Jazz
Zusammenfassung
Andererseits war der Jazz immer auch Zeugnis der offensichtlichen Unsicherheit, Unwissenheit und Inkompetenz überforderter und ratloser Kulturfunktionäre. „Das Besondere am Jazz in der DDR erwuchs letztendlich aus der besonderen geopolitischen Lage. „Ein Land, eingemauert zwischen Ost und West, in dem ‚gelernte DDR-Bürger‘ lebten, im Ohr und im Gemüt noch den Nazi-Marsch, im Nacken den Stalin-Panzer und die große, aber swinglose russische Seele. Darüber: den deutschen Stalinismus“, beschreibt der Saxofonist Ernst-Ludwig „Luten“ Petrowsky treffend die Situation.Zit. n.: Rainer Bratfisch (Hg.): Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR, Berlin 2005, 14. Der Jazzszene kam dabei zugute, dass sich ihre Musik zumeist nonverbal artikulierte und damit weniger angreifbar war als zum Beispiel die Songs der Liedermacher. Immer war die Jazzszene auch ein Abbild politischer Prozesse – von den Diskussionen über den künstlerischen Wert des Jazz zwischen einer Musik der Afroamerikaner und einem Ausdruck „amerikanischer Kulturbarbarei“ bis zu den „freien Tönen“ im „Jazzland DDR“.
Die 1950er Jahre: heißer Jazz im Kalten Krieg
Nachdem die nahezu unbegrenzten Freiräume in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre – im Osten wie auch im Westen – im Zuge der Währungsreform und der Teilung Deutschlands eingeschränkt worden waren, um die beiden Staaten und Berlin auf den sich gerade herausbildenden neuen Schlachtfeldern des Kalten Krieges in Stellung zu bringen, begann auch ein Krieg der Kulturen: Sozialistischer Realismus vs. Freiheit der Kunst, Amerikanisierung vs. sowjetischer Einfluss, Toleranz und Koexistenz vs. „Verschärfung des Klassenkampfes“. In einem Beschluss des Kleinen Sekretariats des Politbüros der SED vom 12.9.1949 „Über die Kulturarbeit des FDGB“ heißt es: „Ein besonderes Gewicht ist bei den Kulturveranstaltungen darauf zu legen, dass jede amerikanische Kulturpropaganda unterbunden wird. Darunter ist nicht nur die sinnliche Boogy-Woogy-Musik (wobei gute Jazz-Musik, Niggersongs z.B. nicht abzulehnen ist), sondern auch die versteckte und offene antidemokratische Propaganda durch Conferenciers, Schlagersänger, Humoristen usw. zu verstehen.“Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), DY 30/J IV 2/3/52.
Mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) schuf sich die DDR bereits 1950 einen Überwachungs- und Repressionsapparat, der auch den Jazz immer wieder ins Visier nahm. Wer Jazz hörte oder spielte, war per se verdächtig. Aber trotz des massiven Einsatzes von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und der verfügbaren Observierungstechnik gelang es dem MfS nicht, die Jazzszene fremdzubestimmen oder gar fernzusteuern.
Anfang der 1950er Jahre „wurde z.B. im demokratischen Rundfunk, der Schallplattenproduktion und öffentlichen Tanzmusikveranstaltungen die Flut der nervösen, amerikanischen Hotmusik eingedämmt“.Reginald Rudorf: Für eine frohe, ausdrucksvolle Tanzmusik, in: MuG 2 (1952), 247–252, 250. 1952 strich das Staatliche Rundfunkkomitee der DDR den Jazz gänzlich aus den Programmen. Ab Mai 1954 sendeten Radio DDR, der Berliner Rundfunk und der Deutschlandsender wieder regelmäßig Jazz – etwa ein Jahr lang, bis zum nächsten Verbot. Ab Mai 1956 strahlten die drei Sender insgesamt wieder neun Stunden Jazz pro Woche aus. Im Januar/Februar 1957 gab es erneut ein Verbot. Max Spielhaus, Musikalischer Leiter von Radio DDR, teilte einem Hörer auf dessen Anfrage im März 1959 mit, „dass der demokratische Rundfunk auch in Zukunft keine Jazz-Sendungen vorbereitet“.Faksimile des Schreibens in: Bratfisch (Hg.): Freie Töne, 35. Seine Begründung: „Das Problem des Jazz ist wissenschaftlich zu wenig erforscht bzw. zu einseitig dargestellt, als dass wir es z.Zt. umfassend einschätzen könnten. Die Versuche, die reaktionäre Kreise unternehmen, um mit der Jazz-Musik politische Verwirrung bei unseren jungen Menschen anzurichten, sind glücklicherweise gescheitert. Das darf jedoch jetzt nicht dazu führen, sorglos zu werden und erneut jenen Kräften Raum in unseren Sendungen zu geben, die aus der Jazz-Musik politisches Kapital schlagen.“Ebd. Erst 1961 startete Karlheinz Drechsel beim Deutschlandsender die Sendung Im Jazz Studio, aus der dann 1971 das Jazz-Panorama hervorging, das bis 1993 lief. Karlheinz Drechsel, der 1949 als Regieassistent der Hörspielabteilung aus Dresden zum Rundfunk nach Berlin kam und zu Beginn des Kalten Krieges aus „Reorganisationsgründen“ entlassen wurde, schildert die wechselvolle Geschichte des Jazz im Rundfunk anschaulich in seinem Buch.Ulf Drechsel: Karlheinz Drechsel – Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz, Rudolstadt 2011, 2. Aufl. Berlin 2011. Noch in den 1960er Jahren durften Jazztitel nur ohne Kommentar gesendet werden, die Titel mussten in deutscher Übersetzung angesagt werden.Gift von Affen, in: Der Spiegel, 21. Jg, Nr. 19 (1.5.1967), 167–169.
Ernst Hermann Meyer, Gründungsmitglied des Verbandes Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, setzte in seinem Buch Musik im ZeitgeschehenErnst H. Meyer: Musik im Zeitgeschehen, hg. von der Deutschen Akademie der Künste, Berlin 1952, 162f. Jazz im Wesentlichen mit der „kapitalistischen Amüsierindustrie“ gleich, die für ihn Ausdruck der „degenerierten Ideologie des amerikanischen Monopolkapitalismus“ war. Den Boogie-Woogie sah er stellvertretend für den Jazz als „Kanal, durch den das Gift des Amerikanismus eindringt und die Gehirne der Werktätigen zu betäuben droht“. „Diese Bedrohung ist ebenso gefährlich wie ein militärischer Angriff mit Giftgasen.“Ders.: Realismus – die Lebensfrage der deutschen Musik, in: MuG 1 (1951), 38–43, 38. Stan Kentons Komposition Fantasy empfand er als ein „abgerissenes, bösartiges, barbarisches Toben“. In einem Diskussionsbeitrag auf der 5. Tagung des ZK der SED bescheinigte er dem Jazz 1951: „Hier wird Hochzeit gefeiert zwischen dem hypermodernen Formalismus der verschiedenen Degenerationsschulen des Westens und dem synkopierten Tanzschlager.“Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Referat von Hans Lauter, Diskussion und Entschließung von der 5. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 15.–17. März 1951, Berlin 1951, 137. Diese Musik ist für ihn zu einer „billigen, parfümierten Massenware“Meyer: Realismus – die Lebensfrage der deutschen Musik, 38. geworden. Georg Knepler, Rektor der Deutschen Hochschule für Musik Berlin, war sich sicher: „Ich nehme an, dass es unter uns niemanden gibt, der nicht die Abscheulichkeit und den Inhalt dieser Musik deutlich erkennt. Das ist eine Musik, die das Chaos darstellt, die das Chaos ist, die nicht nur Kriegsvorbereitung, sondern der Krieg ist. Das ist ein Versuch, den Krieg in die Hirne der Menschen einzuschmuggeln.“Georg Knepler: Musik, ein Instrument der Kriegsvorbereitung, in: MuG 1 (1951), 56–58, 57. Vier Jahre später findet er im Jazz „Elemente der Dekadenz und der Korruption“ und konstatiert: „Der Jazz entwickelt sich in den niedrigsten Niederungen der amerikanischen Städte: in den billigsten Bier- und Schnapsbudiken, in den Nachtlokalen, in denen Gangster ein- und ausgehen, in den Bordells.“Ders.: Jazz und die Volksmusik, in: MuG 5 (1955), 181–183. Am 7. April 1955 diskutierte Reginald Rudorf, Jazzfan und Gründer des Jazzkreises Leipzig, in Berlin drei Stunden lang mit Vertretern des Ministeriums für Kultur, des Verbandes Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler (VDK) und anderen Kulturfunktionären über die Rolle des Jazz in der DDR. Der Komponist Jean Kurt Forest, einer der Gründungsmitglieder des VDK, entgegnete auf den Vorschlag Reginald Rudorfs, „Hot- oder Boogie-Woogie-Clubs zu bilden“, dass „in Deutschland nicht nach russischer oder Negermusik getanzt werden sollte, sondern nach deutscher Tanzmusik“. Seine Begründung: „Wir haben in Deutschland weder Clubs für russische Tänze, englische Tänze.“Protokoll einer Diskussion zwischen Reginald Rudorf und Verantwortlichen des Ministeriums für Kultur am 7. April 1955, SAPMO, DY 24/A392. Immer wieder wird der Jazz als kosmopolitisch, formalistisch und dekadent verteufelt.Siehe auch Uta G. Poiger: Searching for Proper New Music: Jazz in Cold War Germany. https://www.press.umich.edu/pdf/0472113844-ch5.pdf (26.7.2019).
