Ingeborg Allihn
(Musikwissenschaftlerin, geb. 1936)
LK (Lars Klingberg): Also ich sag am Anfang mal, damit wir das zuordnen können: Heute ist der 1. Februar 2020, und ich spreche mit Ingeborg Allihn, und wir wollen uns unterhalten über das generelle Thema „Alte Musik in der DDR“, vielleicht auch Musikinstrumentenbau, Orgelbau … Diese Thematik könnte ich mir vorstellen – und dann die Zeit im Komponistenverband und insbesondere, was mich persönlich besonders interessiert, die Zeitschrift „Bulletin“ des Musikrates, die nämlich – wie ich meine völlig zu Unrecht – bisher von der Forschung noch gar nicht in den Blick genommen worden ist, die ganz interessant ist, die so eine Gegenzeitschrift, würde ich fast sagen, zu „Musik und Gesellschaft“ war. So ein bisschen. Also, wenn es denn stimmt, was Günter Gaus mal über die DDR sagte, dass die DDR eine Nischengesellschaft gewesen sei, dann, würde ich behaupten, war diese Zeitschrift, irgend so eine Art Nische. Oder, kann man das sagen?
IA (Ingeborg Allihn): Das kann man sagen, und das kann man natürlich besonders auch sagen hinsichtlich der Alten Musik, denn Alte Musik hat es natürlich erstmal … In Laienkreisen ist viel musiziert worden. Ich komme aus Quedlinburg, und ich weiß, alleine was in Quedlinburg in Privathäusern …, wo ich dann selber auch beteiligt war … Ich hab ja Querflöte [studiert], einen Konservatoriumsabschluss gehabt und habe viel Kammermusik gemacht. Und das war auch eine der Nischen, die von der …, ja … die zwar zur Kenntnis genommen wurde, wenn sie bemerkt wurde, aber nicht weiter ernst genommen, weil das ja Alte Musik war. Das war, das war offenbar … Im Blick der Entscheidungsträger des DDR-Apparats war das uninteressant. Interessant wurde es erst dann, wenn ein Ensemble aus Profis sich formieren wollte und nun an die Öffentlichkeit treten wollte, nur noch unter, nur noch für dieses Metier. Also die Geschichte der Akademie für Alte Musik [Berlin], ist die …? Ist bekannt und muss ich hier nicht noch mal erwähnen, aber das war so ein Signal. Wobei man sagen muss: Es hat auch davor schon unter dem Dach bestimmter Institutionen … Also zum Beispiel gab es das Barockmusiktrio [Berliner Barock-Trio] von der [Deutschen] Staatsoper, wo der Horst Krause und … einmal Gambe gespielt haben. Das waren alles Privatinitiativen, und man brauchte dazu natürlich auch einen einsichtsvollen Chef oder einen, der die Hände schützend darüber hielt oder eine Institution wie bei der Akademie für Alte Musik, wo dann die Akademie der Wissenschaften … – ja das war es, glaub ich, weiß ich hier aber jetzt nicht mehr ganz genau, das müsst ich noch mal dann extra sagen –, die dann als Träger sich formiert haben. Und so konnte das erste öffentliche Konzert dann auch stattfinden, und das war ja dann schon in der Endphase der DDR, also da waren die Dinge sowieso lockerer als so zu Anfang und besonders in den 50er/60er Jahren. Ansonsten war natürlich auch die Beschäftigung mit Alter Musik aus dem Blickwinkel von bedeutenden Komponisten, siehe Telemann in Magdeburg. Das waren immer … also die Quellen oder die Wurzeln solcher Einrichtungen, die heute große Festtage veranstalten und so weiter, die waren immer …, lagen immer im privaten Bereich. Das war in diesem Falle Günter Fleischhauer, der [1928] in Magdeburg geboren war und die Stadtoberen davon mühsam überzeugt hat, dass Telemann ein bedeutender Komponist ist und dass es der Stadt Magdeburg gut tun würde, sich dieses Komponisten zu widmen. Und das ist dann so langsam gewachsen, und so bin ich auch hineingewachsen in die Alte Musik. Ich habe damals in Magdeburg gewohnt und habe dann Fleischhauer kennengelernt. Das war die Zeit, wo ich dann in Halle studiert habe. Ja, erst mal so weit.
LK: Ja. Mich würde vielleicht noch interessieren: Das ist ja eine Zeit, wo diese Historische Aufführungspraxis, wie man das dann nannte – oder heute sagt man gerne „historisch informierte Aufführungspraxis“ – entstanden ist. Mit solchen Namen wie Gustav Leonhardt oder [Nikolaus] Harnoncourt usw. verbunden. Wie war das in der DDR, wenn man sich sozusagen auf die …, wenn man Ähnliches, was die Leute gemacht haben, versuchen wollte in der DDR? Auf historischen Instrumenten zu spielen, sich die historischen Spielpraktiken anzueignen? Ich erzähle in dem Zusammenhang immer eine Geschichte, die mir mal Adele Stolte erzählt hat – und die findet sich dann auch in der Festschrift für Adele Stolte zum 70. Geburtstag. Da gibt es einen Beitrag von ihrem Mann, der als Cembalist ja mit ihr zusammengearbeitet hat,Wolfram Iwer: Biografie im Dialog, in: Adele Stolte. „Ich bin vergnügt mit meinem Glücke“. Gesungen – gelebt – bewahrt, hg. vom Förderverein der Potsdamer Kantorei an der Erlöserkirche e. V., Potsdam 2007, 17–47. und 1967/68 gab es eine Schallplatteneinspielung bei Eterna, wo Adele Stolte Händels „Neun Deutsche Arien“ [HWV 202–210] eingespielt hat (mit ihrem Mann als Cembalist), und dann hat Johanna Rudolph verhindern wollen, dass diese Schallplatte …
IA: … erscheint?
