Punk und New Wave

Zusammenfassung

Der Begriff Punk umfasst mehrere Bedeutungen: Ursprünglich als herabwürdigendes Slang-Wort im Englischen gebraucht, steht Punk seit Mitte der 1970er Jahre für ein Genre der Rockmusik (Punk-Rock), das zusammen mit weiteren kulturellen Praktiken wesentlicher Bestandteil der gleichnamigen Subkultur galt.
Sowohl auf musikalischer Ebene, als auch auf Gebieten wie Mode, Film, Comics oder Fanzines war das Prinzip „do-it-yourself“ (DIY) konstitutiv. Damit einher gingen ein ausgestellter Dilettantismus, provokatives Auftreten, Tabubrüche und Obszönitäten jeglicher Art, nicht selten um durch intendierte Selbstskandalisierung negative Reaktionen zu provozieren, die wiederum öffentliche Aufmerksamkeit und die internationale Verbreitung der Punkkultur befeuerten. Heute gelten Punk und der anfangs synonym gebrauchte Begriff New Wave mit Ausdifferenzierungen wie Dark Wave, Gothic, Industrial Music, Electronic Body Music, im deutschsprachigen Raum die Neue Deutsche Welle und schließlich Indie- bzw. Alternative-Rock als einflussreiche musikalische und jugendkulturelle Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Nachdem sich Ende der 1970er Jahre auch in der BRD eine Punkszene formiert hatte und erste Punktitel in deutscher Sprache erschienen waren, adaptierten auch Jugendliche in der DDR subkulturelle Praktiken des Punk. Neben typischer Kleidung und Haarschnitt umfassten diese einen anarchischen, provokativen Habitus, den Gebrauch von Slogans wie „No future“, die sowohl verbal als auch in materialisierter Form ausgestellt wurden und der sozialistischen Eschatologie diametral zuwider liefen sowie eine neue Form der Rockmusik, die hinsichtlich Tempo, Härte und Verzerrung des Sounds sowie Provokationsgehalt der Texte neue Maßstäbe setzte.
Dieses deviante Verhalten Jugendlicher stieß in der DDR-Gesellschaft auf eine breite Ablehnung, wurde darüber hinaus aber Gegenstand geheimpolizeilicher Arbeit durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Erich Mielke erließ im Sommer 1983 den Befehl „Härte gegen Punk“, nachdem oppositionelle evangelische Jugenddiakone und Pfarrer Punkbands vermehrt Gelegenheiten für Auftritte in Kirchengebäuden verschafft hatten, wo sie ihre Ablehnung gegenüber Gesellschaft und Staat lautstark zum Ausdruck brachten.
Während Punk Anfang der 1980er Jahre mit äußerster Härte verfolgt wurde, klangen Repressionen gegen nonkonforme Musiker in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre merklich ab, wenngleich sie bis zum Mauerfall keineswegs aufgegeben wurden. Außerdem waren nun vor dem Hintergrund Gorbatschow’scher Reformpolitik und eines inneren Zerfalls des SED-Regimes auch Liberalisierungs- und Integrationstendenzen zu beobachten.

Begriffe

Nicht nur die Punkkultur wurde von Jugendlichen in der DDR adaptiert, auch verbreitete Deutungsmuster zu den Ursachen des Phänomens und damit verbundene Zuschreibungen wurden in der DDR rezipiert. Neben den Jugendlichen selbst konsumierten auch weiter Teile der Gesellschaft, wie zum Beispiel Eltern, Wissenschaftler, Mitarbeiter des Kulturapparates und der Sicherheitsbehörden Westmedien, die wesentliche Treiber des Kulturtransfers waren.

Auf einen kurzen Abriss zur Entwicklung in den westlichen Industrienationen soll deshalb auf die vielfältigen Adaptionen in der DDR eingegangen werde, die nicht nur die Punkkultur selbst umfassten, sondern auch damit verbundene Konfliktfelder, die im Zeichen des sozialistischen Gesellschaftssystem spezifische Ausformungen erfuhren.

Punk wurde im Englischen ursprünglich als Schimpfwort gebraucht, um im informellen Sprachgebrauch als minderwertig ausgemachte Personengruppen herabzuwürdigen, mit dem aber auch ein „passive male homosexual“ im Kontext homosexueller Beziehungen unter Strafgefangenen gemeint sein konnte.1Kenneth Hudson, A Dictionary of the Teenage Revolution and Its Aftermath, London 1983, 149. Gängige Übersetzungen wie „Dreck“, „Abfall“ oder „Müll“, wie sie in älteren Lexika zu finden sind, bleiben bezeichnenderweise stark hinter der intendierten Obszönität des Begriffs zurück und verweisen bereits auf eine weitere Bedeutungsebene: Punk als Subkultur, für die negative Selbstzuschreibungen ebenso konstitutiv waren, wie sich ständig überbietende Tabubrüche und damit einhergehende Skandale sowie die Reklamation von Nonkonformität und Widerständigkeit in Abgrenzung zu einem vermeintlichen gesellschaftlichen Mainstream.2Vgl. bspw. Thomas Hecken, Punk, in: ders. und Marcus S. Kleiner (Hg.), Handbuch Popkultur, Stuttgart 2017, 72–77.

Ab Mitte der 1970er Jahre stand der Begriff Punk (ein gleichnamiges Fanzine erschien erstmals im Januar 1976) für eine musikalische Stilrichtung, die Kritiker der Rockmusik zuschlugen. Als frühe Vertreter des Punk-Rocks in den USA gelten die Ramones und weitere Bands im Umfeld des New Yorker Clubs CBGB’s wie auch Patti Smith. In Anlehnung an den Garage Rock zeichnet sich die Musik der ersten Punk-Rock-Bands durch hohes Tempo, starke Verzerrung, intensive Lautstärke und einfache musikalische Strukturen aus. Klassische Bandbesetzungen bestanden aus Schlagzeug, E-Bass, E-Gitarre und Gesang, die später unter dem Einfluss von Ska und Reggae auch durch Blasinstrumente (z. B. Saxophon, Trompete oder Posaune) ergänzt wurden.

Der kommerzielle Durchbruch des Punk-Rock 1977 ist untrennbar mit den Sex Pistols verbunden, deren Manager Malcolm McLaren zuvor bereits in den USA aktiv war und die Band New York Dolls betreute. Geprägt von der Situationistischen Internationale verstand sich McLaren darauf, zahlreiche Skandale um die Band zu inszenieren, die maßgeblich zu ihrer Bekanntheit beitrugen. Damit einhergehend überschritt die Subkultur erstmals die Schwelle zum Massenphänomen. Wenig später, im April 1978, titelte Der Spiegel: „Punk. Kultur aus den Slums: brutal und häßlich“.3Der Spiegel, 32. Jg., Nr. 4 vom 22. 1. 1986; online unter https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1978-4.html (4. 4. 2022). Von nun an wurde auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit mit dem Phänomen Punk konfrontiert.

Angesichts augenfälliger Begleiterscheinungen wie gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Jugendkulturen und Ausschreitungen, verbreitetem Alkohol- und Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit, Leben in leerstehenden und besetzten Häusern stellten sich Fragen nach den Ursachen. Gängige Deutungsmuster machten eine hohe Frustration infolge der damals noch neuen Jugendarbeitslosigkeit aus und identifizierten Punk als ein Krisensymptom spätkapitalistischer Gesellschaften.4So z. B. Peter Marsh, Arbeitslosen-Rock [zuerst veröffentlich als Dole Queue Rock, in: New Society vom 20. Januar 1977], in: Rolf Lindner (Hg.), Punk Rock, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1981 [1978], 25–33, 31. Dick Hebdiges Studie Subculture: The Meaning of Style interpretierte Punk wie vorangegangen jugendliche Subkulturen als Widerstand gegen hegemoniale Kultur.5Dick Hebdige, Subculture: The Meaning of Style, London 1979. Andere Soziologen verwiesen in erster Linie auf den Hedonismus, den die Subkultur versprach.6Vgl. Mike Brake, Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung [erstmalig erschienen als The Sociology of Youth Culture and Youth Subcultures, London 1980], Frankfurt a. M. u. a. 1981, 167. Vielen Lesarten war gemein, Punk als Folge gesellschaftlicher Missstände zu deuten, während viele Punks für sich in Anspruch nahmen genau diese sichtbar zu machen.