Die von Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 eingeleitete kurze Periode des „Tauwetters“ wirkte sich mit der üblichen Verzögerung auch auf die Jazzszene der DDR aus. Es entstanden erste Jazzclubs bzw. -arbeits- oder Interessengemeinschaften, oft vom Kulturbund oder der FDJ betrieben, z.B. 1955 in Leipzig und 1959 in Eisenach. Die Presse berichtete über den Jazz, Rundfunk und Amiga nahmen den Jazz wieder ins Programm. 1956 erschien in Leipzig das Buch Neger, Jazz und tiefer SüdenErnst Bartsch: Neger, Jazz und tiefer Süden, Leipzig 1956. – mit einer 30seitigen Abhandlung zur Geschichte des Jazz. Am 5. April 1956 fand im VEB Elektro-Apparate-Werk „J. W. Stalin“ in Berlin eine Diskussion zum Thema „Jazz ja oder nein?“ statt, an der u.a. der Volkskammerabgeordnete Hermann Axen, der Rundfunkkommentator Manfred Klein, der Komponist Hanns Eisler, Junge Welt-Chefredakteur Joachim Hermann und der FDJ-Funktionär Hans Modrow teilnahmen. Hanns Eisler erklärte, dass der Jazz zwar seine Quelle „in der aufsässigen Traurigkeit der Neger“ habe, jedoch nicht zum Kult werden dürfe, der das Gehirn der Jugendlichen verkleistere. Klein versprach, dass der Rundfunk künftig regelmäßig Jazz senden werde, und Eisler sicherte zu, dass dem Jazz völlige Freiheit gewährt werde. Hanns Eisler zwei Wochen später in einem Interview: „Die Zahl der Jugendlichen, die den Jazz lieben, ist groß. Unter diesen gibt es eine große Anzahl Jazz-Fanatiker. Wenn wir die Diskussion um die Fragen des Jazz nur in engen Fachkreisen führen, betreiben wir eine Vogel-Strauß-Politik; denn wir sehen nicht, dass wir zehntausende junger Menschen der hemmungslosen Jazz-Propaganda des Westens überlassen. Da unter der Jugend nun einmal darüber gesprochen wird, müssen wir uns in die Diskussion einschalten. […] Wenn wir uns mit der amerikanischen Kultur beschäftigen, müssen wir die Proportionen wahren und in kritischer Weise Gutes vom Schlechten trennen, auch im Jazz. […] Auch im schlechtesten, verkommensten Jazz lebt noch etwas von der Empörung der unterdrückten Neger. Hätte ich zu wählen zwischen dem übelsten Jazzschlager und einem unserer miesen Tangos oder gar dem Rennsteiglied: Ich würde den Jazz wählen.“Hanns Eisler über den Jazz [Interview mit Klaus Kleinschmidt], in: Berliner Zeitung, 12. Jg., Nr. 91 (18.4.1956), 3. Die satirische Wochenzeitschrift Eulenspiegel brachte unter dem Titel „Der Jazz ist los” einen dreiseitigen Lobgesang über die positiven Aspekte dieser Musik. Aber das „Tauwetter“ war von kurzer Dauer. Der DEFA-Film Vom Lebensweg des Jazz wurde 1956 einige Male aufgeführt, verschwand aber Anfang 1957 wieder in der Versenkung.Felix Zimmermann: Jazzrezeption in der DDR im Spiegel eines DEFA-Dokumentarfilms, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Hausarbeit, 2015. Am 25. März 1957 wurde Reginald Rudorf verhaftet und fünf Tage später vom Strafsenat des Bezirksgerichts Leipzig wegen „Boykotthetze, konterrevolutionärer Tätigkeit sowie Beleidigung hoher Funktionäre der SED und der FDJ“ zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilt.Reginald Rudorf: Jazz in der Zone, Köln und Berlin 1964. Später floh er in die Bundesrepublik. 1957 verließ Siegfried Schmidt-Joos, der in Halle eine Jazz-Arbeitsgemeinschaft in der FDJ gegründet hatte, die DDR.Siegfried Schmidt-Joos: Die Stasi swingt nicht. Ein Jazzfan im Kalten Krieg. Erinnerungen und Ermittlungen, Halle (Saale) 2016.
In den Thesen zur Kulturkonferenz der SED am 23./24.10.1957 in Berlin heißt es: „Unsere Bevölkerung hat ein Recht auf eine saubere, vielfältige und lebensvolle Tanz- und Unterhaltungsmusik. Der Kampf gegen alle dekadenten Erscheinungen, insbesondere auf dem Gebiet der Tanz- und Unterhaltungsmusik, ist mit aller Entschiedenheit zu führen.“Für eine sozialistische deutsche Kultur. Die Entwicklung der sozialistischen Kultur in der Zeit des zweiten Fünfjahrplanes. Thesen der Kulturkonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 23. und 24. Oktober 1957 in Berlin, Berlin 1957. Professor Hans Pischner, Stellvertretender Minister für Kultur: „Meiner Auffassung nach ist es im Prinzip unwesentlich, ob man zwischen dem sogenannten Urjazz oder klassischen Jazz und dem kommerziellen Jazz bzw. den heute üblichen gekünstelten Jazzstilen unterscheidet. In allen Fällen hat der Jazz mehr oder weniger dekadente Elemente in sich aufgenommen. Die Grade der Dekadenz sind bei den einzelnen Stilarten des Jazz eben nur sehr verschieden. […] Wir fordern kein Verbot oder gar eine Ausmerzung des Jazz. Wir wünschen nur, dass er an seinen sehr begrenzten Platz gestellt wird. Der Jazz war durchaus einmal der Ausdruck lebendigen, großstädtisch-volkstümlichen Lebens von Negern und Weißen in den amerikanischen Südstaaten, geschaffen als eine aktuelle Kunstäußerung. Wenn wir das sagen, bedeutet das nicht, dass wir uns die These zu eigen machen, dass der Jazz die einzige Folklore des 20. Jahrhunderts sei, die das Proletariat hervorgebracht habe. Das ist eine böswillige, entstellende Fälschung. Das war eine dieser Theorien, die bewusst der Dekadenz bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik Tür und Tor öffnen sollte. […] Wir brauchen keine in der Form von Sekten sich zusammenfindenden Gruppen, die in einer Art Museum den Jazz ‚studieren‘. Was uns als neueste Errungenschaft des Jazz schließlich und endlich angepriesen wird, ‚Cool Jazz‘, ‚Be-bop, ‚Progressive Jazz‘ usw., ist dagegen schon abzulehnen, weil diese ‚Stile‘, im Fahrwasser der Dekadenz schwimmend, rein formalistische Züge tragen.“Hans Pischner: Zu einigen Fragen der Tanz- und Unterhaltungsmusik, in: Melodie und Rhythmus 1 (1957), Heft 2, 6f. und 30, 7 und 30.
Am 2.1.1958 trat die „Anordnung über die Programmgestaltung bei Unterhaltungs- und Tanzmusik“Gesetzblatt der DDR Teil I, 18.1.1958, 38. in Kraft, nach der der Anteil „westlicher“ Musik in öffentlich aufgeführten Programmen nicht über 40 Prozent liegen durfte. Dieses „Reinheitsgebot“ galt prinzipiell auch für die Jazzmusiker, wurde aber nie durchgesetzt. Die Elb Meadow Ramblers aus Dresden über die alltäglichen Probleme der Musiker in dieser Zeit: „Als wir 1955 anfingen loszublasen, dachten wir nicht, dass wir die Musik aus Übersee jemals in Perfektion interpretieren könnten. Jazz in jenen Jahren zu machen, war schwer – nur wenige Schallplatten standen uns zum Abhören zur Verfügung, von technischen Hilfsmitteln und erstklassigen Instrumenten zu schweigen. Die Notengerippe bastelten wir uns irgendwie zusammen. Auch besaß der Jazz noch nicht den gesellschaftlichen Stellenwert, der ihm heute zukommt.“Steckbrief: Elb Meadow Ramblers, in: Profil 5 (1986), 1. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre spielten die Orchester Kurt Henkels, Fips Fleischer, Alo Koll, Alfons Wonneberg und Eberhard Weise, das Rundfunk-Tanzorchester Berlin unter der Leitung von Günter Gollasch und die Dresdner Tanzsinfoniker unter Günter Hörig bereits jazzbeeinflusste Tanzmusik. Musiker der Dresdner Tanzsinfoniker stellten den Kern der Lehrkräfte der Abteilung Tanz- und Unterhaltungsmusik an der Hochschule für Musik Dresden, nach deren Vorbild bald auch die anderen drei Musikhochschulen der DDR eine jazzspezifische Ausbildung anboten. Eine Berufsausbildung oder ein Studium war auch für Jazzmusiker unabdingbar, um eine Spielerlaubnis zu erhalten, die wiederum Bedingung für öffentliche Auftritte war. Bis in die späten 1950er Jahre dominierten die Big Bands die Jazzszene, erst gegen Ende des Jahrzehnts formierten sich die Bands von Jürgen Fromm, Theo Schumann, Harry Seeger, Jürgen Heider und anderen, die sich moderneren Spielweisen zuwandten.
