IV Umbruch und Kontinuität. Die antifaschistisch-demokratische Phase von 1946 bis 1949

Da die Komponisten der ‚ersten Stunde‘ vor 1945/46 Stil und Dramaturgie der UFA-Filmmusik mitgeprägt hatten, setzt die frühe DEFA-Musik diese Tradition zunächst fort. Allerdings war die vorherrschende orchestrale Begleitmusik, wie sie auch die expressive neoromantische Partitur von Ernst Roters zum ersten Spielfilm der DEFA Die Mörder sind unter uns (1946) repräsentiert,8Vgl. Wolfgang Thiel: Ernst Roters. Die Mörder sind unter uns, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 183–187. selbst in den Endvierzigerjahren stilistisch kein monolithischer Block. So schuf Herbert Trantow zur Verfilmung des Dramenfragments von Georg Büchner, Wozzeck (1947), eine Partitur, die in ihren Gesten und Stilelementen vorwiegend expressionistisch-atonal konzipiert ist. Dass hier eine der wenigen künstlerisch herausragenden Partituren aus den Anfangsjahren der DEFA entstanden war, blieb sogar der Presse nicht verborgen. So konnte man anlässlich der Premiere des Films Wozzeck in der Berliner Zeitung vom 19. 12. 1947 lesen: „Eine besondere Hervorhebung verdient die Musik Herbert Trantows: … [eine] der dichtesten, angeschmiegtesten und zugleich durchaus originellsten Leistungen dieses Genres, das von soviel Unberufenen beackert wird.“ Trantows melodramatisch düstere Musik unterstreicht den von der Regie beabsichtigten dämonischen Zug der Hauptgestalt. In der Kirmes-Szene gibt es Verbindungen zu Strawinskys Jahrmarktsmusik aus Petruschka wie auch in der Wirtshaus-Szene eine bitonal verfremdete Tanzmusik, die an eine analoge Situation in Alban Bergs Oper Wozzeck erinnert. Im Kriminalfilm Affaire Blum (1948) beschränkte sich der Komponist in Abkehr von den Konventionen einer Kriminalfilmmusik und den seinerzeit üppigen Musikkulissen auf wenige Einsätze und schrieb für jene Szenen, die mit dokumentarischem Filmmaterial und Zeitungsschlagzeilen montiert sind, unter starker Beteiligung des Xylophons eine motorische, dissonante Schlaglichter setzende Musik. Erwähnenswert ist auch die fernab der damals gängigen Filmsymphonik gestaltete Vorspannmusik. Nach einer aufsteigenden Reihe von Quarten erklingt eine melodisch herbe Musik in den Streichern, die in ihrer Ästhetik anti-romantisch ist und in harmonischer sowie stilistischer Hinsicht an Quartharmonik und freitonale Polyphonie der 1920er Jahre anknüpft.

V Das stalinistisch geprägte Jahrfünft von 1950 bis 1954

Das kulturelle Klima in der 1949 gegründeten DDR war im Gegensatz zu der voraufgegangenen antifaschistisch-demokratisch orientierten Kulturpolitik in der SBZ gekennzeichnet von wachsender Einflussnahme der Partei, heftigem Antiamerikanismus und einem kleinbürgerlichen Kunst- und Kulturbegriff, der sich als Regulativ der Prinzipien des Sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung bediente.9Die Schärfe der Auseinandersetzung dokumentieren vor dem Hintergrund des Kalten Krieges entstandene musikästhetische Pamphlete, in denen sich sowjetische und ostdeutsche Autoren im Gefolge von Andrej Shdanows dogmatischen Kunsttheorien in ihrer Wertung und Argumentation eines Vokabulars bedienten, das auch aus einer Nazi-Schmähschrift gegen die ‚Entartete Musik‘ hätte stammen können. Siehe: W. Gorodinski: Geistige Armut in der Musik, Halle (Saale) 1953 (= Musik und Zeit 5). Unter dem Schlagwort eines anzustrebenden „Aufschwung[s] der fortschrittlichen deutschen Filmkunst“ versuchte die Staats- und Parteiführung der DDR zunehmend, der Filmproduktion „die Erziehung der arbeitenden Massen im Geiste des Sozialismus“10Hier zit. n.: Kleine Enzyklopädie Film, Leipzig 1966, 432. zu übertragen. Diese Resolution des Politbüros des ZK der SED vom Juli 1952 wurde in der Folgezeit zur Kapitulationsurkunde der Kunst vor der Agitation. Die Konsequenzen waren eine zunehmende Dominanz konventioneller und plakativer Filme ohne Raum für künstlerische Experimente, da die zumeist rigid konservativen Forderungen der Kulturfunktionäre die Oberhand behielten. Dies hemmte in diesen Jahren auch die Entwicklung der Filmmusik, deren epigonale spätromantische Tradition lediglich durch Einflüsse der sowjetischen Filmsymphonik und des Massenliedes ‚eingefärbt‘ wurde.

Als Hanns Eisler 1949 nach seiner unfreiwilligen Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil im Ost-Berliner Henschel-Verlag das gemeinsam mit Theodor W. Adorno verfasste Büchlein Komposition für den Film unter seinem Namen und in veränderter Fassung herausbrachte, wurde diese Schrift mit ihrer rhetorisch glänzenden Kritik an Hollywoods Filmmusikmanufaktur und ihrem Plädoyer für eine sachlich geplante, intelligente Lichtspielmusik unter den Babelsberger Filmmusikern kaum diskutiert.

Zwar gehören Eislers Orchesterpartituren zu Unser täglich Brot (1949) und Der Rat der Götter (1950), zu den wenigen herausragenden DEFA-Filmkompositionen dieser Jahre. Aber gemessen an Eislers experimentellen Vorkriegsarbeiten zeigen sie eine weitaus verbindlichere Tonsprache, die sowohl mit seinen Hollywood-Erfahrungen als auch mit der damaligen kulturpolitischen Situation im Zusammenhang steht.11S. Wolfgang Thiel: Modern und volkstümlich zugleich? Hanns Eislers Spielfilmmusiken nach 1948, in: Maren Köster im Auftrag der Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Hanns Eisler. ’s müßt dem Himmel Höllenangst werden, Hofheim 1998 (= Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts 3), 85–100.

Der Film Der Rat der Götter ist in seinem heftigen Antiamerikanismus und vor allem in den propagandistisch gestalteten Schlussszenen stark vom stalinistischen Ungeist und der Atmosphäre des Kalten Krieges geprägt. Eislers Arbeit an diesem Film, die nach eigener Aussage „große Mühe gemacht“ hat, fällt in eine Schaffensperiode, in der er nach einer neuen, klassizistischen Einfachheit seiner Tonsprache strebte. Dies stand im Zusammenhang mit seiner ästhetischen und kulturpolitischen Maxime, für unerfahrene Hörer, die den Sozialismus in der DDR aufbauen sollen, „leichte Faßlichkeit mit neuen Mitteln“ zu erzielen. So trennte er bewusst zwischen Material und Verfahrensweise und schrieb eine tonale, im Melodischen auch des Öfteren diatonische Orchestermusik.

