Händel-Rezeption
Zusammenfassung
Das lückenlose Anknüpfen an bereits bestehende Rezeptionsmuster erleichterte es letztlich auch den Ideologen in der DDR, Händel für eigene kulturpolitische Ziele zu vereinnahmen. Für die SED-Funktionäre standen dabei von Beginn an dessen Opern und Oratorien im Mittelpunkt, die seit 1952 unter Federführung der staatstragenden Partei zu den Händel-Festspielen in Halle (Saale) alljährlich im großen Stil aufgeführt wurden. Die Aufführungen galten aus Parteisicht auch über die regionalen Grenzen hinaus als ‚maßstabsetzend‘. Bei der künstlerischen Umsetzung der näher in den Blick genommenen vokal-sinfonischen Werke Händels offenbart sich ein durchaus ambivalenter Umgang mit der über die Jahrzehnte der Händel-Festspiele der DDR hinweg betriebenen Indoktrinierung des Komponisten und seines Schaffens seitens der SED.
Vorgeschichtliches
Die Rezeption seines vokal-instrumentalen Œuvres konzentrierte sich nach Händels Tod auf die Oratorien. Mit der 1784 veranstalteten kolossalen Aufführung des Messiah (HWV 56) in der Londoner Westminster Abbey setzte eine Ästhetisierung ein, die sich bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzte. Auch in Deutschland – vergleichbare Darbietungen fanden etwa in den Jahren 1786 bzw. 1788 in Berlin, Leipzig und Breslau unter der Leitung von Johann Adam Hiller statt – wurden Händel-Oratorien nun in großen Besetzungen und auf kirchlichem Terrain ohne jegliche gottesdienstliche oder gar religiöse Bindung aufgeführt. Die Säkularisierung setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts fort, als zunehmend nationale Inhalte an Bedeutung gewannen. Die aufblühenden Sängervereinigungen sorgten schließlich für eine einschränkende Sicht auf Händel als Chorkomponist. In Händels Geburtsstadt entwickelte sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine rege, sich zunächst ebenfalls auf die Aufführung von Oratorien konzentrierte Händel-Rezeption, die in den großen Feierlichkeiten 1859 (100. Todestag) und 1885 (200. Geburtstag) gipfelten.Edwin Werner: Das Händel-Haus in Halle. Führer durch die Händel-Ausstellung und Geschichte des Händel-Hauses, Halle (Saale) 5., veränderte Auflage 2007, 77 f. Händels gesamtes Œuvre für Aufführungen bereitzustellen, ist Friedrich Chysanders Verdienst. Der Musikwissenschaftler arbeitete seit 1858 an der Veröffentlichung der Gesamtausgabe der Werke Händels. In seiner 1890 erstellten praktischen Ausgabe Händelscher Oratorien erschienen die Werke in einer zur damaligen Zeit als unvermeidlich angesehenen ‚zeitgemäßen Aktualisierung‘.Rebekka Sandmeier: Friedrich Chrysanders Ausgaben, in: Dominik Höink, Rebekka Sandmeier (Hg.): Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900). Bibliographie der Berichterstattung in ausgewählten Musikzeitschriften, Göttingen 2014, 50. Vgl. auch Annette Landgraf: Die Händel-Bearbeitungen Friedrich Chrysanders, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), 57–69, 58 f. Er nahm jeweils spezifisch Änderungen in der Instrumentierung sowie im dramaturgischen Ablauf vor, fügte Passagen aus anderen Werken hinzu und ersetzte sogar ganze Partien – so wie er es im Sinne Händels als vertretbar hielt. Es ist davon auszugehen, dass diese Bearbeitungen die musikpraktische Umsetzung bis weit ins 20. Jahrhundert beeinflusste.Vgl. weiterführend Juliane Riepe: Händels Oratorien im ‚Dritten Reich‘. Bearbeitungspraxis und ideologischer Kontext, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 1, 16–68 und 73–154, insb. „Zur Vorgeschichte“, 17–29.