Die 1960er Jahre: Jazz in der eingemauerten Gesellschaft
Bis zum Bau der Mauer konnten die Jazzfans in Ost-Berlin ungehindert Konzerte in West-Berlin besuchen. Zum Ärger der DDR-Offiziellen verbrachte ein großer Teil der Jugendlichen die Freizeit vor allem im Westteil der Stadt. 45.000 DDR-Bürger sollen 1959 Jazz-Konzerte in West-Berlin besucht haben. Der Exodus von Musikern wie Rolf Kühn, Kurt Henkels, Heinz Kretzschmar und anderen schwächte die Jazzszene, der Bau der Mauer am 13. August 1961 separierte sie von der internationalen Entwicklung und erleichterte repressive Maßnahmen seitens des Staates. Hartmut Behrsing, seit Sommer 1960 Posaunist der Jazz Optimisten Berlin, erinnert sich an diesen Tag: „Am 13. August 1961 war ich gerade auf der Insel Hiddensee, wo sich seit mehreren Jahren ein Kreis von Freunden und ‚Jazzern‘ traf. Unter dem Leuchtturm und in der ‚Kajüte‘ in Kloster wurde bei Jazz und Wein gefeiert. Hunderte von Menschen swingten mit uns mit, Schriftsteller trugen ihre Texte und Gedichte vor. Der 13. August endete dann mit der Verhaftung der Jazzer und Schriftsteller wegen Gruppenbildung und angeblicher Aufwieglung gegen den Staat. Am nächsten Morgen wurden wir von der Insel verwiesen – zusammen mit allen, die ‚Kutten‘ und Bart trugen und damit dem Staat verdächtig waren.“Hartmut Behrsing: Als Musiker zwischen Oper, Swing und Dixieland – „Jazz im Frack“, in: Bratfisch (Hg.): Freie Töne, 117–124, 118.
Der Zentralrat der FDJ definierte das Ziel: „Nachdem wir am 13.8. den Sieg über die Kriegshetzer errungen haben, darf man jetzt den Feinden der Nation kein Loch lassen, mit der Hetze bei uns einzudringen.“Zentralrat der FDJ, Abt. Agitation und Propaganda: Materialien über die Rolle der NATO-Kriegssender und des Schwarzen Kanals, Berlin 1961. „Es ist auffällig, dass die Jazzveranstaltungen und andere Formen der öffentlichen Beschäftigung mit dem Jazz nach dem 13. August 1961 in der DDR sprunghaft zugenommen haben. […] Es gab an einigen Stellen unserer Republik Ansätze, regelrechte Jazzorganisationen zu bilden, die die Jazzgruppen ganzer Städte umfassen sollten. Es gab weiterhin Versuche, Jazztreffen von entsprechenden Gruppen aus der ganzen Republik zu organisieren. Von diesen Organisationen sollte die gesamte Pflege des Jazz in der DDR ausgehen.“Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung e.V., Jugendarchiv IZJ, JA, A 6.729; zit. n.: Michael Rauhut: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag, Berlin 1993, 57. Am 10.11.1961 gab das Ministerium für Kultur deshalb Hinweise zur Eindämmung „unkontrollierter Jazz-Veranstaltungen“. Prof. Dr. Hans Pischner, Stellvertreter des Ministers für Kultur, anerkannter Bach-Interpret und Musikwissenschaftler, verlangte gar, eine Anweisung herauszugeben, die alle Jazzveranstaltungen in Berlin genehmigungspflichtig machen sollte. Der Magistrat lehnte dieses Ansinnen allerdings ab. Trotzdem berichtete der Berliner Stadtrat Fritz Wolff am 26.2.1962 stolz: „Der VEB Konzert- und Gastspieldirektion wurde angewiesen, die regelmäßigen Jazz-Veranstaltungen in Berlin einzustellen. […] Mit dem Präsidium der Volkspolizei Berlin, Abteilung Erlaubniswesen, werden Verhandlungen geführt, um bei der Erteilung von Genehmigungen zur Durchführung von Jazz-Veranstaltungen das Berliner Haus für Kulturarbeit oder den VEB Konzert- und Gastspieldirektion als Berater heranzuziehen, um auf diese Weise die notwendigen Einschränkungen vorzunehmen.“Landesarchiv Berlin, LAB (STA), C Rep. 121, Nr. 235. Wolff ging noch weiter: „Bei dieser Gelegenheit möchte ich jedoch die Bitte an Sie herantragen, uns darin zu unterstützen, dass Veröffentlichungen über Jazz und Jazz-Veranstaltungen sowie die Popularisierung von Jazzkapellen in der Zeitschrift ‚Melodie und Rhythmus‘ nicht mehr vorgenommen werden. Ein diesbezügliches Schreiben von mir an den Chefredakteur, Herrn Hoffmann, hat bisher zu keinen Veränderungen geführt.“Ebd. 1966 verteufelte der Komponist Andre Asriel die Musik Charlie Parkers als „snobistischen Jazz“.Andre Asriel: Jazz – Analysen und Aspekte, Berlin 1966, 22ff. Der ist für ihn ein Synonym für alle Arten von modernem oder zeitgenössischem Jazz. Erst sehr viel später rückte er davon ab. Noch 1967 formulierte Klaus Gysi, Kulturminister der DDR: „Die Manipulation gegenstandsloser Gefühle – rohe Brutalisierung, Lust am Exzeß, unnennbares Grauen, aber auch die schöne Euphorie des Rauschzustandes – ist ein Hauptmittel imperialistischer Manipulation. Musik ist eines ihrer Hauptinstrumente.“Zit. in: Therese Hörnigk und Alexander Stephan (Hg.): Jeans, Rock & Vietnam. Amerikanische Kultur in der DDR; Berlin 2002, 73.
Das neue Selbstbewusstsein im deutschen Jazz, das sich ab Anfang der 1960er Jahre in der Bundesrepublik entwickelte, beeinflusste ab Mitte dieses Jahrzehnts – etwas zeitversetzt – auch die Jazzszene der DDR nachhaltig. Einer der ersten DDR-Musiker, die aus der epigonalen Phase des deutschen Nachkriegsjazz ausbrachen und das freie Spiel probten, ist der Leipziger Pianist Joachim Kühn. Am 1. November 1965 spielte er zur Premiere der Reihe „Jazz in der Kammer“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin. „Es war weniger der ungewohnte Sound als vielmehr die Haltung der Musiker zu ihrer Musik, die überraschte, teils schockierte, vor allem aber begeisterte: die Freiheit der Interpretation, die dennoch das Werk eines verschworenen ‚Kollektivs‘ war“, so Martin Linzer, einer der Initiatoren der Reihe, die bis zum Ende der DDR mit 163 Veranstaltungen ein wichtiges Podium des zeitgenössischen Jazz blieb.Martin Linzer: „Jazz in der Kammer“ 1965–1990, in: Bratfisch (Hg.): Freie Töne, 93–108, 95. Joachim Kühn: „Der Jazz wurde immer freier; wir wurden müde, auf Standards zu improvisieren, und schrieben eigene Stücke. Das war so ein komponierter Free Jazz mit 90 Prozent Improvisation.“Burghard König (Hg.): Jazzrock. Tendenzen einer modernen Musik, Reinbek bei Hamburg 1983, 155. „Kühn, anfangs noch stark von Vorbildern wie Horace Silver und Bobby Timmons beeinflusst, fand innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums zu einem Personalstil bzw. zu einem von ihm für die Gruppe vorgegebenen Spielfluss, der vieles antizipierte, was erst erheblich später im Jazz der DDR geläufige Praxis werden sollte.“Bert Noglik: Vom Linden-Blues zum Zentralquartett – Fragmentarisches zur Entwicklung des Jazz in der DDR, in: That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Darmstadt 1988, 421–433, 424. Mit seiner Spielauffassung inspirierte er entscheidend die erste Generation von DDR-Jazzmusikern, die sich freien Spielweisen zuwandte. Der Saxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky 1981: „Er spielte damals, Mitte der sechziger Jahre, eine kompromisslose und dabei substanzreiche Musik, die meines Erachtens noch heute als Maßstab für Musizierhaltungen Gültigkeit besitzt.“Bert Noglik: Jazzwerkstatt International, Berlin 1981, 321.