In diesem Film beschäftigte sich Eisler das letzte Mal mit der Verwendung elektronischer Musikinstrumente. Für ihn verband sich elektronische Musik assoziativ mit gesellschaftlicher Kälte und Unmenschlichkeit. So holte er sich den in Berlin lebenden Oskar Sala und dessen Mixturtrautonium ins Studio. Die kalten Klänge dieses eigentümlichen Instruments lassen gleich zu Beginn der Vorspann-Toccata, einem etüdenartig angelegten Stück, aufhorchen. Im weiteren Filmverlauf werden die fahlen, gespenstigen Klänge dokumentarisches Bildmaterial von der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg begleiten. Aber die Final-Gestaltung des Films zeigt auch ein Indiz für das Scheitern von Eislers ästhetisch-sozialem Experiment einer zugleich modernen wie fasslichen Sinfonik, denn zu den Schlussszenen mit verschiedenen Demonstrationszügen „für Frieden und Fortschritt“ erklingt nicht seine Musik, sondern ein Ausschnitt aus Tschaikowskis Fünfter Sinfonie. Benutzt wurde die triumphalische Marschmelodie aus dem Finalsatz. Eine solche Finallösung konnte nicht im Sinne Eislers sein. Hatte er doch im Vorgängerfilm Unser täglich Brot die Schlussszene noch mit eigenen musikalischen Mitteln gestalten können.12Vgl. Guido Heldt: Hanns Eisler. Der Rat der Götter, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 192–197. Erst 1957 gelang Eisler in der französisch-ostdeutschen Koproduktion Die Hexen von Salem ein künstlerischer Neuansatz. Zu diesem düsteren Drama nach einem Drehbuch von Jean Paul Sartre schrieb er eine kraftvolle und inspirierte Musik, die in souverän gehandhabter freier Tonalität sehr differenziert gearbeitet ist. Nur an wenigen Höhepunkten setzt er das volle Orchester ein. Kammermusikalisch ziselierte Partien mit kontrapunktischer Festigung der Binnenstruktur überwiegen.

Da es jedoch in der DEFA in den politisch als ideologierelevant eingeschätzten Produktionen hauptsächlich um Filme ging, die sich nicht an einen kritisch rezipierenden und selbständig urteilenden Zuschauer wandten, sondern die mit melodramatisch gestalteten Konflikten und pathetischen Finallösungen politische Leitartikel bebilderten, waren alte oder neue Vertreter einer pastosen Filmsymphonik wie Wilhelm Neef gefragt, der in den beiden Thälmann-Filmen von 1954/55 die emotional suggestiven Ausdruckstopoi der spätromantischen Musik für heroisierende Monumente einsetzte.

Zu den fruchtbarsten Filmkomponisten dieser Jahre gehörte Joachim Werzlau (1913–2001), der als erster Nachwuchsautor der DEFA über Hörspielmusiken und Massenlieder zum Film kam. Werzlau sah sein großes stilistisches Vorbild in der sowjetischen Kinomusik mit ihrer pathetischen Sinfonik sowie den Einsatz eines Liedes als dramaturgischen Dreh- und Angelpunkt. Beispiele dieser Bestrebungen sind seine Musik für den aktionsreich inszenierten Märchenfilm Der Teufel vom Mühlberg (1955), der auch modal harmonisierte Tänze und zeittypische Chorszenen im folkloristisch orientierten Kantaten-Stil der 1950er Jahre enthält; sowie die mit einer Partitur von 245 Seiten nahezu durchkomponierte Musik für Konrad Wolfs Streifen Genesung (1956). Dieser Film zeigt sowohl stilistisch als auch musikdramaturgisch den stärksten Einfluss der damaligen sowjetischen Filmsymphonik.

Den musikalischen Kern bilden zwei Lieder, die symbolisch für die beiden Hauptakteure stehen: das Matrosenlied für Solo und Chor zur Kennzeichnung der kommunistischen Ideale und der Song Ich komm zu dir als Sonntagskind, der die Unverbindlichkeit eines bürgerlichen Individualisten charakterisieren soll. In späteren Jahren – genannt seien Filme wie Lissy (1957), Fünf Patronenhülsen (1960), Königskinder (1962) oder die Komödie Karbid und Sauerampfer (1963) – wird Werzlaus Musik in Ausdruck und formaler Gestaltung thematisch verbindlicher, differenzierter, konziser. In den Filmen Lissy und Fünf Patronenhülsen nahm er Abschied vom standardisierten Studio-Orchester und benutzte von da an ein Auswahlinstrumentarium, das vom Sujet und der Mis-en-scène des jeweiligen Films geprägt ist. Lissy (nach einem Roman von F. C. Weiskopf) führt in die Weimarer Republik am Vorabend des ‚Dritten Reiches‘. Die von Werzlau „gewählte leise Titelmelodie in b-Moll, die zu Beginn des Films von einer Posaune gespielt, von ebenso ‚schiefen‘ Klavierakkorden begleitet dann immer wieder ziellos um den Grundton herumkreist, artikuliert die innere Zerrissenheit der Charaktere, die in ihrer misslichen Lage dazu verdammt sind, falsch zu handeln“.13Denis Newiak: Joachim Werzlau. Lissy, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 202–207, 205. Der Spanien-Film Fünf Patronenhülsen beginnt mit dem Solo einer Blockflöte. Es folgen hart akzentuierende Gitarrenakkorde, ein martialischer Trommelrhythmus und ein Trompetensignal als Introduktion zum Lied von der Jarama-Front, gesungen von Ernst Busch.

 

VI Unterschiedliche Ansätze zu einem musikdramaturgischen und -stilistischen Wandel in den Jahren 1955 bis 1960

Seit Mitte der fünfziger Jahre wurde im DEFA-Spielfilm personell und stilistisch eine musikalische Verjüngung spürbar. Die Impulse gingen hauptsächlich von musikalischen Vertretern der Brechtschen Theaterästhetik wie beispielsweise Kurt Schwaen und Meisterschülern Hanns Eislers sowie von innovativen Regisseuren wie Heiner Carow, Gerhard Klein und Konrad Wolf aus. So begann in der DEFA-Spielfilmmusik trotz aller ideologischen und kulturpolitischen Indoktrination eine interessante Entwicklung neuer musikdramaturgischer Ansätze. Kurt Schwaen (1909–2007) gehört neben Asriel, Bredemeyer und Hosalla zu jenen wenigen Komponisten, die in den Endfünfziger Jahren Brechts Konzeption über die Verwendung von Musik für ein episches Theater als Ausgangspunkt ihrer filmmusikalischen Arbeit wählten. Als Autor von Bühnenmusiken für das Berliner Ensemble hatte sich Schwaen noch unter der Ägide Brechts jenes Ideal einer ‚gestischen Musik‘ zu eigen gemacht, bei dem es um die Transparenz von gesellschaftlich typischen und sozialhistorisch bedeutsamen menschlichen Haltungen geht.14Vgl. Wolfgang Thiel: Gestische Filmmusik – Kurt Schwaens Kompositionen für das Kino, in: Peter Schweinhardt (Hg.), Kurt Schwaen zum 90. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2000 (= Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft 7), 6–77. In seinen Partituren zu den Filmen Sie nannten ihn Amigo (1959) und Der Fall Gleiwitz (1961)15Wolfgang Thiel: Kurt Schwaen. Der Fall Gleiwitz, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 211–215. sind diese ästhetischen Maximen sowie Hanns Eislers Forderung nach einer dramaturgisch emanzipierten Filmmusik verwirklicht worden. Illustrative Tonmalereien und psychologisierende Musikeinsätze fehlen gänzlich. Vielmehr steuert Schwaen mit einer hauptsächlich kommentierenden Musik seine Lesart der Vorgänge bei. Musik fungiert somit als dramaturgisches Mittel, um den Zuschauer hinter die Oberfläche der Bilder zu führen, um den politischen Untertext einer Bildaussage (wie beispielsweise in den Expositionssequenzen von Amigo und Der Fall Gleiwitz) transparent werden zu lassen. Dies geschieht auch in jener Szene aus Amigo, in der eine Knabenstimme, begleitet von Holzbläsern, das bekannte und speziell für diesen Film geschriebene Lied Wer möchte nicht im Leben bleiben, singt.

Die von Lebenswillen und Lebenssehnsucht erzählenden Verse und die schlichte, volksliedhafte Melodie verweisen im Kontext mit den spielenden Kindern im tristen Hinterhofmilieu des Sommers 1939 auf gesellschaftlich verwehrte und verschüttete Möglichkeiten „dieser reichen, bunten Welt“.