Es waren die 1920er Jahre, die den Aufführungen neue Impulse geben sollten. Neben dem Versuch Hanns Niedecken-Gebhards, Händel-Oratorien erstmals szenisch aufzuführen,„Saul“ (HWV 53) gilt deutschlandweit als erste szenische Inszenierung und wurde im Jahre 1923 in der Hannoverschen Stadthalle mit ca. 800 Mitwirkenden aufgeführt. Vgl. Bernhard Helmich: Händel-Fest und „Spiel der 10.000“. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt a. M. u. a. 1989, 69 f. widmete sich Oskar Hagen der Wiederaufführung von Händel-Opern im Rahmen der Göttinger Händel-Festspiele. Die Aufführung von Rodelinda (HWV 19) im Jahre 1920 gilt als Geburtsstunde der Händel-Opern-Renaissance in Deutschland. Dem voraus ging eine rigorose Bearbeitung der Opera seria, ohne die – so war Hagen überzeugt – ein Publikumserfolg ausbleiben würde.Vgl. weiterführend zur Bearbeitungspraxis Ulrich Etscheit: Händels „Rodelinda“. Libretto, Komposition, Rezeption, Kassel u. a. 1998, 264–280, und Vgl. Hellmuth Christian Wolff: Die Händel-Oper auf der modernen Bühne. Ein Beitrag zu Geschichte und Praxis der Opern-Bearbeitung und -Inszenierung in der Zeit von 1920 bis 1956, Leipzig 1957, 11–17. In den folgenden Jahren fanden auch in Halle (Saale) und in Karlsruhe Händel-Feste bzw. -Tage statt, womit in beiden Städten (in Halle seit 1952, in Karlsruhe seit 1977) der Grundstein für kontinuierlich stattfindende Festspiele gelegt wurde.
In der Aufführungsgeschichte von Händels vokalsinfonischen Werken stellt die Zeit des Nationalsozialismus eine massive Zäsur dar. Durch den Rückgriff auf bereits bestehende Händel-Stilisierungen des 19. Jahrhunderts wurde der Komponist als ideologische Projektionsfigur für nationalsozialistisches Gedankengut vereinnahmt.Juliane Riepe: Händel-Bilder im Deutschland des Nationalsozialismus und in der DDR, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 2, 2–239, insb. 2–41. In aufführungspraktischer Hinsicht spiegelte sich etwa der Topos des Monumentalen vor allem in der propagandistischen Aufführung des Herakles (Hercules HWV 60) zu den Olympischen Sommerspielen im Jahre 1936 mit ca. 2.500 Mitwirkenden unter der Leitung von Fritz Stein wider. Dagegen ließen sich die Oratorien mit ‚jüdischem Sujet‘ nicht mit der vorherrschenden Ideologie vereinbaren. Obwohl die Machthaber den Kulturschaffenden keinerlei Vorgaben machten, wurden die Oratorien textlich bearbeitet und galten seit 1940 schließlich als unaufführbar.Juliane Riepe: Händels Oratorien im ‚Dritten Reich‘. Bearbeitungspraxis und ideologischer Kontext, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 1, 16–68 und 73–154, 30–56.
Zur Ideologisierung und politischen Vereinnahmung Georg Friedrich Händels in der DDR
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde im östlichen Teil Deutschlands die ökonomische, soziale und kulturpolitische Entwicklung im Interesse der Sowjetunion bestimmt. Als politisches Gremium agierte die SED, die seit 1947/48 nach dem Vorbild der KPdSU geprägt wurde und fortan ihre Alleinherrschaft innerhalb des Parteiensystems beanspruchte. Nach der Staatsgründung der DDR am 7. Oktober 1949 nutzte die Partei ihren Einfluss zur Ordnung des Staatsapparates durch die Einführung des sogenannten demokratischen Zentralismus und zur ideologischen Durchdringung möglichst vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus.Vgl. weiterführend Susanne Spiegler: Georg Friedrich Händel im Fadenkreuz der SED. Zur Instrumentalisierung seiner Musik in der DDR, Beeskow 2017, 28–32. In besonderem Maße waren davon auch die Künste betroffen.