Alles andere als eindeutig war in den Anfängen die politische Ausrichtung der Subkultur. Das bisweilen provokative Spiel mit faschistischer Symbolik stieß insbesondere in linken Kreisen auf strikte Ablehnung. Erst mit dem Zusammengehen von Teilen der Subkultur mit den Neuen Sozialen Bewegungen oder die Unterstützung von linken Kampagnen durch Punkbands (prototypisch The Clash, Rock against Racism)7Ian Goodyer, Crisis Music: The Cultural Politics of Rock Against Racism, Manchester 2009. erhielt Punk eine linke Konnotation,8Vgl. Detlef Siegfried, Klingt gut, ist falsch. Legitimitätskämpfe um Popmusik in der linken Szene der 1970er-Jahre, in: Mittelweg 36, Bd. 25, 4–5 (2016), 5–49, 36 f. während sich Skinheads in ein linkes und rechtes Lager spalteten.

Auf dem Gebiet der Musik brachten Musikkritiker den Punk-Rock in den späten 1970er Jahren wahlweise als Gegenbewegung zu Mainstream-, Glitter-, Art- oder Progressive Rock in Stellung, deren Vertreter jeweils ein Verlust an Authentizität, die Kommerzialisierung der Rockmusik, sowie eine zunehmende Distanz zum Publikum vorgeworfen wurde.9Vgl. Thomas Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009, Bielefeld 2009, 337–339, vgl. zur Konstruktion dieses Gegensatzes zwischen Rock und Pop ebd., 184–238. Punk-Rock-Musikern hingegen beschieden Kritiker eine Rückbesinnung auf originär dem Rock zugeschriebene Werte wie Widerständigkeit, Nonkonformität, Originalität, Direktheit der Sprache und unverfälschte Einfachheit in der musikalischen Gestaltung.

Solche Zuschreibungen wurden von Punkfans bereitwillig aufgegriffen und immer dann als Maßstab herangezogen, wenn es darum ging Bands entweder einem negativ konnotierten Mainstream zuzuschlagen oder als authentische Punk-Band anzuerkennen.

Um den Innovationsgehalt des neuen Genres zu betonen, nutzen Musikkritiker Anfangs den Begriff New Wave in Anlehnung an die Nouvelle Vague des französischen Kinos. Während New Wave und Punk in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre oftmals synonym oder in Kombination gebraucht wurden,10Bspw. Caroline Coon, 1988: The New Wave Punk Rock Revolution, London 1977. etablierten sich im Laufe der Jahre gegensätzliche Bedeutungen, wonach Punk als Subkultur mit der Betonung auf Widerständigkeit und New Wave als postmoderne, respektive entschärfte und entsprechend leichter zu vermarktende Spielart des Punk zu verstehen sei.11Vgl. Thomas Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009, Bielefeld 2009, 371–378. Weiter wurden Bands unter New Wave rubriziert, die simplen musikalischen Strukturen des Punk folgten, dabei aber elektronische Klangerzeuger wie Synthesizer und Effektgeräte einsetzen. Im Laufe der 1980er Jahre differenzierte sich das Feld weiter aus: Subgenres wie Hardcore-Punk, Oi!-Punk, Ska-Punk auf der einen und Dark Wave, No Wave, Gothic, Industrial oder Electronic Body Music (EBM) folgten auf der anderen Seite. Als übergeordnete Klammer wurde auch verstärkt Post-Punk synonym zu New Wave gebraucht, bevor sich schließlich übergeordnete Sammelbegriffe wie Indie- oder Alternative-Rock etablierten.

Für den deutschsprachigen Raum setzte sich der Begriff Neue Deutsche Welle (NDW) durch.12Barbara Hornberger, Geschichte wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutscher Popmusik, Würzburg 2011. Während anfangs Bands mit subversiven Texten und elektronischen Klangerzeugern wie die Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF) aber auch Bands mit klassischer Besetzung wie die Fehlfarben unter dem Label verhandelt wurden, erreichte die NDW in den Jahren 1982 und 1983 ihren kommerziellen Höhepunkt. Nun standen allerdings Vertreter im Vordergrund, die sich stark am deutschen Schlager orientierten und denen von der Popkritik mit dem Vorwurf des Ausverkaufs begegnet wurde.

Alle genannten Entwicklungen von Subgenres und Diskurse der Abgrenzung und Ausdifferenzierung wurden auch in der DDR in mal größerem, mal geringerem zeitlichem Abstand nachvollzogen, trafen dort aber auf völlig andere politische und gesellschaftliche Bedingungen. 

Anfänge

Wie vorangegangene Sub- bzw. Jugendkulturen, fand auch Punk in der DDR eine Anhängerschaft.13Vgl. zum Folgenden Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, Kapitel 3.3 Transfer, Aneignung, Umdeutung, Ausdifferenzierung. Dies geschah mit erheblicher Zeitverzögerung, da es erst der Skandalisierung und Popularisierung in westdeutschen Medien bedurfte, bevor das Phänomen Punk in der DDR rezipiert und imitiert wurde. Als wichtigste Medien fungierten Radio und Fernsehen sowie Jugendzeitschriften westlicher Provenienz.

Besonders die Radiosendungen von John Peel konnten über den britischen Soldatensender British Forces Broadcasting Service (BFBS) nahezu überall in der DDR empfangen werden und spiegelten aktuelle musikalische Trends wider. Auch Musiksendungen des RIAS und des Senders Freies Berlin (SFB) sowie im Süden der DDR das Jugendmagazin Zündfunk des Bayerischen Rundfunks spielten eine wichtige Rolle.

Für die Vermittlung von Mode, Outfit, Gestus, Habitus waren Jugendzeitschriften wie die Bravo von großer Bedeutung. Weiter sind TV-Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der BRD wie der Musikladen, Rockpop Special oder der Rockpalast sowie Dokumentationen über die Punkkultur hervorzuheben.

Hinzu kamen geschmuggelte Tonträger, später auch lizensierte Alben aus Polen, Ungarn und dem damaligen Jugoslawien. Im Laufe der ersten Hälfte der 1980er Jahre entwickelten sich direkte, wenn auch spärliche Kontakte zwischen west- und ostdeutscher Punkszene, wobei in den Westen ausgereisten DDR-Punks eine Schlüsselfunktion zukam.

DDR-Punkbands, die sich Anfang der 1980er Jahre formierten, trugen Namen wie Zerfall, Rosa Extra (nach einer Marke für Damenbinden in der DDR), Betonromantik, Antifaschistischer Schutzwall (AFS) – woraus später Planlos hervorging – und Namenlos. Darüber hinaus existierten Schleim-Keim (Stotternheim/Erfurt), Wutanfall – aus denen später L’Attentat wurde (Leipzig) –, Müllstation, Menschenschock (Eisleben), Virus X (Rostock), Vitamin A, Restbestand (Magdeburg) und Paranoia (Dresden). Hinzu kamen avantgardistische Vertreter wie Der Demokratische Konsum, Klick und Aus (beide Berlin) oder Zwitschermaschine (Dresden).

Konfliktfelder

Die Existenz der Subkultur und die Praktiken ihrer Anhänger führten zu zahlreichen Auseinandersetzungen. Zugrundeliegende Konfliktfelder ähnelten einerseits stark jenen westlicher Gesellschaften, wenn es etwa um die Verletzung basaler Ordnungsvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft ging. Sie waren verschränkt mit politisch-ideologischen und ästhetischen Konfliktfeldern. In den Augen des MfS handelte es sich beim Phänomen Punk um einen weiteren Versuch des westlichen ‚Gegners‘, die DDR-Jugend in Opposition zum sozialistischen Gesellschaftssystem zu bringen.14Diese Wahrnehmung des MfS schloss nahtlos an Feindbilder an, die infolge des Kahlschlagplenums 1965 definiert wurden. Siehe hierzu Erich Mielke, Befehl 11/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen der DDR, 15. 5. 1966, BArch, MfS, BdL-Dok. Nr. 1080, sowie Dienstanweisung 4/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen der DDR, 15. 5. 1966, BArch, MfS, BdL-Dok. Nr. 1083; beide Grundsatzdokumente behielten bis 1989 ihre Gültigkeit. Auch der zu Beginn in westdeutschen Zeitschriften propagierte Faschismusvorwurf in Richtung der Punks verfing beim MfS, das solche Printmedien ebenfalls rezipierte. Schilderungen von Straßenschlachten rivalisierender Jugendkulturen (zum Beispiel Punks vs. Popper) mit der Polizei (Chaostage Hannover) dürften bei den Sicherheitsbehörden der DDR ebenfalls Eindruck hinterlassen haben.15Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 122–129.