1961 trat der Trompeter Klaus Lenz zum ersten Mal mit seinem Quintett 61 auf, dessen Musik dem Hardbop verpflichtet war. Ab 1963 stellte er dann jeweils für eine längere DDR-Tournee seine Big Band zusammen. In den 1960er und 1970er Jahren einer der wichtigsten Orchesterleiter des Big Band Jazz in der DDR, war Klaus Lenz zugleich Talentescout und Stilpionier. Ernst-Ludwig Petrowsky, Ulrich Gumpert, Günter „Baby“ Sommer, Reinhard Lakomy, Manfred Schulze, Günther Fischer, Konrad „Conny“ Bauer und zahlreiche andere Jazzmusiker spielten irgendwann fest oder als Gäste in seiner Band und nutzten die Erfahrungen später für die Gründung eigener Formationen. Ernst-Ludwig Petrowsky formierte das Manfred Ludwig Sextett, Eberhard Weise seine Combo, Werner Pfüller ein Quintett, Friedhelm Schönfeld diverse Bands. Mit freien Improvisationen erspielten sich die Musiker einen gleichberechtigten Platz neben Musikern aus anderen Ländern – ohne dass es anfangs zu einem direkten Nebeneinander kam bzw. kommen durfte.
Als Initialzündung für die Entwicklung eigenständiger Jazz-Spielweisen gilt das Rundfunk-Jazzensemble Studio IV mit Ernst-Ludwig Petrowsky, Hans-Joachim Graswurm, Eberhard Weise, Hubert Katzenbeier, Klaus Koch und Wolfgang Winkler, gegründet im Januar 1967 als „erstes ständiges Jazzensemble des Deutschen Demokratischen Rundfunks“Melodie und Rhythmus 13 (1969), Heft 3, 6. auf Initiative von Karl-Heinz Deim, Stellvertretender Chefredakteur Musik bei Radio DDR. Es wurde finanziell von allen Sendern unterstützt. Monatlich gab es einen Probetag für die am Tag darauf folgende Rundfunkproduktion, bei der „meistens 20 bis 30 Minuten sendereife moderne Jazzmusik“Ebd., 7 entstanden. Gesendet wurden die Aufnahmen alle sechs Wochen in der Sendung Jazz vor zehn bei Radio DDR I. Komponisten waren vor allem Petrowsky, Graswurm und Weise. Bei aller Professionalität spielte Studio IV manchmal für eine Gage von 300 Mark inkl. Reisekosten – für sechs Musiker! Das ging nur, weil alle Musiker „reguläre“ Jobs in diversen Orchestern hatten. 1969 formierte Manfred Schulze sein erstes Bläserquintett. Auch er wandte sich von amerikanischen Vorbildern ab, allerdings ohne sich dem Free Jazz zuzuwenden. Er setzte vielmehr auf vorgegebene Strukturen, die nur bedingt solistische oder kollektive Improvisationen zuließen.
1964 initiierte Werner Josh Sellhorn die Reihe Jazz und Lyrik (später: Lyrik – Jazz – Prosa).Werner Josh Sellhorn: Jazz Lyrik Prosa. Zur Geschichte von drei Kultserien, Berlin 2008. Die Jazz Optimisten Berlin, Manfred Krug und andere Musiker und Sänger verliehen der Reihe Profil. Aber es gab auch Konfliktpotenzial: Als Wolf Biermann im Oktober 1965 beim Besuch der Veranstaltung (als Zuschauer!) verhaftet wurde, weigerten sich die Mitwirkenden aufzutreten. Erst als der Zuführungsbefehl aufgehoben wurde, begann die Veranstaltung.
Am 8. Dezember 1965 veranstaltete die Konzert- und Gastspieldirektion Dresden auf Initiative von Karlheinz Drechsel im Dresdner Hygiene-Museum das erste repräsentative Konzert des modernen DDR-Jazz – mit Funk- und Fernsehaufzeichnung, in Ausschnitten dokumentiert auf der LP Jazz via Dresden und einer CD, die den Büchern Karlheinz Drechsel – Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem JazzDrechsel: Karlheinz Drechsel, a.a.O. und Freie TöneBratfisch (Hg.): Freie Töne. beiliegt. Über 30 Musiker nahmen daran teil, u.a. Joachim Kühn, Ernst-Ludwig Petrowsky und Klaus Koch. Die Konzerte fanden bis 1968 jährlich statt. Auch die Konzerte von Albert Mangelsdorff, Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, Leo Wright und anderen Musikern in der DDR förderten das Ansehen des Jazz.
Als Walter Ulbricht im Dezember 1965 auf dem als „Kahlschlag-Plenum“ bekannten 11. Plenum des Zentralkomitees der SED seine Tiraden gegen den „Dreck, der vom Westen kommt“ und gegen die „Monotonie des Jay, Jeh, yeh [sic!], und wie das alles heißt“Zitiert nach Rauhut: Beat in der Grauzone, 162. losließ und die SED die Abkehr von den zaghaften Liberalisierungsansätzen, wie sie nach dem Mauerbau zu verzeichnen waren, manifestierte, fühlten sich die Jazzmusiker bereits nicht mehr angesprochen. Wie der Blues war auch der Jazz zu diesem Zeitpunkt offensichtlich kein solcher „Dreck“ mehr, sondern vielmehr eine Musikrichtung, auf die die offizielle Kulturpolitik ihre Ideen vom internationalen Klassenkampf im Allgemeinen und von der Knechtung der Afroamerikaner im Besonderen projizieren konnte. Die Jazzfans interessierten diese staatlich vorgegebenen Interpretationsmuster sowieso nicht.
Am 3. Zentralen Tanzmusikfest der Amateurtanzmusiker der DDR anlässlich der 10. Arbeiterfestspiele, die im Juni 1968 im Bezirk Halle (Saale) stattfanden, war erstmalig auch der Jazz beteiligt – mit acht Big Bands und sieben Jazzbands. Selbst in den Schulen der DDR fand der Jazz Berücksichtigung: Der Lehrplan der Erweiterten Oberschulen beinhaltete im Rahmen des Musikunterrichts für die zehnten Klassen seit 1967 das Thema „Jazz“. Die Musiklehrer erhielten als Hilfsmittel ein Tonband mit Musikbeispielen und ein Informationsheft.
Hatten bis zum August 1968 noch viele die Hoffnung, dass sich das System der DDR von innen heraus liberalisieren könne, beschädigte der Einmarsch der sowjetischen Armee 1968 in Prag auch bei zahlreichen Jazzmusikern in der DDR das Verhältnis zum politischen Regime irreversibel. Die Kluft zwischen dem Staat und einer Vielzahl von Jazzmusikern vergrößerte sich.
Die 1970er Jahre: das „gelobte Land der Improvisierten Musik“
Nach der Ablösung Walter Ulbrichts und der Wahl Erich Honeckers zum Ersten Sekretär des ZK der SED am 3. Mai 1971 begann eine vorsichtige Lockerung – auch in der Kulturpolitik. Endlich wurde ein offizieller Kulturaustausch zwischen der DDR und der BRD möglich. Ab Mitte der 1970er Jahre erschienen zahlreiche Amiga-Platten mit Jazzmusikern und -bands. Ab 1976 wurden Jazzschallplatten mit einem orangefarbenen „J“ gekennzeichnet, nachdem bereits 1975 die „schwarze Serie“ erschienen war. „Weitere Produktionen sind in Vorbereitung, eine kontinuierliche, zielgerichtete und kulturpolitisch fundierte Jazz-Veröffentlichungspolitik ist angestrebt und dürfte sowohl zur internationalen Popularisierung des Jazz in der DDR als auch zur künstlerischen Motivation der Musiker beitragen. […] Das Lizenz-Veröffentlichungsprogramm soll weitergeführt und im Rahmen der ökonomischen Möglichkeiten des VEB Deutsche Schallplatten ausgeweitet werden, wobei auch zeitgenössische Produktionen des Auslandes zur Veröffentlichung vorgesehen sind“, konstatierte Rolf Reichelt 1979.Rolf Reichelt: Jazz in der DDR, in: Bulletin, Hg.: Musikrat der Deutschen Demokratischen Republik, 16. Jg. (1979), Heft 2, 17f. Von 1970 bis 1979 wurde die Produktion von Schallplatten um das Dreieinhalbfache gesteigert. Wurden 1968 noch drei Millionen LP und Singles gepresst, waren es 1980 bereits 20 Millionen. Allein 1978 vermittelte die Künstler-Agentur der DDR über 60 Gastspiele oder Tourneen ausländischer Jazzmusiker mit etwa 200 Konzerten aller Stilrichtungen.Ebd., 18. Eine Befragung von ca. 2.900 „Werktätigen“ (heute: Arbeitnehmer) und 450 SchülerInnen und Studierenden in den Bezirken Cottbus, Dresden, Erfurt, Halle (Saale) und Rostock im Jahre 1977 ergab, dass sich 7,9 Prozent der Erwachsenen und 16,2 Prozent der SchülerInnen und Studierenden für Jazz interessierten.Helmut Hanke: Freizeit in der DDR, Berlin 1979, 90. 1979 ergab eine Befragung des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, dass 19 Prozent der „jungen Werktätigen“ gern oder sehr gern Jazz hörten.Ders.: Entwicklungstendenzen musikalischer Bedürfnisse, in: MuG 11 (1981), 644–652. Natürlich besaß für viele Zuhörer in der DDR alles „Westliche“ a priori eine große Anziehungskraft und einen Sympathiebonus. Das erklärt – zumindest teilweise – auch die wesentlich höheren Besucherzahlen bei Auftritten „westlicher“ Jazzmusiker in der DDR im Vergleich zu Auftritten dieser Musiker in ihren Heimatländern. DDR-Musiker dienten für einen Teil des Publikums bisweilen – wenn auch nicht immer zugegeben – als Ersatz für Miles Davis, John Coltrane, Duke Ellington und andere Musiker, die die Fans in der DDR nicht live erleben konnten. Zahlreiche Jazzfans pilgerten deshalb zu Konzerten nach Warschau, Prag und Budapest.