Bezogen auf Georg Friedrich Händel versäumten die Parteifunktionäre es nicht, von Beginn an entsprechende Weichen für eine politisch-ideologische Inanspruchnahme des Komponisten zu stellen: Nach einer grundlegenden Neustrukturierung der nun zentralistisch geleiteten Verwaltungsstruktur wurden Schlüsselpositionen mit parteitreuen Funktionären besetzt.Der Erfolg dieser Maßnahmen ist jedoch grundsätzlich zu hinterfragen. Vgl. ebd., 33. Bezogen auf gesellschaftliche Organisationen blieb dieses Vorgehen für die 1955 in Halle (Saale) gegründete Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft nicht ohne Folgen.Der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft voraus ging die Hallische Händel-Gesellschaft, die am 4. Februar 1948 gegründet wurde. 1949 wurde die gesellschaftliche Organisation in den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (Ortsgruppe Halle/Saale) eingegliedert und ging 1954 schließlich in der gesamtdeutsch ausgerichteten Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft auf. Vgl. weiterführend Lars Klingberg: Die Gründung der Hallischen Händel-Gesellschaft – eine ‚bürgerliche‘ Vereinigung ohne Zukunftschance im Sozialismus, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 1, 433–454, sowie Susanne Spiegler: Georg Friedrich Händel im Fadenkreuz der SED. Zur Instrumentalisierung seiner Musik in der DDR, Beeskow 2017, 39–42. Trotz des gesamtdeutschen und internationalen Charakters – dem Vorstand gehörten ausländische Händel-Forscher und westdeutsche Verleger an – sollte durch eine Besetzung wichtiger Positionen mit Parteiangehörigen die Führung beim Ministerium für Kultur (MfK) liegen.Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997, 165. Auch die Satzung der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft entsprach nach entsprechender Einflussnahme „vollständig den politischen Interessen der DDR“.Johanna Rudolph: Information über die Vorbereitung der Händel-Festspiele 1962, Bundesarchiv, DR 1/15696, unpag. Seit 1955 organisierte die Gesellschaft in Kooperation mit der Stadt Halle (Saale) die seit 1952 alljährlich stattfindenden Händel-Festspiele unter ständiger behördlicher Aufsicht. Sowohl die Konzeption als auch die Programmgestaltung der Festspiele mussten mit dem MfK und der ZK-Abteilung Kultur abgestimmt werden, was innerhalb der Gesellschaft nicht ohne Widerstand blieb.Weiterführend Susanne Spiegler: Georg Friedrich Händel im Fadenkreuz der SED. Zur Instrumentalisierung seiner Musik in der DDR, Beeskow 2017, 68–82. So verweigerte etwa die Göttinger Händel-Gesellschaft eine den Verlust ihrer Eigenständigkeit bedeutende Eingliederung und schloss sich vielmehr nur korporativ an. Im Jahre 1960 ging Jens Peter Larsen (Kopenhagen) schließlich in einer Mitgliederversammlung entschieden gegen eine kulturpolitische Einflussnahme vor.Vgl. ebd., 45 f. Nichtsdestotrotz blieben die Festspiele ein wichtiges Podium für die Durchsetzung kulturpolitischer Direktiven seitens der SED.