Hans-Dieter Hosalla, der als Hauskomponist am Berliner Ensemble tätig war, schrieb ebenfalls einige Filmmusiken, welche die Bildaussage im Sinne Brechts ‚gestisch‘ kommentieren. Genannt seien die durchkomponierte satirische Filmpantomime Der junge Engländer (1958) und die mit harten Klängen knapp gefasste Musik zu Professor Mamlock (1961). Weitere Filmmusiken zeigen melodiegeprägte Strukturen wie die Variationen über die Volksweise Ich hab’ die Nacht geträumet für Saxophon und Gitarre aus der Literaturverfilmung Der geteilte Himmel (1964) oder eine sangbare Melodie für das Saxophon in dem Kriminalfilm Leichensache Zernik (1972). Rhythmus und Begleitung orientieren sich oft an tanzmusikalischen Mustern oder am Jazz. Vorherrschend sind die klangliche Transparenz kleiner Besetzungen und die Bevorzugung perkussiver Sonorität. In Leichensache Zernik erklingt eine Solo-Violine, die von harten Einwürfen des Xylophons sekundiert wird. Aparte klangliche Mischungen entstehen oftmals unter Hinzuziehung des Cembalos oder einer Elektrogitarre.

Gerhard Wohlgemuth (1920–2001) stellte nach anmutigen Kinderfilmmusiken (darunter das musikalische Märchen Rotkäppchen, 1962) sein dramatisches Talent mit der Musik für den Film Die Abenteuer des Werner Holt (1965) und seiner motivisch konsequent gearbeiteten Partitur zu Die Toten bleiben jung (1969) eindrucksvoll unter Beweis. Zudem zeigt Wohlgemuth in mehreren Filmmusiken eine Vorliebe für die Klangfarbe der Gitarre. In den Abenteuern des Werner Holt werden Dialogszenen oftmals solistisch von der Gitarre begleitet. Und auf der Party einer SS-Offiziersfrau erklingt als gewissermaßen ‚verlogene Klangfarbe‘ eine Hawaii-Gitarre. Auch in dem Kriegsfilm Das Tal der Monde (1967) beginnt eine Solo-Gitarre mit einem ostinat eingesetzten Fünfton-Motiv, bevor eine elegische Englischhorn-Melodie mit Orchesterbegleitung und der Gitarre als Nebenstimme bei einem Schwenk über die Landschaft der Beskiden einsetzt.

In den Endfünfziger Jahren mehren sich die Beispiele, in denen (auch jenseits vom ausgesprochenen Unterhaltungsfilm mit seiner Schlagermusik) die orchestralen Konventionen durchbrochen werden. Es überrascht hierbei nicht, dass solche Bestrebungen mit speziellen filmischen korrespondieren. So greift Günther Kleins Film Berlin-Ecke Schönhauser (1957) mit der Musik von Günter Klück (1915–1987) Anregungen des italienischen Neorealismus auf. Die ungeschminkte Darstellung des ‚Halbstarken‘-Milieus und Ostberliner Lokalkolorits beeinflusste die Musikdramaturgie in Richtung Sparsamkeit des Einsatzes von Musik und dem Zurückdrängen der üblichen Filmsymphonik.16Jean Martin: Günter Klück. Berlin – Ecke Schönhauser, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 207–211, 207.

Bis Anfang der 1960er Jahre spielte in den DEFA-Filmen der Jazz und seine kommerziellen Derivate eine marginale Rolle. Seine Aufgabe war es, die Kulturdekadenz des Westens vorzuführen oder Vertreter des US-amerikanischen Imperialismus musikalisch zu kennzeichnen. So kontrastieren im Film Frauenschicksale (1952) Bilder einer wüsten Rock ’n’ Roll -Orgie in einem Westberliner Tanzlokal mit jenen einer Fabrikszene aus einem Ostberliner Stahlwerk, der als musikalische Alternative ein in Wohlklang gehülltes (Kinder-)Lied vom Glück (Text: B. Brecht/Musik: H. Eisler) unterlegt ist.17S. auch Wolfgang Thiel: Modern und volkstümlich zugleich? Hanns Eislers Spielfilmmusiken nach 1948, in: Maren Köster im Auftrag der Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Hanns Eisler. ’s müßt dem Himmel Höllenangst werden, Hofheim 1998 (= Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts 3), 85–100, 89. Und noch 1958 setzt die musikalische Dramaturgie des Films Ein Mädchen von 161/2 auf negative Konnotationen von hektischer, grell instrumentierter und harmonisch scharfer Boogie- und Rock ’n’ Roll-Musik als Kennzeichen westlicher Dekadenz. Auf Dauer konnte man sich jedoch in der Kulturpolitik dem Phänomen des Jazz nicht gänzlich entziehen und ihn auch nicht nur zur negativen Kennzeichnung des Klassenfeindes verwenden. Zu groß waren seine Anziehungskraft und sein Identifikationspotential für viele junge Menschen in der DDR.

 

VII Neue Sounds und filmmusikalische Konzeptionen in den 1960er Jahren

Nach Aussagen der Meisterschüler von Hanns Eisler wurde in dessen Unterricht auch Bezug auf das Buch Komposition für den Film genommen. Einige kompositionsästhetische und dramaturgische Postulate dieser Schrift – weniger eine Nachahmung seiner Stilistik – prägten das filmmusikalische Schaffen von Komponisten wie Asriel, Kochan, Rosenfeld, Matthus oder Katzer. In seinem Bestreben, einen neuen Ton in die DEFA-Filmmusik einzubringen, setzte der seinerzeit vielgespielte Sinfoniker Günter Kochan (1930–2009) in vergessenen Filmen wie Einmal ist keinmal (1955), Bärenburger Schnurre (1956) oder Hochzeit auf Länneken (1963) auf die Frische und clarité neoklassizistischer Stilmittel. Des Weiteren versuchte er die fest gebauten Stücke seiner Filmmusiken als Quelle für neue Konzertstücke der gehobenen Unterhaltungsmusik zu nutzen. Aber diese Bemühungen versandeten wie auch im Falle der Suite aus dem hölzern inszenierten Film Italienisches Capriccio aus dem Jahre 1961. In seiner filmmusikalischen Arbeit bevorzugte Gerhard Rosenfeld (1931–2003), der durch ein Violinkonzert und seine Opern bekanntgewordenen war, kammermusikalische Besetzungen, oft in delikaten Klangmischungen mit seinem Lieblingsinstrument, der Oboe; wie z. B. die Oboe-Harfe-Passagen in dem Film Unser kurzes Leben (1981). Elektronische Musik (produziert im Prager Barandov-Studio) verwendete er im Georg Büchner-Biopic Addio, piccola mia (1979). Der Unterricht bei Hanns Eisler prägte seine „Haltung zu Fragen der Musik in Verbindung mit dem Film … Es geht mir dabei um eine logische dramaturgische Funktion der Musik, die sich aller Mittel bedient, die die zeitgenössische Kompositionstechnik zur Verfügung stellt“.18Gerhard Rosenfeld: Dank an Eisler, in: Arbeitsheft 19 der Akademie der Künste der DDR, Berlin 1974, 209. Diese Maximen sah Rosenfeld in seiner Musik zum Film Leben mit Uwe (1974) verwirklicht.19Dieter Wiedemann: Gerhard Rosenfeld. Leben mit Uwe, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 238–241. Der vielschichtigen Struktur dieses Films mit seinen Rückblenden, Träumen und Erinnerungen entspricht ein musikalisches Geschehen, das sich „auf drei Ort-Zeit-Ebenen“ bezieht. „Ein markantes Dreitonmotiv der Oboe ist mit Retrospektiven gekoppelt, ein tänzerisches Oboenthema mit Szenen der Gegenwart. Die Träume und Visionen als dritte Ebene sind davon musikalisch unterschiedlich gestaltet.“20Vera Grützner: Traditionen, Stationen und Tendenzen der Filmmusikdramaturgie, aufgezeigt anhand von Spielfilmen des DEFA-Studios für Spielfilme. Ein Beitrag zum Filmmusikschaffen in der DDR, Phil. Diss., Halle-Wittenberg 1975, 78.