Auf musikalischem Gebiet kollidierten subkulturelle Praktiken mit dem weitverzweigten Regelwerk, das den Kulturbetrieb in der DDR einzuhegen und zu steuern versuchte.16Vgl. zum Folgenden detailliert: Peter Wicke und Lothar Müller (Hg.), Rockmusik und Politik, Berlin 1996. Siehe auch Artikel Honorare: https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/topics/87. Dem Selbstverständnis der SED nach durften sich in der DDR keine kulturellen Entwicklungen außerhalb der parteistaatlichen Strukturen vollziehen. In der Vorstellung der SED-Führung galt es, innerhalb dieser Strukturen die DDR-Jugend vor negativen Einflüssen zu schützen und sie im Sinne des sozialistischen Menschenbildes zu erziehen. Der Kultur wurde dabei stets eine hohe Bedeutung zugemessen. Um den Kulturbetrieb gegen unerwünschte Einflüsse abzusichern und vorgeblich Nützliches und Erwünschtes zu fördern, etablierte die SED auch für das Gebiet der sogenannten Jugendtanzmusik ein überbordendes Kontroll- und Fördersystem, das Mitte der 1970er Jahre seine finale Ausformung erreicht hatte und trotz weitreichender Einigkeit hinsichtlich der Reformbedürftigkeit bis zum Fall der Mauer weitgehend unverändert blieb.

Auf jugendkulturelle Entwicklungen, die in der Regel von der BRD als westlicher Referenzgesellschaft adaptiert wurden, reagierte der Apparat über die Jahrzehnte hinweg nach folgendem Muster:

„[W]as sich den über einem immer weniger überschaubaren Netz von Zuständigkeiten etablierten Kategorien entzog, wurde solange es ging ignoriert, danach ausgegrenzt, dann umdefiniert, schließlich zu integrieren versucht, der dabei verbleibende Rest zunächst wieder ignoriert und so fort.“17Peter Wicke, Rock Around Socialism. Jugend und ihre Musik in einer gescheiterten Gesellschaft, in: Dieter Baacke (Hg.), Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1997, 293–304.

Zwei Bereiche sind hier von besonderer Relevanz: das staatliche Tonträgermonopol, das die legale private Produktion und Distribution von Tonträgern ausschloss, sowie das Einstufungssystem, wonach jede Band eine staatliche Spielerlaubnis benötigte, wollte sie legal in der Öffentlichkeit auftreten.18Vgl. detailliert Florian Lipp: „Keinerlei Textverständlichkeit“ – „Keyboard oft nicht rhythmisch“. Staatliche Einstufungspraxis in der späten DDR am Beispiel von Punk- und New-Wave-Bands, 2016, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/228328/keinerlei-textverstaendlichkeit-keyboard-oft-nicht-rhythmisch (4. 4. 2022). Legale öffentliche Auftrittsorte befanden sich zumindest mittelbar ebenfalls fest in staatlicher Hand, wie etwa Jugendklubs, die von der FDJ betrieben wurden oder an staatliche Betriebe angeschlossen waren.

Sowohl die Fertigung professioneller Tonaufnahmen als auch die Pressung von Schallplatten und ihre Vermarktung unterlagen in der DDR dem staatlichen Monopol. Als größter Musikproduzent fungierte der DDR-Rundfunk, während die Vermarktung von Pop- und Rockmusik dem staatlichen Label Amiga (VEB Deutsche Schallplatten, Berlin) vorbehalten war.

Die private Herstellung von Audioaufnahmen bewegte sich im rechtlichen Graubereich, die kommerzielle Verbreitung von Tonträgern im Eigenverlag war illegal. Letztlich erschienen zu Zeiten der DDR nur vier LPs, allesamt in der BRD. Den Anfang machte 1983 die Split-LP DDR von unten beim West-Berliner Label Aggressive Rockproduktionen mit den Gruppen Zwitschermaschine und Schleim-Keim (bzw. die Sau-Kerle).19Split-LP Zwitscher-Maschine/Sau-Kerle, DDR von unten. eNDe, Aggressive Rockproduktionen AG 0019, Berlin [West] 1983, LP. 1985 veröffentlichte das West-Berliner Label Good Noise einen Sampler mit diversen illegalen Punk- und New Wave-Bands.20V.A., „Live“ In Paradise DDR, Good Noise VGNS 2028, Berlin [West] 1985. Es folgten die LP panem et circensis von der Weimarer Gruppe KG Rest 1986 und das Album Made in GDR der Leipziger Punkband L’Attentat.21L’Attentat, Made in GDR, X-Mist Records XM-006, Nagold 1987. Daneben entstanden zahlreiche Aufnahmen auf Musikkassetten, die unter der Hand gehandelt und getauscht wurden.22Siehe die Diskographie und Kassettographie in Ronald Galenza, Heinz Havemeister (Hg.), Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR 1980–1990, überarb. und erw. Neuausg., Berlin 2013, 713–742.

Auch das Konzertwesen stand unter staatlicher Kontrolle: Wollten Bands in der DDR legal auftreten, benötigen sie eine staatliche Spielerlaubnis. Um diese zu erhalten, war das Vorspiel vor einer von der örtlichen Kulturadministration eingesetzten Einstufungskommission nötig. Diese setzte sich in aller Regel aus örtlichen Kulturfunktionären, aber auch Musikpädagogen, Profimusikern und Musikwissenschaftlern zusammen. Charakteristisch für den Rockmusikbetrieb der DDR war eine strikte Trennung zwischen professionellen Bands, für deren Mitglieder ein Musikhochschulstudium obligatorisch war, und den sogenannten Amateuren.23Vgl. ausführlich Olaf Leitner, Rockszene DDR. Aspekte einer Massenkultur im Sozialismus, Reinbek bei Hamburg 1983, 142–149. Für letztere galt die Pflicht, einen festen Arbeitsplatz nachzuweisen.

Die Folgen für Punkmusiker waren schwerwiegend: Sie bewegten sich nicht nur mit der Herstellung und Verbreitung von Tonträgern gemäß dem Ideal „do it yourself“ in der Illegalität; auch legale Auftritte blieben den meisten Punkbands in der ersten Hälfte der 1980er Jahre verwehrt, da sie entweder nicht bereit waren, sich dem staatlichen Einstufungssystem zu unterwerfen oder ehrenamtliche Einstufungskommissionen mit Verweis auf mangelnde musikalische und spieltechnische Fertigkeiten eine Spielerlaubnis verweigerten.24Vgl. zum Folgenden u. a. das Beispiel Wutanfall in Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 297–304. Dass Einstufungskommissionen, die über die musikalischen Fertigkeiten der Musiker urteilen sollten, nach denen sich die Gagensätze auf Stundenbasis bemaßen, häufig mit lokalen Kulturfunktionären, aber auch Profimusikern, Musikpädagogen und Musikwissenschaftlern besetzt waren, öffnete Willkür und Machtmissbrauch Tür und Tor. Die Frage der Zensur, die es in der DDR offiziell nicht gab, wurde durch das Einstufungsverfahren außerdem auf ein ästhetisches Diskursfeld verschoben. Politische oder obszöne Texte, die häufig der eigentliche Stein des Anstoßes waren, wurden vor diesem Hintergrund häufig erst gar nicht behandelt.

Angesichts des ausgestellten Dilettantismus vieler Bands und ihres provokativen Auftretens gegenüber arrivierten Musikern war es für das MfS häufig ein Leichtes, dahingehend Einfluss auf Musikexperten zu nehmen, dass sie die gewünschten Urteile fällten.25Vgl. weitere Fallbeispiele in Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 395–413. In den Augen vieler Profimusiker unterliefen Punkbands das Leistungsprinzip. Eine professionelle Ausbildung, Fleiß und jahrelanges Training, Spielfertigkeit und musiktheoretische Kenntnisse sollten letzten über den Status der Bands entscheiden. Mit der Popularität von Punk und New Wave wurde das an die Rockmusik angelegte Leistungsprinzip radikal in Frage gestellt.26Von Auseinandersetzungen unter Musikern zu diesen Fragen zeugt der Interviewband Jürgen Balitzki (Hg.), Rock aus erster Hand, Berlin [Ost] 1985.

Den Punkbands ohne Spielerlaubnis blieben deshalb nur Auftritte im Privaten oder in kirchlichen Räumen, wo sie vor unmittelbaren staatlichen Eingriffen geschützt waren.