Durch die rege Publikationstätigkeit von systemtreuen Musikwissenschaftlern und Ideologen, allen voran Ernst Hermann Meyer, Johanna Rudolph und Walther Siegmund-Schultze, strebte man eine nachhaltige Beeinflussung der Händel-Forschung im In- und Ausland an. Insbesondere die Konferenzen zu den Händel-Festspielen wurden für die Verbreitung eines einheitlichen ‚neuen Händel-Bildes‘ genutzt. Diese lapidar als ‚marxistisches Händel-Bild‘ zusammengefasste Sicht auf Händel wurde in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt und hatte – lediglich in den 1970ern leicht modifiziert – bis zuletzt Bestand. Dabei bediente man sich facettenreicher Topoi, die zum Teil bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts zurückreichen. Dargestellt wurde Händels Musik u. a. als ‚volkstümlich‘ und ‚allgemeinverständlich‘; Händel selbst als ‚kämpferisch‘, ‚aufgeklärt‘, ‚humanistisch‘ und dem ‚Diesseits‘ zugewandt.Weiterführend Juliane Riepe: Händel-Bilder im Deutschland des Nationalsozialismus und in der DDR, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 2, 2–239, 41–62. Dass der Komponist für politische Zwecke überhaupt in Betracht kommen konnte, ist einer vor dem Hintergrund der sozialistischen Musikgeschichtsschreibung erfolgten massiven Umdeutung seines Lebens und Schaffens geschuldet. Händels ‚Rehabilitation‘ ermöglichte eine ideologisch intendierte Periodisierung, wodurch der Barock-Begriff durch die Epochenbezeichnung „Aufklärung“ ersetzt wurde. Eine konsequente Verbreitung dieses Geschichtsbildes strebte man durch das einheitliche Bildungssystem und die festgelegten Lehrinhalte im Musikunterricht bzw. in den Musikhochschulen und Universitäten an. Ad absurdum geführt wurde die ideologisch (nicht etwa wissenschaftlich) bedingte Vermeidung des Barock-Begriffs schließlich in den 1980er Jahren, als der Begriff zur Verdeutlichung dekadent erscheinender Werke wieder eingeführt wurde.Werner Felix: Geschichtliche Grundlagen, in: ders. u. a. (Hg.): Musikgeschichte. Ein Grundriß, Teil I, Leipzig 1984, 116–122, 122; in der 2. Auflage von 1989 ebd.
Georg Friedrich Händel in der Musikpraxis
Nimmt man unter den oben geschilderten Voraussetzungen die künstlerische Umsetzung in den Blick, so verwundert es kaum, dass sich die politische Konzeption und die ideologische Prägung der Händel-Festspiele auch auf die Musikpraxis auswirkten. Bereits in der Gründungsphase der Händel-Festspiele war sich dessen Mitbegründer, der Dirigent Horst-Tanu Margraf, des Machtgefüges bewusst und bediente in dem zusammen mit Max Schneider verfassten Planungsentwurf die Erwartungen der Partei an massenwirksame, identitätsstiftende Festspiele insbesondere in einer wirtschaftlich bedeutsamen Region.
Auf künstlerischer Seite wollte Margraf in Übereinstimmung mit der Parteiführung durch qualitativ hochwertige Aufführungen und der Herausbildung eines ‚eigenen‘ Händel-Stils den Erfolg der Festspiele sichern. In Kooperation mit dem Regisseur Heinz Rückert und dem Bühnenbildner Rudolf Heinrich erarbeitete er eine vorrangig auf Popularisierung zielende ‚künstlerische Methode‘, die bis weit in die 1960er Jahre hinein für die Opern-Aufführungen verbindlich war und parteipolitisch – in klarer Abgrenzung zu den Errungenschaften der 1920er Jahre in Göttingen – als „echte Händel-Renaissance“ bezeichnet wurde. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Opera seria nach wie vor dem Zeitgeist angepasst werden müsse, wurden die Werke entsprechend bearbeitet. Dabei orientierte man sich vornehmlich an den Prinzipien des ‚realistischen Musiktheaters‘ Walter Felsensteins und an Konstantin Sergejewitsch Stanislawskis Theater-Ästhetik, die – fernab jeder Legitimation – auf die Händel-Oper übertragen wurde. Die so entwickelte ‚Interpretationsmethode‘ vereinte demnach vorherrschende theaterästhetische Prämissen mit den politisch-ideologischen Forderungen der SED. Paradoxerweise beruhte die ‚künstlerische Methode‘ auf grundlegenden Bearbeitungspraktiken der 1920er Jahre.