In den Filmkompositionen von Andre Asriel (1922–2019) wird das Bestreben erkennbar, mit einem Minimum an äußerem Aufwand maximale dramaturgische Wirkungen zu erzielen. Seine Vorliebe für charakterisierende Soloinstrumente und kontrapunktische Strenge zeigen beispielsweise die Orgel- und Akkordeon-Musik im Barlach-Film Der verlorene Engel; seine Affinität zu musikalischer Ironie und zum traditionellen Jazz hingegen die Manfred-Krug-Filme Auf der Sonnenseite oder Mir nach, Canaillen! (1964) mit ihren witzigen Genre- und Stilzitaten. Hanns Eislers filmmusikalische Forderung nach einer trotz dramaturgischer Funktionserfüllung möglichst autonomen Struktur der eingesetzten Stücke äußert sich in Asriels Filmpartituren im kompositorischen Ehrgeiz, in festen, traditionellen, oft kontrapunktisch geprägten Formen zu arbeiten. Der von Ralf Kirsten inszenierte Spielfilm über Ernst Barlachs Verlorenen Engel im Dom zu Güstrow war – wie viele Filme seines Jahrgangs – 1966 dem 11. Plenum des ZK der SED zum Opfer gefallen. Erst nach Kürzungen und Veränderungen des als zu ‚subjektivistisch‘ eingestuften Films kam dieser schließlich 1971 mit nur fünf Kopien in Filmclubs und speziellen Filmtheatern zum Einsatz. Neben den ikonografischen Qualitäten und der Schauspielkunst (u. a. mit Fred Düren in der Hauptrolle) ist des Weiteren bemerkenswert, wie konzeptionell durchdacht und sparsam die einzelnen akustischen Komponenten als integrierte Bestandteile der Fabelerzählung eingesetzt worden sind. Asriel gelang eine Filmmusik im Geiste seines Lehrers Hanns Eisler, ohne diesen stilistisch nachzuahmen. Vielmehr näherte er sich dem postulierten Ideal einer intelligent geplanten Komposition für den Film, die trotz funktionaler Eignung strukturelle Autonomie anstrebt. Dahinter steht das dramaturgische Modell einer Filmmusik, die nicht bloß Stimmungen und Emotionen verstärkt, sondern an die Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit der Sinne appelliert. Es gibt keine musikuntermalten Dialoge. Die eingesetzte Musik steht fast immer frei. Asriel schrieb für zwei Instrumente; für eine große Kirchenorgel und für ein Akkordeon, das er als plebejischen Verwandten der Orgel betrachtete. Für die Orgel komponierte er eine Toccata und Fuge in freier Anwendung der Zwölftontechnik. Von den schroffen Klängen der Orgelmusik mit ihren dissonanten Aufschreien geht etwas Bedrohliches aus, das in den Aktionen der Nazis (wie dem Raub des Engels und dem Abbruch verschiedener Weltkriegs-Ehrenmale) seine konkrete Ursache hat. Der Tritonus als ‚diabolus in musica‘ bildet das vorherrschende motivische Element. Charakteristisch sind auch schnelle motorische Bewegungen, die in Klangflächen aus Sekundclustern erstarren. Hingegen verweist die herbe Poesie des lyrischen, folkloristisch gefärbten Akkordeonspiels, das auf den Spaziergängen Barlachs oder in seinem Atelier beim Blick auf die Skulpturen erklingt, auf ein anderes, besseres Deutschland.

Nachdem Anfang der 1960er Jahre die generelle ideologische Ächtung des Jazz als einem gefährlichen Element US-imperialistischer Kulturdekadenz aufgehoben worden war, erschien den Dramaturgen und Regisseuren der ‚happy sound‘ des Dixieland sowie Combo- und Bigbandmusik im Swing-Stil sehr geeignet für die Darstellung von Lebensfreude und Optimismus im sozialistischen Arbeitsalltag.21Beispielsweise wird noch 1978 in dem Film „Anton der Zauberer“ (MU: Wolfram Heicking), dessen Soundtrack musikalisch ein Mixtum compositum aus Opernarien, Volkslied und Song sowie Marschmusik, Tango, Streichquartett- und Blaskapellen-Sound ist, das junge Eheglück von Liesel und Anton in der DDR durch flotte Dixieland-Klänge begleitet.

Den Durchbruch brachte der Film Auf der Sonnenseite, eine Gegenwartskomödie von Ralf Kirsten aus dem Jahre 1961 mit Manfred Krug in einer autobiografisch gefärbten Titelrolle. Dass die Wahl auf den Komponisten Andre Asriel fiel, war in mancherlei Hinsicht naheliegend. Jazzmusik hatte Asriel seit seiner Londoner Emigrationszeit fasziniert und in zunehmendem Maße zur kompositorischen Gestaltung angeregt. Die in diesem Film fast ausschließlich diegetisch eingesetzte Musik entstand in Zusammenarbeit mit den Jazz Optimisten Berlin, einer der ersten Amateur-Dixieland-Bands.

Auch Günter Hauk (1932–1979) arbeitete in seinen zahlreichen Filmmusiken gelegentlich mit Jazz-Elementen wie zum Beispiel in der Titelmusik des Spionagefilms For Eyes Only aus dem Jahre 1963, die eine gewisse Rundfunkpopularität erlangte.

Jazzorientierte Filmpartituren jenseits von Dixieland und Swing gibt es für Kino- und Fernsehen der DDR erst seit den 1970er Jahren in Filmen mit Fabeln, welche (tiefen-)psychologische Erkundungen und soziale Sondierungen mit kritischen Ansätzen enthalten. Aus dem Lager der Avantgarde kommt Georg Katzer (1935–2019), der erfolgreich als Opern- und Ballettkomponist hervorgetreten war. 1974 entstand seine Musik zum dreiteiligen Fernsehfilm Spätsaison. Durch ein in seinen melodisch-harmonischen Intonationen dem Cool Jazz verwandtes, betont lineares Musizieren mit einem speziell zusammengestellten Kammerensemble entstand im Verein mit einem lyrischen Klaviermotiv ein recht eigenwilliges, teils sprödes, teils sinnlich aufblühendes Klangbild, das die nachdenkliche, elegisch-herbstliche Grundstimmung des Films über zwei Menschen in einer Lebenskrise widerspiegelt.

Vertreter einer heiteren Filmmusik sind Gerd Natschinski (1928–2015), Wolfram Heicking (* 1927) mit Hochzeitsnacht im Regen (1966) und Conny Odd (Carlernst Ortwein 1916–1986) mit dem Musical Geliebte weiße Maus (1964)22Wolfgang Thiel: Versuch eines Filmmusicals, in: Filmblatt 66/68, Potsdam 2019, 87–97..

Aus den 1970er Jahren seien Reinhard Lakomy (1946–2013) mit seiner Musik zur Filmsatire Nelken in Aspik (1976) genannt sowie der vom Jazz herkommende, aber je nach dramaturgischem Erfordernis stilistisch sehr vielfältig arbeitende Peter Rabenalt (* 1937) mit Kinder- und Märchenfilmen (Sechse kommen durch die Welt; 1972), einer düsteren sonoristisch konzipierten Musik zum antifaschistischen Drama Dein unbekannter Bruder (1982) und einem an Modelle der Berlinischen Operettenmusik anknüpfenden originalen Filmmusical Zille und ick (1983) genannt. Karl-Ernst Sasse übernahm als Musikberater für den Film Der Dritte (1972) einen vom Klang des Vibraphons geprägten Swing-Waltz von Peter Rabenalt, den dieser ursprünglich für den 1965 verbotenen Film Fräulein Schmetterling geschrieben hatte. Gerd Natschinski besticht in Filmen wie Carola Lamberti – Eine vom Zirkus aus dem Jahre 1954 (mit einem seinerzeit recht bekannten „Viola“-Walzer im Mantovani-Stil) oder in Komödien und Musikfilmen wie Meine Frau macht Musik (1958)23Wolfgang Thiel: Vom schweren Leben der Leichten Muse, in: Filmblatt 57, 17–27., Der Mann mit dem Objektiv (1961) oder Heißer Sommer (1968) durch einprägsame Melodik, modische Rhythmen, abwechslungsreiche Harmonik und farbige Instrumentation. Die für das Unterhaltungskino entstandenen Chansons und Schlagerlieder blieben meist kurzlebige Songs ohne (Nach-)Wirkung. Dies gilt auch für die Verwendung von Popmusik. Eine Ausnahme bilden die von Peter Gotthardt (* 1941) geschriebenen Rockballaden Wenn ein Mensch lebt und Geh zu ihr für den Film Die Legende von Paul und Paula (1973). Sie sind in der Interpretation durch die damals am Anfang ihrer Karriere stehende Rockband der Puhdys bis in die Gegenwart lebendig geblieben, da diese Songs für das Lebensgefühl der betreffenden Generation in den 1970er Jahren nach wie vor nostalgisch identitätsstiftend sind.