Kunst- und Musikfestivals unter Beteiligung von Punkbands in Kultureinrichtungen wie 1985 die Intermedia I in Coswig blieben die Ausnahme.27Barbara Büscher, „Intermedia DDR 1985. Ereignis und Netzwerk“, MAP – Media | Archive | Performance. Forschungen zu Medien, Kunst und Performance, Leipzig 2010, http://www.perfomap.de/map2/geschichte/intermedia-ddr (4. 4. 2022). Neben einigen Berliner Kirchengemeinden, die den Punks Zuflucht boten, sind hier vor allem Gemeinden in Halle, Leipzig und Jena als weitere Auftrittsorte hervorzuheben. Gemäß der Formel „Kirche ist für alle da, aber nicht für alles“, führten Auftritte von Punkbands im Rahmen der Offenen Arbeit zu scharfen Auseinandersetzungen innerhalb der evangelischen Kirche.28Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, Kapitel 3.5.

Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wandelte sich die Einstufungspraxis. Immer mehr Musikexperten emanzipierten sich nun von Versuchen staatlicher Einflussnahme. Zahlreiche Punk- und New-Wave-Bands, die ihrerseits nun weniger radikal auftraten, erhielten schließlich eine Einstufung (und in der Folge eine staatliche Spielerlaubnis). Einmal legalisiert, eröffneten sich den Bands zahlreiche Gelegenheiten für Auftritte in Jugendklubs.

Repressionen

Punks in der DDR und insbesondere Musiker als exponierte Vertreter der Subkultur waren in der DDR das flächendeckende Ziel systematisch angelegter Repression. Die Negativmerkmale Jugendlicher und entsprechende Repressionsmaßnahmen waren bereits Mitte der 1960er Jahre infolge des Kahlschlagplenums definiert worden und richteten sich ursprünglich gegen Anhänger der Beatbewegung, später gegen Tramper, Blueser und Langhaarige.29Vgl. Michael Rauhut, Ohr an Masse – Rockmusik im Fadenkreuz der Stasi, in: Peter Wicke und Lothar Müller (Hg.): Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente, Berlin 1996, 28–47.

Repressionskriterien und -maßnahmen waren einerseits ideologisch motiviert, wenn es beispielsweise um die Verfolgung oppositioneller Jugendlicher aus dem kirchlichen Umfeld ging; andererseits verweisen verwendete Termini wie „Arbeitsscheue bzw. Arbeitsbummelanten“30Erich Mielke, Dienstanweisung 4/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen der DDR, 15. 5. 1966, BArch, MfS, BdL-Dok. Nr. 1083. sowie „asoziales Verhalten“ oder „Rowdytum“ als Straftatbestände auf eine lange Tradition der Kriminalisierung von abweichendem Verhalten, die sich bis ins wilhelminische Kaiserreich zurückverfolgen lässt.31Vgl. Sven Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005, 23–60; vgl. Dorothee Wierling, Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre, in: Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, 404–425; vgl. Thomas Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln, Weimar und Wien 2003, 367–443. Repressionen gegen jugendliche Subkulturen trafen auf die stillschweigende Zustimmung der Mehrheitsgesellschaft, wobei Denunziantentum und aktives Mittun weit über regimetreue Kreise hinaus reichte.32Vgl. Thomas Lindenberger, Tacit Minimal Consensus. The Always Precarious East German Dictatorship, in: Paul Corner (Hg.), Popular Opinion in Totalitarian Regimes. Fascism, Nazism, Communism, Oxford u. a. 2009, 208–222, 215.

Der Katalog an Repressionsmaßnahmen und -techniken war umfangreich: Reglementierung in Schule und Beruf, Einberufung zum Wehrdienst, ständige Schikanen durch die Volkspolizei, Platzverweise, Aufenthalts-, Gaststätten- und Begegnungsverbote sowie kurzzeitige Festnahmen waren für deviante Jugendliche an der Tagesordnung.

Bereits bevor sich eine Punkszene in der DDR formierte, hielten die Sicherheitsbehörden ab 1978 Ausschau nach ersten Vertretern der Subkultur.33Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 127 f. Ausführliche Berichte der Westmedien über oppositionelle Jugendliche in der DDR führten auch zu einer erhöhten Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden.

In der Lesart des MfS handelte es sich hierbei um die Folgen der „politisch-ideologischen Diversion des Gegners“, der sich „mit Unterstützung der westlichen Massenmedien“ darum bemühe, 

„die Punker in der DDR als oppositionelle Jugendbewegung darzustellen, eine entsprechende Rückwirkung auf die in der DDR existierenden Punkanhänger hinsichtlich der weiteren Verbreitung ihrer Anschauungen, der weiteren Stabilisierung ihrer Organisationsformen sowie deren oppositionellen Verhaltens gegenüber staatlichen Organen zu erzielen.“34BArch, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 3667, Bl. 2–45, Bl. 27.

Dem MfS blieb auch nicht verborgen, dass sich bis 1983 zahlreiche Punkbands gegründet hatten, die mangels Alternativen vorwiegend in Kirchenräumen auftraten, da diese geschützt vor dem unmittelbaren staatlichen Zugriff waren.

Vor allem evangelische Gemeinden, in denen offene Jugendarbeit bzw. die Offene Arbeit aktiv war, entwickelten sich zu DDR-weiten Anziehungspunkten für die Punkszene. In Kirchen wie der Christusgemeinde Halle fanden regelrechte Punkfestivals mit mehreren Hundert Besuchern statt. Die Sicherheitsbehörden zeigten sich von solchen nach ihren Maßgaben illegalen Zusammenkünften zunehmen alarmiert.

Folgenreich sollte ein Auftritt der Gruppe Namenlos im Rahmen einer Bluesmesse in Ost-Berlin im Juni 1983 sein: Vor mehreren Hundert Zuhörern setzte die Band in ihren Texten das MfS mit der SS des Nationalsozialismus gleich und übte scharfe Kritik an den Parteiführungen der SED und der KPdSU. Die flächendeckende Repression gegen Punks eskalierte, als Stasi-Chef Erich Mielke daraufhin persönlich „Härte gegen Punk“ befahl.35BArch, MfS, AU, Nr. 4425/84, Bd. 1, Bl. 178–180.

Die Stasi bearbeitete fortan zahlreiche Punkbands in „Operativen Vorgängen“ (OV), wobei das ganze Arsenal geheimdienstlicher Maßnahmen zum Einsatz kam. Dies reichte von geheimen Wohnungsdurchsuchungen über Postkontrolle bis hin zum Abhören von Telefonen und Wohnungen. Auch versuchte das MfS – bisweilen erfolgreich – Punks und besonders Bandmitglieder als „Inoffizielle Mitarbeiter“ (IM) anzuwerben, teilweise unter Zwang.

Mittels sogenannter Zersetzungsmaßnahmen versuchte das MfS Verunsicherung, Misstrauen, die Verschärfung von Konfliktsituationen sowie Angst und Paranoia innerhalb der Szene zu schüren.

Gegen zahlreiche Punks wurden Haftstrafen verhängt, die von wenigen Wochen bis zu mehreren Jahren dauerten. Grundlage waren Gummiparagraphen wie öffentliche Herabwürdigung, staatsfeindliche Hetze, ungesetzliche Verbindungsaufnahme, Asozialität oder Rowdytum. Für manche Punks folgte auf die Haft die Ausreise in den Westen, nachdem die BRD sie freigekauft hatte. Wenngleich viele Inhaftierte nicht mit einer solch harten Strafe rechneten, sind Fälle überliefert, in denen Punks die Verurteilung zu einer Haftstrafe regelrecht provozierten, im Wissen und der Absicht, dass gute Chancen auf einen Freikauf durch die BRD bestünden.36Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 278–286.

Punks die in die BRD oder nach West-Berlin ausgereist waren, blieben weiter unter Beobachtung des MfS. Rückverbindungen in die DDR versuchte das MfS gezielt zu verhindern oder den Informationsfluss mittels IM abzuschöpfen oder zu manipulieren. 

Krise des DDR-Rock im Zeichen der Neue Deutsche Welle (NDW)

Nach den Auseinandersetzungen um die Beatmusik in den 1960er Jahren und Liberalisierungstendenzen in den frühen 1970er Jahren, entwickelte sich in der DDR eine deutschsprachige Rockmusik, die von staatlicher Seite mit großem Aufwand gefördert wurde und beim heimischen Publikum äußerst erfolgreich war.37Vgl. bspw. Michael Rauhut, Rock in der DDR. 1964 bis 1989, Bonn 2002.