Im Mittelpunkt der Bearbeitungspraxis standen – wie schon bei Oskar Hagen – die Arien, die im Sinne des ‚realistischen Musiktheaters‘ häufig und in verschiedenen Ausprägungen um ihren B- oder A'-Teil gekürzt wiedergegeben wurden. Vokale und instrumentale Verzierungen wurden kaum beachtet, was aus künstlerischer Sicht der mangelhaften Ausbildung geschuldet ist. Nicht unerheblich dürften jedoch auch die Verunglimpfungen seitens der Ideologen gewesen sein, die barocke Improvisations- und Verzierungstechniken als ‚formalistisch‘ ablehnten. Seinem ‚musikdramatischen‘ Konzept folgend, instrumentierte Margraf die Secco-Rezitative aus und experimentierte in den Arien ‚je nach Stimmungsgehalt‘ mit Zusatzinstrumenten.
Heinz Rückert nahm auf der Grundlage der bereits von Hagen angewandten Methode der ‚Durchtextierung‘ zur besseren Textverständlichkeit gravierende Eingriffe in das Libretto vor: In den Arien wurden Textwiederholungen nicht mehr gestrichen, sondern einer Umdeutung unterzogen und durch neue Gedanken ersetzt. Die textliche Bearbeitung führte zu einer Sinnentstellung des Wort-Tonverhältnisses und zielte ebenso auf eine vereinfachte Figurenkonstellation. In der 1954 aufgeführten Oper Poros (Poro HWV 14) etwa nahm der Regisseur aus Gründen einer vermeintlich besseren Glaubwürdigkeit nicht nur die Umbenennung der Protagonisten vor, sondern setzte durch die Umdeutung der Rolle Nimbavatis (Erissenas) die Erwartungen der Partei um, mit Händels Opern sogenannte humanistische Ideale zu vermitteln.
In den 1960er Jahren wuchs die Kritik an seiner Bearbeitungspraxis. In Agrippina (1967, HWV 6) zeigten sich Ansätze einer Neuorientierung: Die nun von Waldtraut Lewin vorgenommene Textübersetzung orientierte sich mehr am Original, und die Verwendung von zusätzlichen Instrumenten wurde nun eingeschränkt. Diesen Weg ging sein Nachfolger Thomas Sanderling weiter, der sich von der Bearbeitungspraxis der 1950er und 1960er Jahre distanzierte, wenngleich auch er an den Grundsätzen des ‚realistischen Musiktheaters‘ Walter Felsensteins festhielt.
Erst mit dem Engagement des Dirigenten Christian Kluttig und des Regisseurs Peter Konwitschny hatte sich der Bezug zum ‚realistischen Musiktheater‘ grundlegend verändert, denn längst hielt das Regietheater Einzug. Während sich Kluttig einer historisch informierten Aufführungspraxis im Rahmen des Möglichen verschrieb, orientierte sich der vom Berliner Ensemble kommende Regisseur am ‚epischen Theater‘ Bertolt Brechts. In seinen Opern-Inszenierungen wie etwa Floridante (1984, HWV 14) nutzte Konwitschny Verfremdungseffekte zur Vermeidung einer ‚Illusionsbildung‘ beim Publikum. Dazu zählte etwa auch die deutsch-italienische Texteinrichtung, die der Regisseur und Werner Hintze auf der Grundlage der Übersetzung von Karin Zauft anfertigten. Der häufige Sprachenwechsel erzeugte Diskontinuitäten, mit deren Hilfe wirksame Brüche innerhalb einer geradlinigen Handlung erreicht werden sollten. Als eine Konstante in Konwitschnys Regiekonzeption ist die direkte Konfrontation des Publikums mit den zentralen politischen Themen anzusehen. Denn auch in den nachfolgenden Produktionen war die innewohnende Regimekritik offenkundig.