Die erste Hälfte der 1970er Jahre war entscheidend für die Entwicklung des zeitgenössischen Jazz. Am Anfang des Jahrzehnts gab es einen regelrechten Boom der Jazz-Rock-Gruppen: SOK, Panta Rhei, Dresden-Sextett, Modern Soul Band, FEZ sowie die Formationen um Günther Fischer und Reinhard Lakomy. Ulrich Gumpert formierte 1971 SOK und – noch innerhalb dieser Band – 1973 das Quartett Synopsis, das sich allerdings im gleichen Jahr bereits wieder auflöste.
Nach der Konstituierung des Komitees für Unterhaltungskunst am 5. April 1973 wurde verstärkt versucht, über den Arbeitskreis Jazz auch die Jazzmusik in die „Unterhaltungskunst“ sozialistischer Prägung zu integrieren. Das Komitee stufte Künstler ein, stellte spezielle Berufsausweise aus, förderte Musiker und Bands finanziell mit Probengeldern, unterstützte bei der Beschaffung von Anlagen und Instrumenten, entschied über Auftritte im „kapitalistischen Ausland“, besorgte Mentoren und manchmal auch Wohnung, Telefon und/oder Auto.
Parallel zu diesem Monsterapparat, zu den Konzert- und Gastspieldirektionen in den Bezirken und zur Künstler-Agentur der DDR entwickelten sich alternative Strukturen. 1973 wurde der jazzclub leipzig gegründet, der bald 500 Mitglieder hatte. Die 1. Leipziger Jazztage im Juni 1976 wurden vom Club in Eigenregie finanziert und organisiert – ohne jegliche staatliche Unterstützung. Erst ab dem 5. Festival schoss der Staat etwas Geld dazu. 1988 erhielt der Club die Johannes-R.-Becher-Medaille des Kulturbundes.
Am 2.6.1973 organisierten Peter „Jimi“ Metag und Ulli Blobel von der AG Jazz Peitz beim Kreiskulturhaus Cottbus-Land die erste Jazzwerkstatt Peitz, die schnell zu einem international bekannten Podium für improvisierte Musik, aber auch zum Mekka einer nicht angepassten Jugendkultur wurde. „Im Windschatten der DDR-Kulturpolitik feierte die europäische Avantgarde musikalische Feste“, resümiert Bert Noglik.Bert Noglik: Blicke auf den Jazz, in: Matthias Creutziger: Jazzphotographie, Hofheim 1996, 62f., 63. Das Anliegen, im Programmheft zum ersten Konzert definiert: „Durch Präsentation unterschiedlicher Ensembles dem Zuhörer die Vielfalt des zeitgenössischen Jazz zu erschließen, damit Musikern und Publikum gleichermaßen Anregungen zu vermitteln und dadurch dem Jazz einen größeren Zuhörerkreis zu erschließen.“ Bald reichten auch Doppelkonzerte im 350 Personen fassenden Kino der Stadt nicht mehr aus, um die Nachfrage zu befriedigen. Vor jeder Jazzwerkstatt gingen ca. 1.000 Kartenwünsche aus der ganzen DDR ein. Im Inland konnte ich zuweilen bis zu 30 Konzerte pro Monat vertraglich binden“, berichtet Ulli Blobel.Ulli Blobel: Wie Peitz zur Hauptstadt des Free Jazz in der DDR wurde, in: Bratfisch (Hg.): Freie Töne, 170–176, 174. Zur 25. Jazzwerkstatt im Sommer 1979 kamen ca. 2.500 Besucher: „Hippiges Fanvolk trampte durch das kleine Land und vernetzte sich zur egalitären Szene. Die Musiker waren nahbare Helden. Wer ihren unregierten Klängen lauschte, fiel nicht in den Marschtritt der Ideologie.“Christoph Dieckmann: Woodstock am Karpfenteich, in: Zeit Online, 28.11.2013, https://www.zeit.de/2013/49/free-jazz-ddr (27.7.2019). Peitz wurde zum „Woodstock am Karpfenteich“.Ulli Blobel (Hg.): Woodstock am Karpfenteich. Die Jazzwerkstatt Peitz, Berlin 2011. Aber im Mai 1982 teilte der Bürgermeister der Stadt Peitz Ulli Blobel mit, dass ihm „mit sofortiger Wirkung die Berechtigung zum Abschluss von Vereinbarungen und Verträgen jeder Art zur Vorbereitung und Durchführung von Jazzveranstaltungen und anderen Konzertveranstaltungen entzogen wird“.Ebd., 176. „Der Staat verbot, was er nicht domestizieren konnte.“Dieckmann: Woodstock am Karpfenteich, a.a.O. Ulli Blobel: „Das bedeutete praktisch ein Berufsverbot für mich und das Ende der ‚Jazzwerkstatt Peitz‘.“Blobel (Hg.): Woodstock am Karpfenteich, 176. Im Februar 1984 verließ Blobel die DDR und ging nach Wuppertal.
In den 1970er Jahren veränderte sich auch die soziale Stellung der Jazzmusiker. Als Amateure waren sie hauptberuflich entweder in anderen musikalischen Genres oder in musikfremden Berufen tätig und konnten deshalb weder kontinuierlich proben noch auf längere Tourneen gehen. Konzerte beschränkten sich zumeist auf Einzelauftritte. Immer mehr Musiker wagten jetzt den risikoreichen Schritt in die berufliche Selbstständigkeit (u.a. Dietmar Diesner, Konrad „Conny“ Bauer – mit seiner Gruppe FEZ). Das bedingte ein funktionierendes Management und ausreichende Auftrittsmöglichkeiten. Regelmäßige Jazzkonzerte verhalfen wiederum auch den Amateurgruppen zu mehr Auftritten und förderten die Herausbildung eines kritischeren und qualitätsbewussteren Publikums. Trotzdem: Zur „Volksmusik“Helma Kaldewey: A People’s Music: Jazz in East Germany 1945–1990, Cambridge 2019. wurde der Jazz nicht.
Gemeinsame Konzerte mit ausländischen Musikern erweiterten die Auftrittsmöglichkeiten und verhinderten das quasi-inzestuöse „Schmoren im eigenen Saft“. Deutsch-deutsche Begegnungen blieben allerdings weiterhin unerwünscht. Um das zu umgehen, wurde oft ein „Alibi-Ausländer“ aus einem „Drittland“ integriert. Das Trio Leo Smith/Peter Kowald/Günter „Baby“ Sommer hieß dann eben Chicago-Wuppertal-Dresden. Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 erfuhr die Öffnung noch einmal eine Unterbrechung – zu stoppen war sie zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr.