Auf lange Sicht als besonders problematisch erwies sich die bereits 1978 von der SED proklamierte Linie, hinter die sich später nicht zurückweichen ließ. In der Parteipresse wurde Punk als ein Krisensymptom des Kapitalismus präsentiert und die zugrundeliegende Frustration Jugendlicher in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der damals hohen Jugendarbeitslosigkeit gestellt.38Bspw. Ingolf Bossenz, Krisenkultur von der Müllhalde, in: Neues Deutschland, B-Ausgabe, 33. Jg., Nr. 129 vom 3./4. 6. 1978, 16. Auf diese Weise wurde der Subkultur bereits vorab jegliche Existenzberechtigung entzogen.

Punk wurde vor diesem Hintergrund anfangs höchstens als Negativfolie behandelt. Zu Beginn der 1980er Jahre postulierte ein Musikredakteur und Kulturfunktionär etwa:

„Punk hat für unsere Musikentwicklung keinerlei Einfluß. Drei Gründe sind dafür entscheidend:
Erstens sind die musikalischen Elemente die ursächlichsten der Rock-Musik überhaupt und somit für eine entwickelte Rock-Musik bedeutungslos. Zweitens ist Punk nur zu verstehen im konkreten gesellschaftlichen Kontext. Drittens widerspricht Punk unseren sozialistischen Normen für Moral und Ethik.“39Stefan Lasch, PS: Rock-Musik, Berlin [Ost] 1980, 94.

Erst mit dem Erfolgs der Neuen Deutschen Welle (NDW), als deren Kehrseite die stetig sinkende Beliebtheit des DDR-Rock der 1970er Jahre zu beobachten war, setzten Diskussionen um Öffnung innerhalb des Kulturapparates ein. Angesichts des Erfolgs von Punk, Post-Punk, New Wave und der daraus hervorgegangenen NDW stellte sich die Frage nach der Positionierung von DDR-Rockmusikern, des Rundfunks, Kadern des Kulturapparates, aber auch Kultur- und Musikwissenschaftler.

Die Auseinandersetzungen um Vitalisierungspotenziale der NDW für die DDR-Rockmusik eskalierten schließlich bei der Kulturkonferenz der FDJ 1982. Vorab veröffentlichte der Zentralrat der FDJ ein Interview mit der Artrock-Gruppe Lift unter der Überschrift Kein Clown und kein Dilettant soll auf der Bühne stehen.40Wie auch folgendes Zitat: Interview Gruppe Lift: Rockmusiker – Weder Clowns noch Dilettanten. Forum-Gespräch mit der Gruppe Lift in Vorbereitung der FDJ-Kulturkonferenz, in: Forum – Organ des Zentralrates der FDJ 36, Heft 10 [2. Maiheft] (1982), 8 f. Darin wurden – wie auch in weiteren Reden hochrangiger Funktionäre bei der Konferenz – jeglichen Bestrebungen Einflüsse der NDW in die Rockmusik der DDR zu integrieren eine Absage erteilt:

„Was sich da an New Wave, Funk [sic!], Punk oder in der BRD als sogenannte Neue Deutsche Welle usw. abspielt, kann für unsere Musikentwicklung wohl kaum die richtige Alternative sein. […] Vom Musikalischen wird – abgesehen von elektronischen Mätzchen – kaum Neues geboten, man verflacht zunehmend. Und die Texte erscheinen zwar auf den ersten Blick sozialkritisch und aufmüpfig, aber bei tieferem Ausloten bleibt davon wenig übrig. Letztlich läuft hier auch alles auf Kommerz hinaus.“ 

Dementgegen versuchten Musikwissenschaftler wie Peter Wicke, Punk, New Wave und NDW mit Diskursmustern des Sozialistischen Realismus in Einklang zu bringen. Im Gegensatz zum Art-Rock sei „der ästhetische Minimalismus von Punk und New Wave dagegen ist erst einmal auf zum großen Teil unberechtigte Vorbehalte gestoßen, obwohl deren sozialer Realismus doch eine ganz andere, uns eigentlich viel näherstehende Sprache spricht.“41Peter Wicke, Populäre Musik und sozialistische Kultur. Theoretische und kulturpolitische Dimensionen eines sozialistischen Konzepts massenhafter musikvermittelter Kulturprozesse, in: Informationen [Unterhaltungskunst] 6 (1984), 1–5, 2.

Vieles spricht dafür, dass hier in erster Linie ästhetische Präferenzen sowie handfeste Interessen im Hinblick auf die zu verteilenden Ressourcen ausschlaggebend waren, die es dann jeweils ideologisch zu legitimieren galt.42Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 46 f.; vgl. zur Verschränkung musikwissenschaftlicher Forschung und taktischer Legitimation auf kulturpolitischem Gebiet Nina Noeske und Matthias Tischer, Prolegomena zu einer Musikgeschichte der DDR, in: Die Musikforschung 59 (2006), 346–356, 348.

Letztlich folgte der Kulturapparat keiner einheitlichen Linie. Vielmehr sind eine Reihe mehr oder minder pragmatischer Einzelfallentscheidungen zu beobachten, die häufig im Widerspruch zur offiziell propagierten Ablehnung negativer ‚westlicher‘ Einflüsse standen.

Während arrivierte Vertreter des DDR-Rock wie zum Beispiel die Puhdys die späte, schlagerhafte NDW mit harmlosen Texten reibungslos adaptierten, stießen Bands immer dann auf Widerstände, wenn sie sich unverstellte Beschreibung des Alltags Jugendlicher in ihren Texten bemühten (bspw. Pankow), allzu ausgefallene Outfits westlicher Vorbilder adaptieren (Keks, Silly) oder nach Maßgaben der arrivierten Rockmusiker mit Musikhochschulausbildung über ungenügende Spielkenntnisse verfügten.43Vgl. die zahlreichen Interviews mit DDR-Rockbands in Jürgen Balitzki (Hg.), Rock aus erster Hand, Berlin [Ost] 1985. Dies führte unter den professionellen Rockmusikern zu Spannungen, Frustrationen und Ermüdungserscheinungen, seltener gar zu Verboten oder anderweitigen handfesten Repressionen. Hiervon war zuvorderst der harte Kern der Subkultur mit Kontakten zur kirchlichen Opposition betroffen.

Die Widersprüchlichkeit zwischen offizieller Argumentation und kulturpolitischer Praxis blieb dem jugendlichen Publikum nicht verborgen, wie zum Beispiel zahlreiche Zuschriften an den DDR-Rundfunk zeigen.44Vgl. bspw. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 194–197. Im Ergebnis wandte sich das Publikum von den etablierten DDR-Rockbands ab, die in Zeiten zunehmender Individualisierung und Ausdifferenzierung verschiedenster Subgenres auf der einen Seite und kommerziell erfolgreichen Superstars (Madonna, Michael Jackson, Prince, etc.) auf der anderen Seite immer mehr an Anziehungskraft verloren.

Zwischen Liberalisierung und Kontrollverlust: die zweite Hälfte der 1980er Jahre

Spätestens ab Gorbatschows Amtsantritt und den damit verbundenen Reformankündigungen sind zur Krise der sogenannten Jugendtanzmusik vermehrt offene Konfrontationen innerhalb des Apparates zu beobachten, wobei Streitgegenstände vom Einstufungssystem über Fördermechanismen bis hin zur Lektoratspolitik beim Rundfunk reichte. Kulturfunktionäre der unteren Ebene, Jugendklubleiter, Mitglieder von Einstufungskommissionen, Rundfunkredakteure aber auch die Musik selbst traten gegenüber dem Partei- und Sicherheitsapparat zunehmend selbstbewusster auf.

Vorgänge um die Einstufung der Gruppe Der Demokratische Konsum belegen beispielsweise, dass trotz vielfältiger Einflussnahme durch das MfS Kommissionsmitglieder und Mitarbeiter des Kulturapparates nicht länger bereit waren, die gewünschten negativen Urteile zu Fällen. MfS und SED zeigten sich mit solchen Formen des Kontrollverlusts zunehmend überfordert und Verstöße blieben immer häufiger folgenlos, was wiederum manche FDJ-Funktionäre in ihrer eigenwilligen Förderpolitik bestätigte.