Mit Blick auf die Oratorien ist zunächst festzustellen, dass diese im Vergleich zur barocken Opera seria leichter – wenn auch nicht problemlos – zu instrumentalisieren waren. Schließlich galten diese aus dem sozialistischen Geschichtsverständnis heraus als ‚fortschrittlichere‘ Gattung. In Übereinstimmung mit dem propagierten Händel-Bild erarbeitete Johanna Rudolph in ihrem Buch HändelrenaissanceJohanna Rudolph: Händelrenaissance. Eine Studie, Bd. I, Berlin 1960; dies.: Händelrenaissance, Bd. II: Händels Rolle als Aufklärer, Berlin und Weimar 1969. bis 1969 eine Oratorienkonzeption im marxistisch-leninistischen Sinne, die lange Zeit als verbindliche Werkauslegung zu gelten hatte. Durch die Deutung und Umdeutung ausgewählter Händel-Bilder und Zitate Herders, Gervinus’, Engels’ und Rollands erschien Händel einmal mehr als ein Vertreter des ‚Antiabsolutismus‘, als ‚Künder der Friedensbotschaft‘, als ‚Revolutionär‘. Attestiert wurde seinen Werken, in denen nach wie vor die Chöre im Vordergrund standen, ein vorrangig ‚demokratisch-humanistischer‘ Gehalt, was den Komponisten zum würdigen Vertreter des ‚nationalen Kulturerbes‘ machte.
Trotz dieser tiefgreifenden Ideologisierungsbestrebungen stieß man in Bezug auf die religiöse Prägung der biblischen Oratorien an Grenzen. Gerade Händels meistaufgeführtes Werk Messiah ließ sich trotz aller Bemühungen um eine Nivellierung des Bibeltextes letztlich nicht mit der Doktrin des Marxismus-Leninismus vereinbaren.Lars Klingberg: Die Debatte um die Religiosität von Händels Messias 1958, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 2, 702–753. Die gewünschte Werkauffassung versuchte man dennoch durch unzählige populär- und musikwissenschaftliche Schriften, Schallplattenbegleittexte und Vorträge durchzusetzen.
Auf künstlerischer Ebene proklamierte der Berliner Dirigent Helmut Koch schon 1951 eine ‚neue Händel-Pflege‘, durch die dessen Werke zu ‚Freiheits-Oratorien‘ bzw. zu ‚historischen Volksdramen‘ stilisiert wurden. Dabei knüpfte er an tradierte, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Topoi an und setzte zugleich die aus Parteisicht wichtige Säkularisierung der Gattung fort. In den bis weit in die 1970er Jahre dominierenden Interpretationen folgte Koch auch in der Großbesetzung der Oratorien und in der musikalischen Ausgestaltung vorrangig der Tradition des 19. Jahrhunderts. Der voluminöse Orchesterklang bewirkte ein zwangsläufig langsames Tempo, während Oboen- und Fagottstimmen naturgemäß übertönt wurden. Verzierungen wurden – wenn überhaupt – nur instrumental aufgeführt, wobei selbst Kadenzierungen unbeachtet blieben.Helmut Kochs Abstinenz entsprach der u. a. von Horst Seeger vertretenen Ansicht, dass „willkürliche Verzierungen“ im Oratorium zur Händel-Zeit keine Rolle spielen würden; ders.: Zu Fragen der Aufführungspraxis von Händels Oratorien, in: Walther Siegmund-Schultze (Hg.): Händel-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik. Halle 11.–19. April 1959. Konferenzbericht, Leipzig 1961, 245–250, 249. Dem damaligen Verständnis von ‚Werktreue‘ entsprechend verzichtete der Dirigent weitgehend auf die Streichung von Arien und Rezitativen. Gleichzeitig erfüllte er damit die kulturpolitischen Forderungen der SED an eine ‚realistische‘ Interpretation, die im Kontext der Formalismus-Realismus-Kampagne seit 1951 auch im künstlerischen Bereich umzusetzen war. Im Gegensatz zur Oper beruhte der ‚Realismus‘-Begriff auf einer ‚originalgetreuen‘ Wiedergabe, schließlich konnte so eine klare Abgrenzung zu den Praktiken des Nationalsozialismus propagiert und die DDR als ‚demokratisch-antifaschistischer‘ Staat untermauert werden.