Der Rockjazz entwickelte sich Mitte der 1970er Jahre zum freien Jazz. An die Stelle der E-Gitarre trat die akustische Gitarre. Ernst-Ludwig Petrowsky, Ulrich Gumpert, Friedhelm Schönfeld, Hubert Katzenbeier, Manfred Schulze, Konrad „Conny“ Bauer und andere formierten neue Bands. Karlheinz Drechsel schätzte ein: „Der Jazz hat im Ensemble der Künste der DDR inzwischen einen festen Platz gefunden. Er ist organischer Bestandteil der sozialistischen Musikkultur in der DDR. Der Jazz in der DDR besitzt – z.T. mit künstlerischen Spitzenleistungen – heute ein solches Niveau, mit dem er dazu geeignet ist, unsere sozialistische Musikkultur als gleichberechtigtes Genre im Ensemble der Künste auch international zu repräsentieren.“Karlheinz Drechsel: Einige Gedanken zur spezifischen Funktion des Jazz und seiner Rolle im Musikleben der DDR, in: Informationen der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst 2 (1979), Beilage zur Zeitschrift „Unterhaltungskunst“ 11 (1979), Heft 8, 4–11, 6. Andreas Altenfelder tourte mit dem Willem Breuker Kollektief, Ernst-Ludwig Petrowsky mit der George Gruntz Concert Jazz Band und dem Globe Unity Orchestra. Auftritte auf internationalen Festivals verschafften den Musikern aus der DDR „das Erlebnis einer internationalen Bestätigung“.Manfred Hering, in: Bert Noglik und Heinz-Jürgen Lindner: Jazz im Gespräch, Berlin 1978, 57–67, 67. Bert Noglik: „Die Tendenz zur Nachahmung, in einer isolierten Situation viel stärker ausgeprägt, ist im Verlaufe der siebziger Jahre einem lebendigen musikalischen Austausch gewichen, der eigene Positionen sogar deutlicher werden lässt. […] Der Umgang mit den Mitteln ist souveräner, das Spektrum ist breiter geworden.“Noglik: Jazzwerkstatt international, 326 und 333. Immer mehr Musiker aus dem Ausland kamen in die DDR – mit eigenen Formationen, aber auch, um mit Musikern der DDR zu spielen. Das „Jazzland DDR“ wurde für Jazzmusiker aus aller Welt zu einer begehrten Adresse. Musiker, die gerade in West-Berlin waren, kamen mit Tagesvisa in den Osten der Stadt und spielten mit DDR-Musikern in der Großen Melodie im Gebäude des alten Friedrichstadtpalastes. 1977 bis 1989 veranstaltete der Rundfunk der DDR mit der Jazzbühne Berlin jährlich ein internationales Festival. Die Free Music Production (FMP) in West-Berlin veröffentlichte erste Aufnahmen von Musikern aus der DDR. Im August 1979 veranstaltete die FMP in West-Berlin unter dem Motto Jazz Now – Jazz aus der DDR mehrere Konzerte mit Jazz-Formationen aus der DDR, ein Mitschnitt erschien zwei Jahre später auf einer Doppel-LP. Auch die Fans des traditionellen Jazz fanden in den 1970er Jahren ihren Treffpunkt: Das Internationale Dixieland-Festival in Dresden, 1971 mitbegründet von Karlheinz Drechsel, avancierte in den Folgejahren zum Volksfest für die ganze Stadt und zunehmend auch für ein internationales Publikum.
Sichtbares Zeichen der Öffnung waren auch die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August 1973 in Berlin. Unter den rund 2.000 Kulturveranstaltungen waren auch einige Jazzkonzerte. Charakteristisch für die 1970er Jahre sind zunehmende Querverbindungen zwischen Jazz und Tanz, Malerei und Neuer Musik. Auch Rundfunk und Fernsehen öffneten sich – wenn auch zaghaft – für den Jazz. All das veranlasste Musiker wie Fred van Hove, die DDR als „gelobtes Land der Improvisierten Musik“ zu feiern. Der Journalist Günther Huesmann: „Der Jazz in der DDR, der staatlicherseits als antifaschistisch, im nächsten Moment jedoch wieder als imperialistisch und schließlich ab den 1970er Jahren als ein eigenständiger kreativer kultureller Wert interpretiert wurde, hatte äußerlich einen eklektischeren Stil als sein Gegenspieler in Westdeutschland“.Günther Huesmann: After 1945: Jazz in Germany, Frankfurt a.M. 2009; online: https://www.goethe.de/en/kul/mus/gen/jaz/ruc/4932331.html (26.7.2019). Hans Hielscher resümiert später unter der Überschrift Hot statt FDJ: „Gut bezahlt und auch noch umjubelt werden – für manchen Hungerleider aus der westlichen Avantgardeszene verklärt sich die DDR zum Traumland. Einige Musiker erwägen, überzusiedeln, zumal Jazz aus der DDR auch im kapitalistischen Ausland Bewunderer findet.“Hans Hielscher: Hot statt FDJ, in: Spiegel Online, 23.4.2006, https://www.spiegel.de/kultur/musik/jazz-in-der-ddr-hot-statt-fdj-a-412172.html (26.7.2019). Um noch einmal Karlheinz Drechsel zu zitieren: „Unter diesem Gesichtspunkt der Befriedigung und gleichzeitigen Entwicklung vielseitiger Bedürfnisse kommt auch dem Jazz gleichberechtigter Platz und kulturpolitischer Stellenwert innerhalb unseres Musiklebens zu – auch wenn er heute noch nicht eine solche Massenbasis besitzt, wie andere Formen der populären Musik der Gegenwart. Der Jazz stellt inzwischen für viele Menschen, besonders für einen Teil der jungen Generation, einen wesentlichen Faktor zur Befriedigung ihrer ästhetischen Bedürfnisse dar. […] In dem Maße, in dem die Jazzer der DDR ihre Bedeutung als Persönlichkeit innerhalb unserer Gesellschaft begreifen und diese Erkenntnis zum bestimmenden Faktor ihres Handelns machen, wächst auch ihre Bedeutung als sozialistische Künstler. Innerhalb dieses Prozesses ist entscheidend, in welchem Maße die sozialistische Gesellschaft ihrerseits den Jazzmusiker als Künstler akzeptiert, anerkennt, sein Wirken als gleichberechtigt im Ensemble der Künste betrachtet, ihn über diesen moralischen Aspekt hinaus auch praktisch fördert und entsprechend der spezifischen Möglichkeiten dieses Genres fordert. Letzterer Aspekt scheint mir gegenwärtig besonders wichtig zu sein; denn eine solche Atmosphäre des Gebrauchtsein in seiner Besonderheit und Unersetzbarkeit benötigt der Jazz wie jede andere Kunstgattung zu seiner weiteren Profilierung.“Drechsel: Einige Gedanken zur spezifischen Funktion des Jazz und seiner Rolle im Musikleben der DDR, a.a.O., 7.
Die 1980er Jahre: freies Spiel vor dem Ende
Das letzte Jahrzehnt der DDR war geprägt von jungen Musikern – auch und gerade im Jazz. Wie Dietmar Diesner und Johannes Bauer spielte auch Heiner Reinhardt in Gruppen um Radu Malfatti und Manfred Schulze und gründete Mitte der 1980er Jahre die Gruppe Entropie. Weitere Vertreter der „jungen Generation“: der Gitarrist Lothar Fiedler und die vier Bläser der Fun Horns – Volker Schlott, Thomas Klemm, Jörg Huke und Joachim Hesse. Doppelmoppel vereinte je zwei Posaunisten (Konrad und Johannes Bauer) und Gitarristen (Helmut „Joe“ Sachse und Uwe Kropinski). Wolfgang Fiedler belebte 1985 seine Gruppe Fusion wieder. Weitere stilbildende Gruppen dieses Jahrzehnts waren das Axel Donner Quartett, Dieter Keitels Big Band Swingin’ Crew und College. Alle diese Musiker hatten den Free Jazz hinter sich gelassen und kümmerten sich wenig um stilistische Grenzen und Zuordnungen. Das Trio Wolfgang Fiedler/Volker Schlott/Gerhard „Charlie“ Eitner orientierte sich u.a. an der amerikanischen Minimal Music. Auch moderner Mainstream-Jazz (Günther Fischer), Bebop und Jazz Rock (Splash) waren wieder gefragt. Das Genre Jazz hatte sich in der Musikszene der DDR endgültig durchgesetzt: „Jazz ist lange ein Stiefkind unserer Kultur gewesen (das hat historische Ursachen, die hier nicht zu erörtern sind). Er ist es nicht mehr, wie auch die Dokumente unserer Kulturpolitik deutlich ausweisen.“Martin Linzer: Arbeitskreis Jazz, in: Unterhaltungskunst 13 (1982), Heft 3, 14. Statistiker ermittelten für die 1980er Jahre in Ost-Berlin monatlich 16 Jazzkonzerte.
1982 empfing Ernst-Ludwig Petrowsky als erster Jazzmusiker aus den Händen des Ministers für Kultur Hans-Joachim Hoffmann den Kunstpreis der DDR. Der Jazz war angekommen und wurde akzeptiert. „Ende der siebziger Jahre hatte sich der Jazz in der DDR eine beachtliche Position in der europäischen Musiklandschaft erarbeitet. Viele Musiker konnten Einladungen in viele Länder Europas wahrnehmen. Ernst-Ludwig Petrowsky reiste sogar als erster DDR-Jazzmusiker in die USA und nach Indien. Jazzmusiker der DDR waren auf zahlreichen Jazzfestivals in aller Welt vertreten.