 

VIII Das Intermezzo der ‚Neuen Musik‘ im DEFA-Spielfilm und die politisch geforderte Dominanz der Unterhaltung in den 1970er und 1980er Jahren

Charakteristisch für die 1970er Jahre war die Bereitschaft progressiver Regisseure, Avantgarde-Komponisten, die noch über keine Erfahrung im Metier verfügten, die Chance des filmmusikalischen Debüts zu geben.

Und so schrieben namhafte Vertreter zeitgenössischer Musik wie Friedrich Goldmann und Siegfried Matthus, Reiner Bredemeyer und Georg Katzer (Hölderlin-Biopic Hälfte des Lebens, 1985; Fernsehfilm Stella 1982)24Vgl. Wolfgang Thiel: Nebenschauplatz Filmmusik – Georg Katzers Kompositionen für Film und Fernsehen, in: Musik der DDR? – Komponieren im real existierenden Sozialismus, München 2022, 95–106. in der Folgezeit Partituren für Kino- und Fernsehfilme, die auf Grund ihrer persönlichen Eigenart und Qualität aus dem Gros der Durchschnittsproduktion herausragten. Für eine kurze Zeit wurde die stets brüchige Verbindung von Filmmusik und zeitgenössischer Tonkunst in einigen Filmen hergestellt.

Die wenigen für das Kino komponierenden Vertreter der zeitgenössischen Kunstmusik sahen in den neuen Medien auch die Möglichkeit, moderne Kompositionstechniken und innovative Klangkonzepte, partiell spartenübergreifender Art, erproben zu können.

Friedrich Goldmann (1941–2009) schrieb 1975 und 1983 die Musik zu zwei Filmen von Rainer Simon: Till Eulenspiegel und Das Luftschiff. In dem Film Till unterstreicht der Komponist mit seiner aleatorisch-sonoristischen, unter anderem auch neue Spielweisen einbeziehenden Musik wirkungsvoll die Irrealität und den Parabelcharakter der gezeigten Vorgänge. Hierbei werden die derben Streiche des Till musikalisch nicht karikierend verstärkt, sondern die klanglich ungewöhnliche und provozierende Musik regt die Zuschauer eher zum Nachdenken an.

Bei seiner Mitarbeit an Egon Günthers Film Die Leiden des jungen Werthers aus dem Jahre 1976 wählte Siegfried Matthus (1934–2021) eine kompositorische Verfahrensweise, wie sie ein Jahrzehnt vorher bereits Asriel zum Barlach-Film angewandt hatte. Der Filmmusik liegt ein stark gegliedertes Orchesterstück zugrunde, dem der Komponist den Titel Werther. Musikalische Metaphern nach Goethes Roman gab. Auffällige Gestaltungselemente bilden Signalmotive des ‚gestopften‘ Horns, die heftig niederfahrende Geste des Solo-Cellos unter Einbeziehung von Vierteltönen sowie irisierende Klangflächen der Streicher und Bläser, die teils aleatorisch organisiert, teils als dichtes Geflecht imitierender Stimmen notiert sind.25Robert Rabenalt: Siegfried Matthus. Die Leiden des jungen Werthers, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 246–250. Ein Hauptproblem dieser Verfahrensweise liegt darin, dass durch die dem Regisseur überantwortete Auswahl von Fragmenten sowie durch die Hinzunahme und Mischung von Sprache und Geräuschen eine solche autonom konzipierte Musik nur teilweise dramaturgisch effektiv funktioniert und zudem in ihrer Struktur beschädigt wird. Reiner Bredemeyer (1929–1995) arbeitete neben seinem Bühnen- und kammermusikalischen Schaffen im filmischen Bereich hauptsächlich für den Dokumentarfilm.26Vgl. Wolfgang Thiel: Reiner Bredemeyers Film- und Fernsehmusiken, in: MuG 23 (1973), 648–653. Von seinen wenigen Spielfilmmusiken seien Jadup und Boel (1980–1988) und Die Frau und Fremde (1984) genannt. Für beide Filme komponierte Bredemeyer eine freitonale, aphoristisch strukturierte Kammermusik; im erstgenannten Film bestimmen Gitarren- und Oboen-Soli das klangliche Geschehen; im zweiten eine warme Violoncello-Kantilene über Klangflächen der Holzbläser.

Kurz vor der politischen Wende trat Ralf Hoyer (* 1950)27Ehemaliger Meisterschüler von Georg Katzer und Ruth Zechlin., der bis dahin vornehmlich auf den Gebieten der Schauspielmusik, szenischen Kammermusik sowie der elektronischen Musik gearbeitet hatte, als Filmkomponist auf den Plan. Der junge Regisseur Jürgen Brauer verpflichtete ihn für seine Filme Das Herz des Piraten (1988), Sehnsucht (1989) und Tanz auf der Kippe (1991), letzterer mit interessanten musikalischen Montage- und Collage-Strukturen. Zu nennen sind auch Rainer Böhm (1952–2013)28Von 1976 bis 1979 war er Meisterschüler von Ruth Zechlin an der Akademie der Künste der DDR. mit seiner Bläsermusik zu Mama, ich lebe (1977), in der er die Flöte als solistisches Instrument mit modernen Spieltechniken, u. a. in einer Liebesszene, verwendet oder für den gesellschaftskritischen Kriminalfilm Die Beteiligten von 1988 eine spröde Kammermusik schreibt; sowie Stefan Carow (* 1957), der in Filmen wie Gritta von Rattenzuhausbeiuns (1985), So viele Träume (1986) oder Coming Out (1989)29Vgl. Nina Noeske: Musikalische Konstellationen im DEFA-Film Coming Out (1989), in: Musiktheorie 37 (2022), 241–250. moderne Orchester- und Kammermusik-Sounds einfallsreich einsetzt. Den mit phantastischen Elementen gestalteten Kinderfilm über die Geschichte der dreizehnjährigen Hochgräfin Gritta stattete er mit einer farbenreich instrumentierten Orchesterpartitur aus, die tonale und freitonale sowie sonoristische und aleatorische Gestaltungsmittel expressiv einbezieht und im Lyrischen einen aparten modernen ‚Märchenton‘ erklingen lässt.

Für einen Spielfilm über Alexander von Humboldt Die Ersteigung des Chimborazo (1989) schrieb der 1958 in Leipzig geborene Schriftsteller, Zeichner und Komponist Robert Linke eine überwiegend atonale, diffus tönende Orchestersonoristik. Aber auch eine formal strenge Streichermusik mit thematischen Andeutungen ist in einer Szene am Meer zu hören.

Eine späte Episode blieb die Mitwirkung des Avantgardekomponisten Friedrich Schenker (1942–2013) mit seiner einzigen, von düsteren Klangblöcken geprägten Filmmusik zu Der Fall Ö. (1991).