Nach Helmut Kochs Tod wandte man sich in den 1970er Jahren – vergleichbar mit den Entwicklungen in der BRD – vom bislang üblichen Monumentalstil ab. Neue Impulse verliehen den Oratorien u. a. Heinz Rögner, Olaf Koch, Dietrich Knothe und Dorothea Köhler. Durch Christian Kluttig näherte man sich im letzten Jahrzehnt der Händel-Festspiele in der DDR einer den damaligen Möglichkeiten entsprechenden historisch geschulten Aufführungspraxis auch im Bereich der Oratorien an. Hervorzuheben ist diesbezüglich der Einsatz des Countertenors Jochen Kowalski in der konzertant dargebotenen Oper II Muzio Scevola (HWV 13, 1982) und dem (bis 1983 in der DDR nicht zur Aufführung gelangten) Oratorium Theodora (HWV 68).
Literatur
Gerlach, Katrin, Lars Klingberg, Juliane Riepe, Susanne Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014.
Gerlach, Katrin, Lars Klingberg, Juliane Riepe: Parameter politischer Instrumentalisierung von Musik der Vergangenheit im Deutschland des 20. Jahrhunderts am Beispiel Georg Friedrich Händels, in: Wolfgang Auhagen, Wolfgang Hirschmann (Hg.), Hansjörg Drauschke (Redaktion): Beitragsarchiv zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung Halle/Saale 2015 – „Musikwissenschaft: die Teildisziplinen im Dialog“, Mainz 2016; online unter https://schott-campus.com/parameter-politischer-instrumentalisierung-von-musik-der-vergangenheit-im-deutschland-des-20-jahrhunderts/ (16. 9. 2020).
Klingberg, Lars: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997.
Potter, Pamela: The Politicization of Handel and His Oratorios in the Weimar Republic, the Third Reich, and the Early Years of the German Democratic Republic, in: The Musical Quarterly 85 (2001), 311–341.
Richter, Gert: 50 Jahre Händel-Festspiele in Georg Friedrich Händels Geburtsstadt Halle an der Saale, Halle (Saale) 2001.
Spiegler, Susanne: Georg Friedrich Händel im Fadenkreuz der SED. Zur Instrumentalisierung seiner Musik in der DDR, Beeskow 2017.
Anmerkungen
- Edwin Werner: Das Händel-Haus in Halle. Führer durch die Händel-Ausstellung und Geschichte des Händel-Hauses, Halle (Saale) 5., veränderte Auflage 2007, 77 f.
- Rebekka Sandmeier: Friedrich Chrysanders Ausgaben, in: Dominik Höink, Rebekka Sandmeier (Hg.): Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900). Bibliographie der Berichterstattung in ausgewählten Musikzeitschriften, Göttingen 2014, 50. Vgl. auch Annette Landgraf: Die Händel-Bearbeitungen Friedrich Chrysanders, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), 57–69, 58 f. Er nahm jeweils spezifisch Änderungen in der Instrumentierung sowie im dramaturgischen Ablauf vor, fügte Passagen aus anderen Werken hinzu und ersetzte sogar ganze Partien – so wie er es im Sinne Händels als vertretbar hielt.
- Vgl. weiterführend Juliane Riepe: Händels Oratorien im ‚Dritten Reich‘. Bearbeitungspraxis und ideologischer Kontext, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 1, 16–68 und 73–154, insb. „Zur Vorgeschichte“, 17–29.