Erst im Februar 1988 fasste das Politbüro einen weitreichenden Beschluss zum Umgang mit jugendlichen Subkulturen, der auf einer Information der FDJ beruhte.45Vgl. zum Folgenden Michael Rauhut, Schalmei und Lederjacke. Udo Lindenberg, BAP, Underground: Rock und Politik in den achtziger Jahren, Berlin 1996, 229–232. Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, dass die Jugend- und Kulturpolitik der DDR nicht nur von westlicher Seite zunehmend unter Druck geriet, sondern ausgehend von der Sowjetunion auch andere Staaten des Ostblocks eine immer liberalere Politik verfolgten. Als weiteres einflussreiches Ereignis ist ein Überfall von rechten Skinheads auf ein Konzert der Gruppen Element of Crime aus West-Berlin und Die Firma anlässlich einer Punk-Hochzeit in der Ost-Berliner Zionskirche zu nennen.46Vgl. ausführlich Dirk Moldt, „Keine Konfrontation!“. Die Rolle des MfS im Zusammenhang mit dem Überfall von Skinheads auf ein Konzert in der Berliner Zionskirche am 10. Oktober 1987, in: Horch und Guck 11/4 (2002), 14–25. Das Versagen der Sicherheitsbehörden, unter deren Augen der Überfall stattfand, die Gleichsetzung von Opfern und Tätern in DDR-Medien, die vergleichsweise milden Strafen für die rechten Gewalttäter (die später verschärft wurden), all dies führte auch innerhalb Apparates zu massiven Protesten. Die über Jahre tabuisierte aber nun offensichtliche Existenz rechter Skinheads und Neonazis rüttelte erheblich am antifaschistischen Selbstverständnis der DDR. Der Vorfall setzte auch die FDJ erheblich unter Druck, wurde doch einmal mehr publik, dass jugendliche Subkulturen außerhalb der Verbandsstrukturen sich dem staatlichen Einfluss entzogen.

Nach Jahren der Stigmatisierung und Diffamierung als „negativ-dekadent“ sollte es nun darum gehen, Anhänger jugendlicher Subkulturen nicht länger auszugrenzen und zu reintegrieren: „Die FDJ bleibt dabei, jeden Jugendlichen vor allem an seiner Haltung und seinen Leistungen für den Sozialismus und nicht an seiner äußerlichen Erscheinung zu messen“.47Information des Zentralrates der FDJ über Versuche des Klassenfeindes, verstärkt politisch-ideologischen Einfluß auf die Jugend zu nehmen. Maßnahmen der FDJ zur Verbesserung der politisch-ideologischen Arbeit mit allen Jugendlichen vom 2. 2. 1988, SAPMO, DY 30/44232, Bl. 101–115, Bl. 106; auszugsweise dokumentiert in: Ulrich Mählert und Gerd Rüdiger Stephan, Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, 241 f.

In der Folge organisierte die FDJ nicht nur große Rockkonzerte mit Westbands wie Depeche Mode, sondern stattete nun auch einheimische Punk- und New-Wave-Bands mit Förderverträgen aus. Bands wie den Skeptikern „mit ihrer punkorientieren Musik“ wurde bei Wettbewerben nun „außerordentliche Ausdruckskraft und soziales Engagement“ bescheinigt. Wurde Punk in den Jahren zuvor noch jeder musikalische Gehalt abgesprochen, waren die Gutachter nun voll des Lobes „angesichts des rasanten und druckvollen Konzepts, welches jedem Musiker Höchstleistungen abfordert“.48Protokoll zu einem Auftritt der Gruppe Skeptiker bei der Werkstattwoche Jugendtanzmusik 1988, SAPMO, DY 24/20626.

Punk- und New-Wave-Bands, die infolge der Förderung Zugang zu Produktionsressourcen erhielten und vor großem Publikum spielen durften, begegnete nicht selten der Vorwurf des Ausverkaufs subversiver Ideale.49So etwa Christoph Tannert, Post-Rock, auch ohne rote Sterne. DDR-Rock aus dem Unterholz, in: Kontext. Beiträge aus Kirche & Gesellschaft & Kultur 4 (1988), 55–57; dokumentiert in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit, 369–372.

Die „anderen Bands“ und ihre massenmediale Popularisierung

Aufgrund seiner herausragenden Bedeutung verdienen einige Entwicklungen beim DDR-Rundfunk besondere Beachtung. Ab Mitte der 1980er Jahre baute der DDR-Rundfunk das Musikangebot für Jugendliche stetig aus. Der Erfolgsdruck, jugendliche Hörer für das Radioprogramm zu gewinnen und an sich zu binden, führte zu einer Aushöhlung ideologischer Maßgaben.50Vgl. Edward Larkey, Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDR-Rundfunks, Münster 2007. Der Wortanteil wurde im Laufe der Jahre fortlaufend gesenkt, der Musikanteil erhöht und die eigentlich vorgeschriebene 60:40-Quote, wonach höchstens 40 Prozent der gespielten Titel aus nichtsozialistischen Staaten stammen sollten, geriet immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen versuchte der DDR-Rundfunk vermehrt mittels Musik aus dem Westen und einer Spiegelung der Ausdifferenzierung musikalischer Jugendkulturen die Nachfrage der jugendlichen Hörerschaft zu bedienen.

Mit der Rundfunkreform von 1986 wurde DT64 in ein eigenständiges Radioprogramm überführt, das mit Spezialsendungen den unterschiedlichen musikalischen Vorlieben Jugendlicher Rechnung trug. Für Punk, New Wave und hervorgegangene Subgenres fungierte ab März 1986 die Sendung Parocktikum des Radio-DJs Lutz Schramm als Plattform, aber auch zu HipHop, Heavy Metal und Elektronische Musik wurden nach und nach eigene Spezialsendungen angeboten.51Vgl. zum Folgenden ausführlich Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 356–391.

Schramm ließ sich in seiner Sendung, die ursprünglich für „interessante Rockmusik“ abseits des Mainstreams konzipiert war, beständig von Hörerwünschen leiten. In der Sendung liefen nicht nur Titel westlicher Punk- und New-Wave-Bands sondern auch Produktionen aus den sozialistischen ‚Bruderstaaten‘. Auf Initiative von Hörern spielte Schramm vermehrt selbstgefertigte Aufnahmen ostdeutscher Amateurbands, die auf gewöhnlichen Audiokassetten eingeschickt wurden. Weiter fungierte die Sendung bald als DDR-weite Kontaktbörse für auftrittswillige Bands und Konzertveranstalter in Jugendklubs, womit die eigentlich zuständige aber schwerfällige Kulturbürokratie stillschweigend umgangen wurde.

Ab 1987 bot Schramm nach dem Vorbild John Peels zahlreichen Bands die Gelegenheit im Rahmen der Parocktikum-Sessions professionelle Aufnahmen zu produzieren, die anschließend gesendet wurden. Solche Emanzipationsversuche der Rundfunkproduktion wurden besonders im Hinblick auf kritische Songtexte reglementiert. In einer Gemengelage von Bands, die sich zu Kompromissen bereit zeigten, hochrangigen Kulturfunktionären, die immer häufiger in passivem Zynismus erstarrten und Rundfunkredakteuren und -produzenten wie Schramm, die zwischen den unterschiedlichen Parteien vermittelten, entstanden jedoch zahlreiche Aufnahmen von Bands, die unter dem etwas hilflos wirkenden Rubrum „die anderen Bands“ in den späten 1980er Jahren massenmedial popularisiert wurden. Dazu zählen Gruppen wie die anderen, Feeling B (einige Mitglieder spielen heute in der Band Rammstein), Die Skeptiker, Die Vision und Die Drei von der Tankstelle, Expander des Fortschritts, AG Geige, Sandow, WK 13, Die Art (zuvor Die Zucht), Kaltfront (zuvor Paranoia) oder Cadavre Exquis (manche Mitglieder spielten zuvor bei der Punkband Planlos).