 

IX Spezialisten und Eklektiker

Diese progressiven stilistischen und musikdramaturgischen Erneuerungsbestrebungen wurden gegen Ende des Jahrzehnts durch eine teils auf ideologische Beeinflussung, teils auf bloßes Massenamüsement setzende Kulturpolitik untergraben. In den letzten Jahren der DDR liebäugelten auch renommierte Regisseure angesichts halbleerer Kinos mit aktuellen Soundmoden, selbst um den Preis ästhetischer Zwiespältigkeit. Anfang der achtziger Jahre wurden zudem die Kontakte junger Regisseure zu Vertretern der zeitgenössischen Kunstmusik immer seltener. Zweifellos hatte mit dieser Entwicklung weniger die kulturpolitische Zensur als die Publikumsferne und somit soziale Irrelevanz der experimentell ausgerichteten Neuen Musik zu tun. Die Folge war, dass Gegenwartsthemen zunehmend mit modischer Schlagermusik untermalt und in hoher Fluktuation Tanzmusiker sowie Rockgruppen engagiert wurden. Hierbei entbehrte die oberflächliche Übernahme erfolgreicher Klangkonzepte und die Orientierung an den internationalen Hitparaden oft einer thematisch zwingenden Grundlage und dramaturgisch überzeugenden Integration und führte – wie im Falle des Historienfilms Jörg Ratgeb, Maler (1978) mit einer dem italienischen Erfolgskomponisten Ennio Morricone nachempfundenen Musik von Andrzej Korzynski (1940–2022) – zu einem Verlust an musikdramaturgischer Sinnhaftigkeit, da die sachlich gegebenen inhaltlichen und dramaturgischen Anforderungen des konkreten Films zu Gunsten eines modischen Sounds vernachlässigt wurden. Positive Beispiele einer filmisch integrierten Pop-Musik sind die eingängige und zugleich dramaturgisch wirksame Musik zu Die Legende von Paul und Paula (1973) von Peter Gotthardt sowie die überzeugende Kongruenz des typischen Günther-Fischer-Sounds mit Stil und Aussage des ostdeutschen ‚Kultfilms‘ Solo Sunny (1979). Zudem gab es kompositorische Bemühungen, die starren Genregrenzen durchlässiger zu machen. Komponisten wie Wolfram Heicking (* 1927) oder Bernd Wefelmeyer (* 1940) lassen in ihren Partituren für Film und Fernsehen das Streben nach einem ‚vermischten‘ Stil mit großer musikalischer Ausdrucksbreite erkennen, den sie für die angewandten Genres als besonders praktikabel empfinden. Dies geschieht im teilweise ironisch reflektierten Umgang mit tradierten Musizierformen, in der Nutzung elektronischer Klänge und elektroakustischer Verfremdungsverfahren sowie in der Synthese von zeitgenössischer Sinfonik und Kammermusik mit Rock, Jazz und Pop. Als Beispiele seien von Wefelmeyer die Musiken zu den Fernsehfilmen Der Leutnant Yorck von Wartenberg (1981) und Die Zeit der Einsamkeit 1983 genannt. Heicking gelang auf überzeugende Weise die Integration disparater musikalischer Materialien in seiner Musik zum Fernsehfilm Die Rache des Kapitäns Mitchell (1979) (nach einer Erzählung von Bertolt Brecht) mit apart instrumentierten und elektroakustisch aufbereiteten Klangbildern, die eine interessante Verquickung und Montage von (live-)elektronischer Klangkulisse aus denaturiertem Klavier, Synthesizerklängen, Schlagzeugeffekten und grotesk verfremdeter Salonmusik mit schmachtendem Geigensolo aufweisen. Eine jazzig gestaltete Musik zu Alaskafüchse (1964) war das filmkompositorische Debüt des vormaligen Dirigenten des DEFA-Sinfonieorchesters Karl-Ernst Sasse (1923–2006). Mit weit über 400 Filmmusiken aller Genres wurde Sasse zum produktivsten Filmkomponisten der DEFA. Als moderner Gebrauchsmusiker verfügte er über größtmögliche stilistische Flexibilität, die in genremäßig so unterschiedlichen Filmen wie Spur des Falken, Die Verlobte, Hauptmann Florian von der Mühle, dem Kinderfilm Moritz in der Litfaßsäule bis hin zum Science-fiction-Streifen Signale – Ein Weltraumabenteuer30Ruben Fischer: Karl-Ernst Sasse. Signale – ein Weltraumabenteuer, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 219–222. auf jeweils genrespezifische Weise zur Anwendung kommt. Der Mantel-und-Degen-Film Hauptmann Florian von der Mühle (1968) bot Sasse die gern genutzte Möglichkeit, diesen Film vielfältig mit klangvoller und farbig instrumentierter Orchester- und Chormusik auszustatten. In den zahlreichen Verfolgungs-, Spannungs-, Liebes- und Illustrationsmusiken mit parodistisch gemeinten Synchronpunkten nutzte er in souveräner kompositorischer Reproduktion assoziativ besetzte romantische Tonsatz-Topoi. Ergänzt wird diese dramatische Musik durch glanzvolle Tanzmusik für Ballettszenen und (Volks-)Tanzeinlagen u. a. mit einer prächtigen Polonaise sowie schwungvollen und auch lyrischen Walzerklängen im Operettenstil nach 1900. In dieser Zeit kommt es auch zu einer gravierenden Veränderung in der von Wilhelm Neef mit dem Film Die Söhne der großen Bärin (1966) begründeten orchestralen Indianerfilm-Musiken. Der Film Tecumseh (1972) mit der Musik von Günther Fischer (* 1944) zeigt ein neues popmusikalisches Soundkonzept. Fischers Musikeinsätze fungieren als relativ autonome Nummern. Dramaturgisch steht der Unterhaltungswert dieser Begleitmusik im modischen Sound-Design und eine von ihr ausgehende exotische Atmosphäre im Mittelpunkt.31Denis Newiak: Günther Fischer. Tecumseh, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 227–232. Stilistisch wandlungsfähig war auch Wolfgang Pietsch (1929–1974) in vielen seiner über 100 Film- und Fernsehmusiken (Ich – Axel Cäsar Springer, 1968), in denen interessante Versuche einer Verknüpfung von Orchestermusik mit Elementen des Jazz und der Tanzmusik zu finden sind. Dies gilt auch für Peter Gotthardt (* 1941), der in der öffentlichen Wahrnehmung oft auf seine Musik zu Die Legende von Paul und Paula (1973) reduziert wird. Allerdings bedeutet dies eine drastische Einengung seines filmmusikalischen Schaffens auf zwei populäre Lieder, die aufs Ganze gesehen nur eine Facette im Gesamtbild einer umfänglichen, nahezu alle Genres umfassenden Filmografie darstellt. Hinsichtlich der eingesetzten musikalischen Gestaltungsmittel reicht die Skala von Orchester- und Kammermusik über Chanson und Popsong bis zu verschiedensten Collagen von heterogenem musikalischen Material sowie amorphen Klangflächen.32Wolfgang Thiel: Jenseits von Paul und Paula oder: Auf der Suche nach dem filmgemäßen Klang. Anmerkungen zu Peter M. Gotthardts Kompositionen für Film und Fernsehen, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Peter M. Gotthardt – 50 Jahre Filmmusik. Aufsätze – Interviews – Analysen, Berlin 2016, 19–28. Auf besondere Weise reizt Gotthardt die Synthese von akustischen und elektronischen Instrumenten. Ein gelungenes Beispiel eines atmosphärisch dichten und suggestiven Klangbildes, das den Zuschauer für das nachfolgende Drama auf sehr eigentümlich beunruhigende Weise konditioniert, ist die eindrucksvolle musikalische Introduktion zum Film Insel der Schwäne von 1982. Peter Gotthardt gelang dies mit einem orchestralen ‚Hintergrund‘ und der darauf gesetzten ‚Figur‘ von improvisierenden Einwürfen eines Tenor-Saxophons.33Peter Rabenalt: Filmmusik ohne Klischees, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Peter M. Gotthardt – 50 Jahre Filmmusik. Aufsätze – Interviews – Analysen, Berlin 2016, 29–32.

1979 kam die letzte Arbeit des Regisseurs Konrad Wolf in die Kinos. Solo Sunny mit der Musik von Günther Fischer erweist sich als ein sozialkritischer Film über einen Zeitabschnitt aus dem Leben einer mittelmäßigen Popsängerin und über den krassen Gegensatz ihrer deprimierenden Lebenssituation zum Flittergold auf der Bühne und zu den Illusionen des Metiers. Die Mehrzahl der Musikeinsätze – wie z. B. Sunnys Auftritte mit dem Originalsong Coming Between Delights – ist diegetisch. Die Ausnahme macht ein mehrfach eingesetztes Instrumentalstück, das in seinem Gestus eine gewisse Mechanik zeigt und im Klang einem stilisierten Kneipenklavier ähnelt. Dieser Klang korrespondiert mit der gezeigten Schäbigkeit des Mietskasernenmilieus im damaligen Stadtbezirk Prenzlauer Berg und in der Schlussszene auch mit dem persönlichen und beruflichen Scheitern der Protagonistin.