Der Arbeitskreis Jazz des Komitees für Unterhaltungskunst orientierte sich 1982/1983 u.a. auf folgende Schwerpunkte: „Verbesserung der Auftrittsmöglichkeiten für Jazzer der DDR im Veranstaltungsleben der Republik, Verbesserung der Repräsentanz des Jazz im Fernsehen, Rundfunk und bei der Edition kleiner Schallplattenauflagen (Amiga, Nova) sowie die Erweiterung der Funktion des Arbeitskreises als beratendes und wertendes Gremium bei Aktivitäten nationaler und internationaler Jazzmusiker in der DDR.“Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst: Presse-Telegramm 3 (1982), 2. 1984, als das Komitee auf Betreiben von Werner Lamberz zur Behörde mutierte, wurde aus dem Arbeitskreis Jazz die Sektion Jazz beim Komitee für Unterhaltungskunst, eine Art Berufs- bzw. Interessenverband der Jazzszene. Vorsitzender der Sektion wurde Konrad Bauer (1989 wiedergewählt), Stellvertretender Vorsitzender Karlheinz Drechsel, (hauptamtlicher) Sekretär Roland Radics bzw. Hans-Peter Egli. Viele Musiker blieben jedoch skeptisch und verweigerten sich direkt oder indirekt den staatlichen Integrationsbemühungen. „Dennoch Probleme, Unruhe in der Szene, etwa im Vorfeld der ersten Jazztage der DDR in Weimar, atmosphärische Störungen, die den Erfolg nicht gefährdeten, was auch einige aktive Teilnehmer überraschte“.Martin Linzer: Und wie nun weiter …? Ketzerische Gedanken eines Nicht-Musikers anlässlich der Sektionsgründung Jazz, in: Unterhaltungskunst 17 (1986), Heft 4, 22f., 22. Die Arbeit der Sektion Jazz konzentrierte sich bald auf die Schaffung möglichst normaler Arbeitsbedingungen für die Musiker, d.h. auf die Relativierung der Folgen der Mangelwirtschaft. Mit einzelnen Gruppen, z.B. Evidence, schloss die Generaldirektion auf Empfehlung des Arbeitskreises Förderverträge ab.
1983 wurde der Jazz erstmals in die jährlich stattfindende Leistungsschau der Unterhaltungskunst, veranstaltet vom Komitee für Unterhaltungskunst, einbezogen. Das „weist den Jazz in allen seinen Spielarten als gleichberechtigtes Genre im weitgefächerten Spektrum unseres Veranstaltungswesens aus“, konstatierte Martin Linzer aus diesem Anlass zufrieden.Martin Linzer: Jazz auf der VII, in: Unterhaltungskunst 14 (1983), Heft 9, 15. Selbst Gisela Steineckert war des Lobes voll: „Wer sich einmal im Kloster Unserer Lieben Frauen zum abendlichen Jazzkonzert einfand, der erlebte sowohl internationales Niveau der Darbietung als auch ein einfühlsames kundiges Publikum, das feinnervig und durchaus abgestuft wertete – und damit wiederum aktiv eingriff und sich selber einbringen konnte.“Gisela Steineckert: Magdeburg, erstmals, in: Unterhaltungskunst 14 (1983), Heft 9, 4f., 4.
Im März 1984 kam es anlässlich einer Konzertreihe in Paris auf Initiative von Günter Sommer zur Wiederbelebung der Synopsis-Urbesetzung von 1973 als Zentralquartett. Auf dem in Rot gehaltenen Plakat der Gruppe waren die Köpfe der Musiker hintereinander montiert – à la Marx, Engels und Lenin (und früher Stalin). Ihr erstes Album: „Günter Sommer et trois vieux amis“. Im Dezember 1985 fanden die 1. Jazztage der DDR in Weimar statt, veranstaltet von der Arbeitsgruppe Jazztage der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst, dem Rat des Bezirkes Erfurt und dem Rat der Stadt Weimar – eine fulminante Leistungsschau des DDR-Jazz. In 16 Veranstaltungen traten rund 220 Jazzmusiker auf, bei Amiga erschien ein Mitschnitt. Die 2. Jazztage der DDR in Weimar im November 1989 fanden dann nahezu ohne Publikum statt. Im November 1987 trat zum ersten Mal das 17-köpfige Nationale Jazzorchester der DDR auf, formiert nach dem Vorbild des französischen L’Orchestre National du Jazz. Im Januar 1988 ging es auf DDR-Tournee. Der erste Leiter war Konrad „Conny“ Bauer, nach dem Rotationsprinzip übernahmen 1988 Manfred Hering und 1989 Günter Sommer die Band.
Auch in den 1980er Jahren verließen wieder zahlreiche Jazzmusiker die DDR. Die allgemeine Stagnation erfasste auch weite Bereiche der Musik. Viele Jazzmusiker hatten sich allerdings in den Verhältnissen eingerichtet. Ernst-Ludwig Petrowsky in seiner Rede auf dem Kongress der Unterhaltungskünstler der DDR am 1./2. März 1989: „Die soziale Sicherheit der DDR-Künstler hat in einigen Kollegen allerdings weniger die Schöpferkraft, als vielmehr eine Art Rentnergefühl bestärkt. Natürlich ist es sehr wichtig, kreative, schwer verkäufliche künstlerische Potenzen zu unterstützen. Aber einige Musiker haben sich so sehr an staatliche Förderungen gewöhnt, dass sie sogar unserer Regierung drohen. So ein Jazzmusiker der sowieso kommerziell erfolgreichen Art wörtlich: ‚Wenn ich keine Probengelder mehr kriege, löse ich die Band auf!“ – Welch eine folgenschwer-schreckliche Drohung!“Faksimile des Redemanuskripts in: Jazz in Deutschland, Hofheim 1996, 230–238. Er verwies in seiner Rede allerdings auch auf die Probleme, die aus der Arbeit „der mit dem Vollzug [der staatlichen Förderung – Anm. d. Verf.] beauftragten zahlreichen und planstellenbewehrten Damen und Herren des Büro(filzes), die den politischen Freund nicht vom kommerziellen Feind – und umgekehrt – unterscheiden wollen oder können“ resultieren. Gegen diese „Versorgungsmentalität“ revoltierten auch die „anderen Bands“, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre im Grenzbereich zwischen Rock und Jazz sowie Performance und Konzert eigene Freiräume erspielten und sich jeglicher staatlicher Kontrolle weitgehend entzogen. „Wir wollen immer artig sein“, sang Feeling B ironisch. Jazzmusiker beteiligen sich 1989 an Aktionen der Bürgerrechtsbewegung, u.a. am „Konzert gegen Gewalt“ und „Wider den Schlaf der Vernunft“ und unterschreiben die Resolution der Rockmusiker und Liedermacher.
Als Karlheinz Drechsel am 9. November 1989 zu später Stunde seine Jazzsendung moderierte, legte ihm ein Redakteur einen Zettel auf den Tisch: „Die Mauer ist offen“. Die Sonderrolle des Jazz hatte sich abrupt erledigt. Über Nacht kam den Musikern nicht nur die Infrastruktur abhanden, sondern zudem der Teil des Publikums, für den sie vier Jahrzehnte auch Ersatz für Miles Davis, John Coltrane und Duke Ellington gewesen waren – trotz allen eigenen Profils. Kein Wunder also, dass nach dem Ende der DDR das Publikum erst einmal zu den Originalen pilgerte und so mancher Musiker seine Zeit brauchte, um sich vom Sturz von dem Podest, auf das ihn seine Fans gestellt hatten, zu erholen und die nun geltenden Marktmechanismen zu verinnerlichen. Wie ihr Publikum mussten sich auch die Musiker in neuen sozialen und kulturellen Verhältnissen orientieren. „Aber das Land ist noch da. Und die Musik – nicht nur als Erinnerung. Die Alten spielen unverzagt, auch mit junger Brut. Günter Sommers Schüler Christian Lillinger gilt als Jazz-Deutschlands wildes Drum-Kid. Der Pianist Oliver Schwerdt zog von Eisenach gen Leipzig wie weiland Johann Sebastian Bach und gründete das Plattenlabel Euphorium. Mit Sommer und mit Petrowsky hat Schwerdt fein ziselierte Platten eingespielt.“Dieckmann: Woodstock am Karpfenteich, a.a.O. Beim JazzFest in West-Berlin trat im November 1990 noch einmal das Jazzorchester der DDR auf. Bert Noglik zu dieser letzten jazzmusikalischen Reflexion des Phänomens DDR: „Dieses für viele ein Alptraum, für manche eine Nische, für eine wenige eine Pfründe, aber für alle auch eine alltägliche Erfahrung, hat über vierzig Jahre hinweg so real existiert, dass sich die Spuren nicht so schnell verwischen, die Spätfolgen in Gesellschaft und Gehirnen nicht so einfach verdrängen lassen werden. In Demut – eine Eigenschaft – die die offizielle DDR hochmütig ignoriert hat – sollen die drei Buchstaben nicht verzerrt, nicht ausgelöscht und nicht nostalgisch verklärt, sondern klein gesetzt werden: ddr.“Bert Noglik: Jazzorchester der DDR. Leitung Günter „Baby“ Sommer, in: Programmheft JazzFest ’90, Berlin 1990, 55. Ein weiteres durchaus mögliches Fazit: JAZZ in der ddr/jazz in der DDR.
Epilog
JAZZ
Das ist das Geheimnis des Jazz:
Der Bass bricht dem erstarrten Orchester aus.