Zu nennen sind hier nicht nur zahlreiche Kritiken und Portraits der Bands in Musikzeitschriften, sondern auch zwei Veröffentlichungen auf AMIGA, die einen breiten Querschnitt verschiedenster Subgeneres abbildeten: Ein Sampler aus der Nachwuchsreihe Kleeblatt52Sampler, V.A., die anderen bands. Kleeblatt Nr. 23, AMIGA 856345, Berlin [Ost] 1988, LP. und ein weiterer Sampler zur Sendung Parocktikum unter dem Titel „die anderen Bands“.53V.A., Parocktikum, AMIGA 856409, Berlin [Ost], Mai 1989, LP. Siehe hierzu auch die ambivalenten Kritiken, die einerseits die Initiative der vertretenen Bands würdigen, andererseits mangelhafte Produktionsweise und Sound kritisieren: Ronald Galenza, „die anderen bands“. Kleeblatt Nr. 23, in: Melodie und Rhythmus 9 (1988), 8; Jürgen Balitzki, die anderen Bands, in: Unterhaltungskunst 9 (1988), 22 f. 1988 konnte eine breite Öffentlichkeit die Resultate eines zunehmenden Kontrollverlusts in den unteren Ebenen des Kulturapparates und zaghaften Liberalisierungstendenzen auch im Kino besichtigen. Die abendfüllende Doku flüstern & SCHREIEN – Ein Rockreport portraitierte Bands wie Feeling B und Sandow, auch ihre Fans kommen zur Sprache.54Dieter Schumann und Jochen Wisotzki, flüstern & SCHREIEN. Ein Rockreport, DEFA, 1988.

Letztlich spricht vieles dafür, dass die Eingemeindungen von Punk, New Wave und Indie Rock mehr als Ausdruck des inneren Zerfalls der Sicherheits-, Jugend- und Kulturpolitik zu deuten sind und weniger strategischen Überlegungen zur Einhegung vermeintlich devianter oder gar oppositioneller Jugendkulturen.55Vgl. Edward Larkey, Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDR-Rundfunks, insb. 27; vgl. ausführlich Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 483–487. 

1989, Folgejahre und Aufarbeitung

Mit dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung verschwanden auch zahlreiche Institutionen und weite Teile der kritischen Infrastruktur der Szene. Das Jugendradio DT64 wurde abgewickelt, viele Jugendklubs, die vormals von der FDJ oder Volkseigenen Betrieben getragen wurden, mussten schließen. Dieser Substanzverlust konnte – abgesehen von Berlin – auch nicht durch zahlreiche Neueröffnungen von Clubs in besetzten Häusern kompensiert werden.56Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer, Im musikalischen Niemandsland. Unerhörte Produktionen am Rande der Rockkultur, in: Positionen. Beiträge zur neuen Musik 9 (1991), 9–15; wiederabgedruckt in: Carsten Seiffarth u. a. (Hg.), Sound exchange. Experimentelle Musikkulturen in Mittelosteuropa, Saarbrücken 2012, 72–85.

Auch das Publikum zeigte kaum noch Interesse an Musik ostdeutscher Provenienz und stille seinen Nachholbedarf endlich die westlichen, vermeintlichen Originale zu hören.

In der Folge lösten sich zahlreiche Bands auf. Vielen erschien ihr gesamtes Repertoire wertlos geworden, arbeiteten sich doch viele Texte an den DDR-Verhältnissen entlang roter Linien ab. Andere Bands zerbrachen an MfS-Enthüllungen, individueller Lebensplanung, Reisen. Wiederum andere suchten sich Jobs, unterschätzten das Sozialsystem der BRD oder wollten einen Schlussstrich unter die DDR in der eigenen Biographie setzen.

Ab den späten 1990er Jahren wandelte sich das Verhältnis zahlreicher Akteure zu ihrer DDR-Biographie. Hiervon zeugen nicht nur zahlreiche Band-Reunions und Nachveröffentlichungen von Audiomaterial aus den 1980er Jahren, die bis heute reichen. Zu Punk, New Wave und alternativer Musikszene waren ab Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Ausstellungen und Filmdokumentationen zu besichtigen, und es erschienen umfangreiche autobiographische Sammelbände, geschrieben und zusammengetragen von damaligen Akteuren.57Bswp. Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Hg.), Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR 1980–1990, überarb. und erw. Neuausg., Berlin 2013; Carsten Fiebeler und Michael Boehlke, Ostpunk! Too much future, Good!Movies, 2008, DVD; Alexander Pehlemann und Ronald Galenza (Hg.), Spannung. Leistung. Widerstand. Magnetbanduntergrund DDR 1979–1990, Berlin 2006. Die wesentlichen Impulse zur Aufarbeitung gingen somit nicht von der Wissenschaft, sondern ehemaligen Akteuren der Szene aus.

Literatur

Binas, S.: Die „anderen“ Bands und ihre Kassettenproduktionen – Zwischen organisiertem Kulturbetrieb und selbstorganisierten Kulturformen, in: P. Wicke und L. Müller (Hg.): Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente, Berlin 1996, 48–60

Boehlke, M. und H. Gericke (Hg.): Too much future – Punk in der DDR, erw. und veränd. Neuaufl., Berlin 2007

Galenza, R. und A. Pehlemann (Hg.), Spannung. Leistung. Widerstand. Magnetbanduntergrund DDR 1979–1990, Berlin 2006

Galenza, R. und H. Havemeister (Hg.): Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR 1980–1990, überarb. und erw. Neuausg., Berlin 2013

Hornberger, B.: Geschichte wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutscher Popmusik, Würzburg 2011

Hecken, T.: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009, Bielefeld 2009

Korzilius, S.: „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005

Larkey, E.: Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDR-Rundfunks, Berlin 2007

Lipp, F.: Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR. Akteure – Konfliktfelder – musikalische Praxis, Münster 2021

Rauhut, M.: Ohr an Masse – Rockmusik im Fadenkreuz der Stasi, in: P. Wicke und L. Müller (Hg.): Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente, Berlin 1996, 28–47

Rauhut, M: Schalmei und Lederjacke. Udo Lindenberg, BAP, Underground: Rock und Politik in den achtziger Jahren, Berlin 1996

Stock, M. und P. Mühlberg: Die Szene von innen. Skinheads, Grufties, Heavy Metals, Punks, Berlin 1990

Wicke, P. und L. Müller (Hg.): Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente, Berlin 1996