Vor dem Hintergrund technischer Innovationen sowie eines neuartigen Beziehungsgeflechtes der Produktions-, Vermarktungs- und Rezeptionsbedingungen vollzogen sich weltweit wesentliche Veränderungen im filmmusikalischen Denken, die zu einem teilweise tiefgreifenden Struktur- und Funktionswandel in den Musikformen der modernen Medien führten. Neben einem auf das jeweilige Sujet bezogenen stilistischen Pluralismus kamen zunehmend offene Strukturen bis hin zur Klang-Geräusch-Osmose und zum Einzelton als musikalischem Baustein mit der Erwartungs-Aura einer nach allen Seiten hin offenen tondramaturgischen Entwicklung zur Anwendung. Beispiele finden sich bei Peter Gotthardt (Wo andere schweigen, 1984) und dem Schauspieler und Komponisten Christian Steyer (* 1946) in Sabine Kleist, 7 Jahre (1982) und Verbotene Liebe (1990). Steyers ästhetisches Konzept (das „Ausleuchten bestimmter Räume“, „Klänge wehen von irgendwo her“) erinnert an Bestrebungen der französischen Filmmusik seit René Clairs Sous les toits de Paris und führt in Sabine Kleist zu einer Filmmusik im Spannungsfeld von freitonalen aphoristischen Strukturen und Popmusik-Assoziationen. Durch eine unkonventionelle Instrumentalbesetzung (hier 2 Fiedeln, Klavier, Gitarre und Fenderpiano) strebte Steyer zudem danach, diesem Film einen unverwechselbaren Klang zu geben.

 

X Ausländische Komponisten schreiben für Filme der DEFA

Seit den mittfünfziger Jahren war die DEFA bestrebt, mit ausländischen Filmgesellschaften zu kooperieren. Die Regisseure brachten mitunter ihre Filmkomponisten mit. Den Anfang machte der Film Die Abenteuer des Till Ulenspiegel (1956) mit Gérard Philipe in der Hauptrolle und dem namhaften Komponisten Georges Auric (1899–1983). Zwei Jahre später schrieb der bekannte französische Filmkomponist Georges van Parys (1902–1971) die Musik zu der Victor-Hugo-Verfilmung Les Misérables/Die Elenden (1958). Hervorzuheben ist des Weiteren die sinfonische Partitur von Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) zu Fünf Tage – Fünf Nächte (1961). In der Sequenz „Das befreite Dresden“ wechseln grüblerische Musik tiefer Streicher mit kämpferischen Agitato-Passagen und hymnisch breiten Paraphrasen des vollen Orchesters über Beethovens „Ode an die Freude“ ab.

Neue filmmusikalische Akzente setzten jedoch zwei Komponisten, die von den DEFA-Regisseuren Kurt Maetzig und Joachim Kunert für ihre Projekte Der schweigende Stern (1960) und Das zweite Gleis (1962) ausgewählt wurden. In beiden Filmen wurde das Kinopublikum mit bis dahin noch nie gehörten Klängen konfrontiert. Mit dem Engagement des polnischen Dirigenten und Avantgardekomponisten Andrzej Markowski (1924–1986) hatte Maetzig einen musikalischen Mitarbeiter gewinnen können, der für den ersten Science-fiction-Film der DEFA nicht nur eine sehr expressive, farbig instrumentierte atonale Partitur komponierte, sondern darüber hinaus die klanglichen Möglichkeiten des im Ostblock lange Zeit einzigen Studios für Elektronische Musik nutzen konnte. Während die Orchestermusik den Szenen auf der Erde zugeordnet ist und den Film mit herben Dissonanzen enden lässt, wurden die elektronischen Klangkulissen zu Szenen auf der Mondstation und auf der von einem nuklearen Inferno verwüsteten Venusoberfläche eingesetzt.

Für Kunerts im Eisenbahner-Milieu angesiedelten Kammer-Spielfilm schrieb der Slowake Pavol Simai (1930–2020), der in den Endfünfziger-Jahren bei Paul Dessau in Ostberlin studierte, eine klanglich interessante Musik für eine Solo-Harfe, deren Saiten mit metallischen Fingerhüten angerissen wurden. Möglicherweise inspirierte das Bildmotiv von Hochspannungsleitungen, die den Himmel wie Saiten einer riesigen Harfe zerschneiden, die ungewöhnliche Wahl dieses Instruments.

 

XI Die filmmusikalische Situation in den letzten Jahren der DEFA bis zu ihrer Auflösung 1993

Zwischen 1990 und 1993 gelangten 47 neue Spielfilme in die Kinos. Hinzu kamen einige freigegebene und fertiggestellte Verbotsfilme aus den 1960er Jahren. Für die neuen gesellschaftskritischen Filme, die in den letzten Jahren der DDR konzipiert und schließlich 1990 produziert worden waren, ergab sich ein besonderes Problem. Dies lag in einem plötzlichen Anachronismus. Denn die in diesen Filmen offen und ehrlich dargestellten gesellschaftlichen und privaten Konflikte standen in einer in Auflösung und Umbruch begriffenen DDR-Gesellschaft nicht mehr auf der Agenda. So erlebte 1990 der Film Die Architekten (MU: Tamás Kahane) über ruinierte berufliche Träume und verlorene Illusionen zu spät seine Premiere. Die Zeit hatte ihn bereits überrollt.

Filmmusikalisch gab es in diesen 47 Filmen keine neuen Akzente, sondern eine Weiterführung der bereits in den 1980er Jahren vorhandenen Dominanz von Populärmusik verschiedenster Provenienz und dem Nischendasein sinfonisch orchestraler Filmmusik. Von den Komponisten, die in den 1980er Jahren für die DEFA-Studios in Potsdam-Babelsberg und Dresden und für das Adlershofer Fernsehen gearbeitet hatten, waren nach 1990 nur noch sehr wenige im Filmgeschäft tätig. Personell wurde die Filmmusik-Szene indes bunter. Einerseits erhielten versierte Komponisten wie Peter Rabenalt und Karl-Ernst Sasse oder Reinhard Lakomy und Günther Fischer weiterhin Aufträge, andererseits tauchten viele neue Namen auf; oftmals nur für je ein Filmprojekt. Unter ihnen auch die einzige Komponistin, die für die DEFA gearbeitet hat. Die Musikerin und Regisseurin Simone Danaylowa schrieb 1991 und 1992 für je einen Film von Siegfried Kühn (Heute sterben immer nur die andern; Die Lügnerin) umfängliche Orchesterpartituren. Des Weiteren wurde in etlichen Filmen Archivmusik eingesetzt. So auch in dem letzten Film der DEFA über den Dichter Novalis – Die blaue Blume mit Kompositionen von Bach und Vivaldi bis Johann Strauß und Debussy.

 

XII Epilog

1978 und 1986 fanden in (Ost-)Berlin Tagungen über das kompositorische Schaffen für den Film statt. Regisseure und Komponisten wurden zum Erfahrungsaustausch eingeladen. Dass trotz manchem klugen Gedanken die anstehenden Probleme unbewältigt und die aufgeworfenen Fragen unbeantwortet blieben, war auch der zunehmenden gesellschaftlichen Erstarrung geschuldet. Fachlich inkompetente, aber entscheidungsmächtige Abnahmekommissionen bescherten den Regisseuren nicht nur schlaflose Nächte, sondern lähmten zunehmend deren Innovationswillen. Auch wenn einschlägige theoretische Äußerungen Hanns Eislers zur ‚angewandten Musik‘ gelegentlich als Pflichtübung zitiert wurden, verblieb die Filmmusik, die kommerziellen Erwägungen damals weit weniger als heute unterworfen war, unterhalb ihrer theoretisch denkbaren Möglichkeiten künstlerischer Entfaltung und Wirkung. So wurde in der DEFA das Ideal einer von ökonomischen Zwängen und sonstigen Fremdbestimmungen befreiten Filmmusik, die grundsätzlich und mit allen Konsequenzen künstlerischer Ernsthaftigkeit nur den jeweils sachlich gegebenen Anforderungen des jeweiligen Films verpflichtet ist, zwar aufs Ganze gesehen nicht erreicht, aber als ein verborgenes geistiges Leitbild lange Zeit auch nicht in Frage gestellt.