Das Schlagzeug zertrommelt die geistlosen Lieder.
Das Klavier seziert den Kadaver Gehorsam.
Das Saxophon zersprengt die Fessel Partitur:
Bebt, Gelenke: wir spielen ein neues Thema aus
Wozu ich fähig bin und wessen ich bedarf: ich selbst zu sein –
hier will ich es sein: ich singe mich selbst.
Und aus den Trümmern des dunklen Bombasts Akkord
Aus dem kahlen Notenstrauch reckt sich was her über uns
Herzschlag Banjo, Mundton der Saxophone:
Reckt sich unsere Harmonie auf: bewegliche Einheit –
Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema.
Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer!
Du hast das Recht, du zu sein, und ich bin ich:
Und mit keinem verbünden wir uns, der nicht er selber ist
Unverwechselbar er im Hass, im Lieben, im Kampf.
Volker Braun (1965)In: Volker Braun: Provokation für mich, Halle (Saale) 1965.
Anmerkungen
- Zit. n.: Rainer Bratfisch (Hg.): Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR, Berlin 2005, 14.
- Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), DY 30/J IV 2/3/52.
- Reginald Rudorf: Für eine frohe, ausdrucksvolle Tanzmusik, in: MuG 2 (1952), 247–252, 250.
- Faksimile des Schreibens in: Bratfisch (Hg.): Freie Töne, 35.
- Ebd.
- Ulf Drechsel: Karlheinz Drechsel – Zwischen den Strömungen. Mein Leben mit dem Jazz, Rudolstadt 2011, 2. Aufl. Berlin 2011.
- Gift von Affen, in: Der Spiegel, 21. Jg, Nr. 19 (1.5.1967), 167–169.
- Ernst H. Meyer: Musik im Zeitgeschehen, hg. von der Deutschen Akademie der Künste, Berlin 1952, 162f.
- Ders.: Realismus – die Lebensfrage der deutschen Musik, in: MuG 1 (1951), 38–43, 38.
- Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Referat von Hans Lauter, Diskussion und Entschließung von der 5. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 15.–17. März 1951, Berlin 1951, 137.
- Meyer: Realismus – die Lebensfrage der deutschen Musik, 38.
- Georg Knepler: Musik, ein Instrument der Kriegsvorbereitung, in: MuG 1 (1951), 56–58, 57.
- Ders.: Jazz und die Volksmusik, in: MuG 5 (1955), 181–183.
- Protokoll einer Diskussion zwischen Reginald Rudorf und Verantwortlichen des Ministeriums für Kultur am 7. April 1955, SAPMO, DY 24/A392.
- Siehe auch Uta G. Poiger: Searching for Proper New Music: Jazz in Cold War Germany. https://www.press.umich.edu/pdf/0472113844-ch5.pdf (26.7.2019).
- Ernst Bartsch: Neger, Jazz und tiefer Süden, Leipzig 1956.
- Hanns Eisler über den Jazz [Interview mit Klaus Kleinschmidt], in: Berliner Zeitung, 12. Jg., Nr. 91 (18.4.1956), 3.
- Felix Zimmermann: Jazzrezeption in der DDR im Spiegel eines DEFA-Dokumentarfilms, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Hausarbeit, 2015.
- Reginald Rudorf: Jazz in der Zone, Köln und Berlin 1964.
- Siegfried Schmidt-Joos: Die Stasi swingt nicht. Ein Jazzfan im Kalten Krieg. Erinnerungen und Ermittlungen, Halle (Saale) 2016.
- Für eine sozialistische deutsche Kultur. Die Entwicklung der sozialistischen Kultur in der Zeit des zweiten Fünfjahrplanes. Thesen der Kulturkonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 23. und 24. Oktober 1957 in Berlin, Berlin 1957.
- Hans Pischner: Zu einigen Fragen der Tanz- und Unterhaltungsmusik, in: Melodie und Rhythmus 1 (1957), Heft 2, 6f. und 30, 7 und 30.
- Gesetzblatt der DDR Teil I, 18.1.1958, 38.
- Steckbrief: Elb Meadow Ramblers, in: Profil 5 (1986), 1.
- Hartmut Behrsing: Als Musiker zwischen Oper, Swing und Dixieland – „Jazz im Frack“, in: Bratfisch (Hg.): Freie Töne, 117–124, 118.
- Zentralrat der FDJ, Abt. Agitation und Propaganda: Materialien über die Rolle der NATO-Kriegssender und des Schwarzen Kanals, Berlin 1961.
- Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung e.V., Jugendarchiv IZJ, JA, A 6.729; zit. n.: Michael Rauhut: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag, Berlin 1993, 57.
- Landesarchiv Berlin, LAB (STA), C Rep. 121, Nr. 235.
- Ebd.
- Andre Asriel: Jazz – Analysen und Aspekte, Berlin 1966, 22ff.
- Zit. in: Therese Hörnigk und Alexander Stephan (Hg.): Jeans, Rock & Vietnam. Amerikanische Kultur in der DDR; Berlin 2002, 73.
- Martin Linzer: „Jazz in der Kammer“ 1965–1990, in: Bratfisch (Hg.): Freie Töne, 93–108, 95.
- Burghard König (Hg.): Jazzrock. Tendenzen einer modernen Musik, Reinbek bei Hamburg 1983, 155.
- Bert Noglik: Vom Linden-Blues zum Zentralquartett – Fragmentarisches zur Entwicklung des Jazz in der DDR, in: That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Darmstadt 1988, 421–433, 424.
- Bert Noglik: Jazzwerkstatt International, Berlin 1981, 321.
- Melodie und Rhythmus 13 (1969), Heft 3, 6.
- Ebd., 7
- Werner Josh Sellhorn: Jazz Lyrik Prosa. Zur Geschichte von drei Kultserien, Berlin 2008.
- Drechsel: Karlheinz Drechsel, a.a.O.
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- Zitiert nach Rauhut: Beat in der Grauzone, 162.
- Rolf Reichelt: Jazz in der DDR, in: Bulletin, Hg.: Musikrat der Deutschen Demokratischen Republik, 16. Jg. (1979), Heft 2, 17f.
- Ebd., 18.
- Helmut Hanke: Freizeit in der DDR, Berlin 1979, 90.
- Ders.: Entwicklungstendenzen musikalischer Bedürfnisse, in: MuG 11 (1981), 644–652.
- Bert Noglik: Blicke auf den Jazz, in: Matthias Creutziger: Jazzphotographie, Hofheim 1996, 62f., 63.
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- Ulli Blobel (Hg.): Woodstock am Karpfenteich. Die Jazzwerkstatt Peitz, Berlin 2011.
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- Helma Kaldewey: A People’s Music: Jazz in East Germany 1945–1990, Cambridge 2019.
- Karlheinz Drechsel: Einige Gedanken zur spezifischen Funktion des Jazz und seiner Rolle im Musikleben der DDR, in: Informationen der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst 2 (1979), Beilage zur Zeitschrift „Unterhaltungskunst“ 11 (1979), Heft 8, 4–11, 6.
- Manfred Hering, in: Bert Noglik und Heinz-Jürgen Lindner: Jazz im Gespräch, Berlin 1978, 57–67, 67.
- Noglik: Jazzwerkstatt international, 326 und 333.
- Günther Huesmann: After 1945: Jazz in Germany, Frankfurt a.M. 2009; online: https://www.goethe.de/en/kul/mus/gen/jaz/ruc/4932331.html (26.7.2019).
- Hans Hielscher: Hot statt FDJ, in: Spiegel Online, 23.4.2006, https://www.spiegel.de/kultur/musik/jazz-in-der-ddr-hot-statt-fdj-a-412172.html (26.7.2019).
- Drechsel: Einige Gedanken zur spezifischen Funktion des Jazz und seiner Rolle im Musikleben der DDR, a.a.O., 7.
- Martin Linzer: Arbeitskreis Jazz, in: Unterhaltungskunst 13 (1982), Heft 3, 14.
- Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst: Presse-Telegramm 3 (1982), 2.
- Martin Linzer: Und wie nun weiter …? Ketzerische Gedanken eines Nicht-Musikers anlässlich der Sektionsgründung Jazz, in: Unterhaltungskunst 17 (1986), Heft 4, 22f., 22.
- Martin Linzer: Jazz auf der VII, in: Unterhaltungskunst 14 (1983), Heft 9, 15.
- Gisela Steineckert: Magdeburg, erstmals, in: Unterhaltungskunst 14 (1983), Heft 9, 4f., 4.
- Faksimile des Redemanuskripts in: Jazz in Deutschland, Hofheim 1996, 230–238.
- Dieckmann: Woodstock am Karpfenteich, a.a.O.
- Bert Noglik: Jazzorchester der DDR. Leitung Günter „Baby“ Sommer, in: Programmheft JazzFest ’90, Berlin 1990, 55.
- In: Volker Braun: Provokation für mich, Halle (Saale) 1965.