Anmerkungen

  1. Kenneth Hudson, A Dictionary of the Teenage Revolution and Its Aftermath, London 1983, 149.
  2. Vgl. bspw. Thomas Hecken, Punk, in: ders. und Marcus S. Kleiner (Hg.), Handbuch Popkultur, Stuttgart 2017, 72–77.
  3. Der Spiegel, 32. Jg., Nr. 4 vom 22. 1. 1986; online unter https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1978-4.html (4. 4. 2022).
  4. So z. B. Peter Marsh, Arbeitslosen-Rock [zuerst veröffentlich als Dole Queue Rock, in: New Society vom 20. Januar 1977], in: Rolf Lindner (Hg.), Punk Rock, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1981 [1978], 25–33, 31.
  5. Dick Hebdige, Subculture: The Meaning of Style, London 1979.
  6. Vgl. Mike Brake, Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung [erstmalig erschienen als The Sociology of Youth Culture and Youth Subcultures, London 1980], Frankfurt a. M. u. a. 1981, 167.
  7. Ian Goodyer, Crisis Music: The Cultural Politics of Rock Against Racism, Manchester 2009.
  8. Vgl. Detlef Siegfried, Klingt gut, ist falsch. Legitimitätskämpfe um Popmusik in der linken Szene der 1970er-Jahre, in: Mittelweg 36, Bd. 25, 4–5 (2016), 5–49, 36 f.
  9. Vgl. Thomas Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009, Bielefeld 2009, 337–339, vgl. zur Konstruktion dieses Gegensatzes zwischen Rock und Pop ebd., 184–238.
  10. Bspw. Caroline Coon, 1988: The New Wave Punk Rock Revolution, London 1977.
  11. Vgl. Thomas Hecken, Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009, Bielefeld 2009, 371–378.
  12. Barbara Hornberger, Geschichte wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutscher Popmusik, Würzburg 2011.
  13. Vgl. zum Folgenden Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, Kapitel 3.3 Transfer, Aneignung, Umdeutung, Ausdifferenzierung.
  14. Diese Wahrnehmung des MfS schloss nahtlos an Feindbilder an, die infolge des Kahlschlagplenums 1965 definiert wurden. Siehe hierzu Erich Mielke, Befehl 11/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen der DDR, 15. 5. 1966, BArch, MfS, BdL-Dok. Nr. 1080, sowie Dienstanweisung 4/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen der DDR, 15. 5. 1966, BArch, MfS, BdL-Dok. Nr. 1083; beide Grundsatzdokumente behielten bis 1989 ihre Gültigkeit.
  15. Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 122–129.
  16. Vgl. zum Folgenden detailliert: Peter Wicke und Lothar Müller (Hg.), Rockmusik und Politik, Berlin 1996. Siehe auch Artikel Honorare: https://mugo.hfmt-hamburg.de/de/topics/87.
  17. Peter Wicke, Rock Around Socialism. Jugend und ihre Musik in einer gescheiterten Gesellschaft, in: Dieter Baacke (Hg.), Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1997, 293–304.
  18. Vgl. detailliert Florian Lipp: „Keinerlei Textverständlichkeit“ – „Keyboard oft nicht rhythmisch“. Staatliche Einstufungspraxis in der späten DDR am Beispiel von Punk- und New-Wave-Bands, 2016, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/228328/keinerlei-textverstaendlichkeit-keyboard-oft-nicht-rhythmisch (4. 4. 2022).
  19. Split-LP Zwitscher-Maschine/Sau-Kerle, DDR von unten. eNDe, Aggressive Rockproduktionen AG 0019, Berlin [West] 1983, LP.
  20. V.A., „Live“ In Paradise DDR, Good Noise VGNS 2028, Berlin [West] 1985.
  21. L’Attentat, Made in GDR, X-Mist Records XM-006, Nagold 1987.
  22. Siehe die Diskographie und Kassettographie in Ronald Galenza, Heinz Havemeister (Hg.), Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR 1980–1990, überarb. und erw. Neuausg., Berlin 2013, 713–742.
  23. Vgl. ausführlich Olaf Leitner, Rockszene DDR. Aspekte einer Massenkultur im Sozialismus, Reinbek bei Hamburg 1983, 142–149.
  24. Vgl. zum Folgenden u. a. das Beispiel Wutanfall in Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 297–304.
  25. Vgl. weitere Fallbeispiele in Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 395–413.
  26. Von Auseinandersetzungen unter Musikern zu diesen Fragen zeugt der Interviewband Jürgen Balitzki (Hg.), Rock aus erster Hand, Berlin [Ost] 1985.
  27. Barbara Büscher, „Intermedia DDR 1985. Ereignis und Netzwerk“, MAP – Media | Archive | Performance. Forschungen zu Medien, Kunst und Performance, Leipzig 2010, http://www.perfomap.de/map2/geschichte/intermedia-ddr (4. 4. 2022).
  28. Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, Kapitel 3.5.
  29. Vgl. Michael Rauhut, Ohr an Masse – Rockmusik im Fadenkreuz der Stasi, in: Peter Wicke und Lothar Müller (Hg.): Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente, Berlin 1996, 28–47.
  30. Erich Mielke, Dienstanweisung 4/66 zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen der DDR, 15. 5. 1966, BArch, MfS, BdL-Dok. Nr. 1083.
  31. Vgl. Sven Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005, 23–60; vgl. Dorothee Wierling, Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre, in: Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, 404–425; vgl. Thomas Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln, Weimar und Wien 2003, 367–443.
  32. Vgl. Thomas Lindenberger, Tacit Minimal Consensus. The Always Precarious East German Dictatorship, in: Paul Corner (Hg.), Popular Opinion in Totalitarian Regimes. Fascism, Nazism, Communism, Oxford u. a. 2009, 208–222, 215.
  33. Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 127 f.
  34. BArch, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 3667, Bl. 2–45, Bl. 27.
  35. BArch, MfS, AU, Nr. 4425/84, Bd. 1, Bl. 178–180.
  36. Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 278–286.
  37. Vgl. bspw. Michael Rauhut, Rock in der DDR. 1964 bis 1989, Bonn 2002.
  38. Bspw. Ingolf Bossenz, Krisenkultur von der Müllhalde, in: Neues Deutschland, B-Ausgabe, 33. Jg., Nr. 129 vom 3./4. 6. 1978, 16.
  39. Stefan Lasch, PS: Rock-Musik, Berlin [Ost] 1980, 94.
  40. Wie auch folgendes Zitat: Interview Gruppe Lift: Rockmusiker – Weder Clowns noch Dilettanten. Forum-Gespräch mit der Gruppe Lift in Vorbereitung der FDJ-Kulturkonferenz, in: Forum – Organ des Zentralrates der FDJ 36, Heft 10 [2. Maiheft] (1982), 8 f.
  41. Peter Wicke, Populäre Musik und sozialistische Kultur. Theoretische und kulturpolitische Dimensionen eines sozialistischen Konzepts massenhafter musikvermittelter Kulturprozesse, in: Informationen [Unterhaltungskunst] 6 (1984), 1–5, 2.
  42. Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 46 f.; vgl. zur Verschränkung musikwissenschaftlicher Forschung und taktischer Legitimation auf kulturpolitischem Gebiet Nina Noeske und Matthias Tischer, Prolegomena zu einer Musikgeschichte der DDR, in: Die Musikforschung 59 (2006), 346–356, 348.
  43. Vgl. die zahlreichen Interviews mit DDR-Rockbands in Jürgen Balitzki (Hg.), Rock aus erster Hand, Berlin [Ost] 1985.
  44. Vgl. bspw. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 194–197.
  45. Vgl. zum Folgenden Michael Rauhut, Schalmei und Lederjacke. Udo Lindenberg, BAP, Underground: Rock und Politik in den achtziger Jahren, Berlin 1996, 229–232.
  46. Vgl. ausführlich Dirk Moldt, „Keine Konfrontation!“. Die Rolle des MfS im Zusammenhang mit dem Überfall von Skinheads auf ein Konzert in der Berliner Zionskirche am 10. Oktober 1987, in: Horch und Guck 11/4 (2002), 14–25.
  47. Information des Zentralrates der FDJ über Versuche des Klassenfeindes, verstärkt politisch-ideologischen Einfluß auf die Jugend zu nehmen. Maßnahmen der FDJ zur Verbesserung der politisch-ideologischen Arbeit mit allen Jugendlichen vom 2. 2. 1988, SAPMO, DY 30/44232, Bl. 101–115, Bl. 106; auszugsweise dokumentiert in: Ulrich Mählert und Gerd Rüdiger Stephan, Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996, 241 f.
  48. Protokoll zu einem Auftritt der Gruppe Skeptiker bei der Werkstattwoche Jugendtanzmusik 1988, SAPMO, DY 24/20626.
  49. So etwa Christoph Tannert, Post-Rock, auch ohne rote Sterne. DDR-Rock aus dem Unterholz, in: Kontext. Beiträge aus Kirche & Gesellschaft & Kultur 4 (1988), 55–57; dokumentiert in: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Freiheit und Öffentlichkeit, 369–372.
  50. Vgl. Edward Larkey, Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDR-Rundfunks, Münster 2007.
  51. Vgl. zum Folgenden ausführlich Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 356–391.
  52. Sampler, V.A., die anderen bands. Kleeblatt Nr. 23, AMIGA 856345, Berlin [Ost] 1988, LP.
  53. V.A., Parocktikum, AMIGA 856409, Berlin [Ost], Mai 1989, LP. Siehe hierzu auch die ambivalenten Kritiken, die einerseits die Initiative der vertretenen Bands würdigen, andererseits mangelhafte Produktionsweise und Sound kritisieren: Ronald Galenza, „die anderen bands“. Kleeblatt Nr. 23, in: Melodie und Rhythmus 9 (1988), 8; Jürgen Balitzki, die anderen Bands, in: Unterhaltungskunst 9 (1988), 22 f.
  54. Dieter Schumann und Jochen Wisotzki, flüstern & SCHREIEN. Ein Rockreport, DEFA, 1988.
  55. Vgl. Edward Larkey, Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDR-Rundfunks, insb. 27; vgl. ausführlich Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR, Münster 2021, 483–487.
  56. Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer, Im musikalischen Niemandsland. Unerhörte Produktionen am Rande der Rockkultur, in: Positionen. Beiträge zur neuen Musik 9 (1991), 9–15; wiederabgedruckt in: Carsten Seiffarth u. a. (Hg.), Sound exchange. Experimentelle Musikkulturen in Mittelosteuropa, Saarbrücken 2012, 72–85.
  57. Bswp. Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Hg.), Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR 1980–1990, überarb. und erw. Neuausg., Berlin 2013; Carsten Fiebeler und Michael Boehlke, Ostpunk! Too much future, Good!Movies, 2008, DVD; Alexander Pehlemann und Ronald Galenza (Hg.), Spannung. Leistung. Widerstand. Magnetbanduntergrund DDR 1979–1990, Berlin 2006.

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Zitierempfehlung

Florian Lipp, Artikel „Punk und New Wave“, in: Musikgeschichte Online, hg. von Lars Klingberg, Nina Noeske und Matthias Tischer, 2018ff. Stand vom 22.11.2022, online verfügbar unter https://mugo.hfm-weimar.de/de/topics/punk-und-new-wave, zuletzt abgerufen am 30.12.2024.