 

Weiterführende Literatur

Vera Grützner: Traditionen, Stationen und Tendenzen der Filmmusikdramaturgie, aufgezeigt anhand von Spielfilmen des DEFA-Studios für Spielfilme. Ein Beitrag zum Filmmusikschaffen in der DDR, Phil. Diss., Halle-Wittenberg 1975

Wolfgang Thiel: Filmmusik in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1981, passim

Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung) (mit Komponisteninterviews und filmmusikalischen Einzelanalysen)

Anmerkungen

  1. Joachim Werzlau: Probleme der Filmmusik, in: MuG 3 (1953), 213–215, 213.
  2. Vgl. Wolfgang Thiel: Ansichten zur gesellschaftlichen Bedeutung und Wirkung der DEFA-(Spiel-)Filmmusik von 1946 bis 1990, in: Musikforum, Nr. 94 (2001), 18–22.
  3. Vgl. Wilhelm Neef: Filmmusik nach wie vor Lückenbüßer …, in: MuG 12 (1962), 77–79.
  4. Christiane Mückenberger: Einleitung, in: Zur Geschichte des DEFA-Spielfilms 1946–1949. Eine Dokumentation. Studentenarbeiten des I. Studienjahres der Fachrichtung Film- und Fernsehwissenschaft, angeleitet, ergänzt und für den Druck bearbeitet von Christiane Mückenberger, in: Hochschule für Film und Fernsehen DDR (Hg.): Information, Nr. 3–6/1976, 13–39, 20 f.
  5. Vgl. Wolfgang Thiel: Wolfgang Zeller. Ehe im Schatten, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 187–192.
  6. Erst 1982 lag mit Fred K. Priebergs Buch „Musik im NS-Staat“ eine systematisch aufgearbeitete Musikgeschichte dieser Zeit vor.
  7. Hinzu kamen neben den Dokumentarfilmen und Animationsstreifen des Dresdner Trickfilmstudios jene Spielfilme, die im Auftrag des Fernsehens von der DEFA produziert wurden.
  8. Vgl. Wolfgang Thiel: Ernst Roters. Die Mörder sind unter uns, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 183–187.
  9. Die Schärfe der Auseinandersetzung dokumentieren vor dem Hintergrund des Kalten Krieges entstandene musikästhetische Pamphlete, in denen sich sowjetische und ostdeutsche Autoren im Gefolge von Andrej Shdanows dogmatischen Kunsttheorien in ihrer Wertung und Argumentation eines Vokabulars bedienten, das auch aus einer Nazi-Schmähschrift gegen die ‚Entartete Musik‘ hätte stammen können. Siehe: W. Gorodinski: Geistige Armut in der Musik, Halle (Saale) 1953 (= Musik und Zeit 5).
  10. Hier zit. n.: Kleine Enzyklopädie Film, Leipzig 1966, 432.
  11. S. Wolfgang Thiel: Modern und volkstümlich zugleich? Hanns Eislers Spielfilmmusiken nach 1948, in: Maren Köster im Auftrag der Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Hanns Eisler. ’s müßt dem Himmel Höllenangst werden, Hofheim 1998 (= Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts 3), 85–100.
  12. Vgl. Guido Heldt: Hanns Eisler. Der Rat der Götter, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 192–197.
  13. Denis Newiak: Joachim Werzlau. Lissy, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 202–207, 205.
  14. Vgl. Wolfgang Thiel: Gestische Filmmusik – Kurt Schwaens Kompositionen für das Kino, in: Peter Schweinhardt (Hg.), Kurt Schwaen zum 90. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2000 (= Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft 7), 6–77.
  15. Wolfgang Thiel: Kurt Schwaen. Der Fall Gleiwitz, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 211–215.
  16. Jean Martin: Günter Klück. Berlin – Ecke Schönhauser, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 207–211, 207.
  17. S. auch Wolfgang Thiel: Modern und volkstümlich zugleich? Hanns Eislers Spielfilmmusiken nach 1948, in: Maren Köster im Auftrag der Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Hanns Eisler. ’s müßt dem Himmel Höllenangst werden, Hofheim 1998 (= Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts 3), 85–100, 89.
  18. Gerhard Rosenfeld: Dank an Eisler, in: Arbeitsheft 19 der Akademie der Künste der DDR, Berlin 1974, 209.
  19. Dieter Wiedemann: Gerhard Rosenfeld. Leben mit Uwe, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 238–241.
  20. Vera Grützner: Traditionen, Stationen und Tendenzen der Filmmusikdramaturgie, aufgezeigt anhand von Spielfilmen des DEFA-Studios für Spielfilme. Ein Beitrag zum Filmmusikschaffen in der DDR, Phil. Diss., Halle-Wittenberg 1975, 78.
  21. Beispielsweise wird noch 1978 in dem Film „Anton der Zauberer“ (MU: Wolfram Heicking), dessen Soundtrack musikalisch ein Mixtum compositum aus Opernarien, Volkslied und Song sowie Marschmusik, Tango, Streichquartett- und Blaskapellen-Sound ist, das junge Eheglück von Liesel und Anton in der DDR durch flotte Dixieland-Klänge begleitet.
  22. Wolfgang Thiel: Versuch eines Filmmusicals, in: Filmblatt 66/68, Potsdam 2019, 87–97.
  23. Wolfgang Thiel: Vom schweren Leben der Leichten Muse, in: Filmblatt 57, 17–27.
  24. Vgl. Wolfgang Thiel: Nebenschauplatz Filmmusik – Georg Katzers Kompositionen für Film und Fernsehen, in: Musik der DDR? – Komponieren im real existierenden Sozialismus, München 2022, 95–106.
  25. Robert Rabenalt: Siegfried Matthus. Die Leiden des jungen Werthers, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 246–250.
  26. Vgl. Wolfgang Thiel: Reiner Bredemeyers Film- und Fernsehmusiken, in: MuG 23 (1973), 648–653.
  27. Ehemaliger Meisterschüler von Georg Katzer und Ruth Zechlin.
  28. Von 1976 bis 1979 war er Meisterschüler von Ruth Zechlin an der Akademie der Künste der DDR.
  29. Vgl. Nina Noeske: Musikalische Konstellationen im DEFA-Film Coming Out (1989), in: Musiktheorie 37 (2022), 241–250.
  30. Ruben Fischer: Karl-Ernst Sasse. Signale – ein Weltraumabenteuer, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 219–222.
  31. Denis Newiak: Günther Fischer. Tecumseh, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Klang der Zeiten. Musik im DEFA-Spielfilm – Eine Annäherung, Berlin 2013 (= Schriftenreihe, hg. von der DEFA-Stiftung), 227–232.
  32. Wolfgang Thiel: Jenseits von Paul und Paula oder: Auf der Suche nach dem filmgemäßen Klang. Anmerkungen zu Peter M. Gotthardts Kompositionen für Film und Fernsehen, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Peter M. Gotthardt – 50 Jahre Filmmusik. Aufsätze – Interviews – Analysen, Berlin 2016, 19–28.
  33. Peter Rabenalt: Filmmusik ohne Klischees, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.): Peter M. Gotthardt – 50 Jahre Filmmusik. Aufsätze – Interviews – Analysen, Berlin 2016, 29–32.

Autor:innen

Erwähnt in

Die 80er Jahre

Zitierempfehlung

Wolfgang Thiel, Artikel „Musik im DEFA-Spielfilm – Kurze Geschichte“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. zuerst veröffentlicht am 16.06.2023, Stand vom 02.02.2024, online verfügbar unter https://mugo.hfm-weimar.de/de/topics/filmmusik-im-defa-film-folgt, zuletzt abgerufen am 21.11.2024.