- „Saul“ (HWV 53) gilt deutschlandweit als erste szenische Inszenierung und wurde im Jahre 1923 in der Hannoverschen Stadthalle mit ca. 800 Mitwirkenden aufgeführt. Vgl. Bernhard Helmich: Händel-Fest und „Spiel der 10.000“. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt a. M. u. a. 1989, 69 f.
- Vgl. weiterführend zur Bearbeitungspraxis Ulrich Etscheit: Händels „Rodelinda“. Libretto, Komposition, Rezeption, Kassel u. a. 1998, 264–280, und Vgl. Hellmuth Christian Wolff: Die Händel-Oper auf der modernen Bühne. Ein Beitrag zu Geschichte und Praxis der Opern-Bearbeitung und -Inszenierung in der Zeit von 1920 bis 1956, Leipzig 1957, 11–17.
- Juliane Riepe: Händel-Bilder im Deutschland des Nationalsozialismus und in der DDR, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 2, 2–239, insb. 2–41.
- Juliane Riepe: Händels Oratorien im ‚Dritten Reich‘. Bearbeitungspraxis und ideologischer Kontext, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 1, 16–68 und 73–154, 30–56.
- Vgl. weiterführend Susanne Spiegler: Georg Friedrich Händel im Fadenkreuz der SED. Zur Instrumentalisierung seiner Musik in der DDR, Beeskow 2017, 28–32.
- Der Erfolg dieser Maßnahmen ist jedoch grundsätzlich zu hinterfragen. Vgl. ebd., 33.
- Der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft voraus ging die Hallische Händel-Gesellschaft, die am 4. Februar 1948 gegründet wurde. 1949 wurde die gesellschaftliche Organisation in den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (Ortsgruppe Halle/Saale) eingegliedert und ging 1954 schließlich in der gesamtdeutsch ausgerichteten Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft auf. Vgl. weiterführend Lars Klingberg: Die Gründung der Hallischen Händel-Gesellschaft – eine ‚bürgerliche‘ Vereinigung ohne Zukunftschance im Sozialismus, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 1, 433–454, sowie Susanne Spiegler: Georg Friedrich Händel im Fadenkreuz der SED. Zur Instrumentalisierung seiner Musik in der DDR, Beeskow 2017, 39–42.
- Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997, 165.
- Johanna Rudolph: Information über die Vorbereitung der Händel-Festspiele 1962, Bundesarchiv, DR 1/15696, unpag.
- Weiterführend Susanne Spiegler: Georg Friedrich Händel im Fadenkreuz der SED. Zur Instrumentalisierung seiner Musik in der DDR, Beeskow 2017, 68–82.
- Vgl. ebd., 45 f.
- Weiterführend Juliane Riepe: Händel-Bilder im Deutschland des Nationalsozialismus und in der DDR, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 2, 2–239, 41–62.
- Werner Felix: Geschichtliche Grundlagen, in: ders. u. a. (Hg.): Musikgeschichte. Ein Grundriß, Teil I, Leipzig 1984, 116–122, 122; in der 2. Auflage von 1989 ebd.
- Johanna Rudolph: Händelrenaissance. Eine Studie, Bd. I, Berlin 1960; dies.: Händelrenaissance, Bd. II: Händels Rolle als Aufklärer, Berlin und Weimar 1969.
- Lars Klingberg: Die Debatte um die Religiosität von Händels Messias 1958, in: Katrin Gerlach u. a. (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014, Teil 2, 702–753.
- Helmut Kochs Abstinenz entsprach der u. a. von Horst Seeger vertretenen Ansicht, dass „willkürliche Verzierungen“ im Oratorium zur Händel-Zeit keine Rolle spielen würden; ders.: Zu Fragen der Aufführungspraxis von Händels Oratorien, in: Walther Siegmund-Schultze (Hg.): Händel-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik. Halle 11.–19. April 1959. Konferenzbericht, Leipzig 1961, 245–250, 249.