LK: … erscheint, weil sich (lacht) Adele Stolte, wenn auch ganz dezent, der neuesten Aufführungspraktiken da bedient hat und dann so ein bisschen dann die Da-capo-Arien eben ein bisschen variiert hat. Und da glaubte also Johanna Rudolph, das sei der Einfluss der westlichen Ideologie, weil das ja aus dem Westen alles kam, und hat dann tatsächlich das blockiert. Und dann hat aber Helmut Koch sich darüber hinweggesetzt und hat dann wohl durchgesetzt, dass die Schallplatte erscheinen konnte.
IA: Genau.
LK: Völlig irre! Also warum gab es solche …? Kannst du dich erinnern, dass es solche Schwierigkeiten gab, dass man gesagt hat: Nein, das ist doch alles irgendwie nicht auf unserem Mist gewachsen sozusagen und deswegen problematisch?
IA: Ja, also ich kann mich insofern erinnern, es betrifft die Anfänge, damals hieß das noch „Zentrum für historische Aufführungspraxis“. Das war in Kloster Michaelstein, und der Eitelfriedrich Thom, der damalige Direktor, war … Als ich in die Oberschule kam, ging der in die 12. Klasse und hatte ein Orchester und war begeistert und studierte dann Musik und überzeugte in seiner … Der kam aus Ostpreußen als Kind, aber hatte dann in Blankenburg am Harz sein Elternhaus gefunden und überzeugte den Leiter der LPG, der nämlich das ganze Kloster Michaelstein als Lagerstätte für Säcke mit Getreide und … und … und … in Besitz genommen hatte oder dem das zugeordnet worden war … davon, dass er doch mit seinem Laienorchester dort ein … Ja, also er wollte das auch alles mit aufbauen mit den Leuten und würde das reinräumen, hatte das Refektorium zugesprochen bekommen und hat dort dieses Zentrum für historische Aufführungspraxis … Das hieß damals dann schon so. Und dort habe ich Eduard Melkus kennengelernt, Christiane Jaccottet, und das war fantastisch, weil: es war weit ab, und in Magdeburg hat das wohl keiner … – denn das gehörte damals ja zum Bezirk Magdeburg – hat das wohl keiner zur Kenntnis so richtig genommen. Jedenfalls habe ich dort immer die Leute kennengelernt, die in meinem Leben dann eigentlich eine ganz bedeutende Rolle gespielt haben, was meine Hinwendung zu diesem Thema – historische Aufführungspraxis und alte Instrumente und … und … und … Das ist zum Beispiel ein Beispiel, wenn das jetzt mehr in der Nähe eines kulturell – wie Johanna Rudolph – Gewichtigen gewesen wäre, wer weiß, ob es möglich gewesen wäre? Denn das war ’68, also das war doch noch in einer frühen Zeit.
LK: Was mag das Motiv eigentlich für Eitelfriedrich Thom dagewesen sein? Das war ja doch einigermaßen ungewöhnlich zu der Zeit.
IA: Das war großes Interesse.
LK: Ja.
IA: Eigenes Interesse. Der hat sehr gut Cembalo gespielt, und das war eigenes Interesse. Der war natürlich auch sehr, da sehr interessiert und auch ehrgeizig, muss man auch sagen. Leider hat – wenn das stimmt – hat der Ehrgeiz dazu geführt, dass er dann IM auch war.
LK: Ja, das hab ich auch gehört, aber weiß keiner.
IA: Aber, also das jetzt in diesem Zusammenhang völlig uninteressant. Also ihm ist es jedenfalls zu verdanken, diese bedeutenden Leute dorthin zu holen. Denn wo hätte man sonst wirklich lernen können? Früh hielten die ihre Vorträge, demonstrierten: Das muss so und so klingen und so weiter und dann nachmittags wurde dann ein Konzert gegeben und dann hörte man wie das von professionellen Musikern, wie das dann interpretiert wird und so haben … Das war die Pilgerstätte, also da sind alle hingekommen, ob Hans-Joachim Schulze vom Bacharchiv, oder was weiß ich wer.
LK: Und vor allem die Westleute auch viele.
IA: Und die Westleute!
LK: Was ja damals noch ungewöhnlich war.
IA: Das war, also, wie gesagt, Christiane Jaccottet aus der Schweiz, die ja doch sehr viel mit [Heinz] Holliger usw. auch zusammen musiziert hat und dann der Melkus und …, müsst ich ihnen in meinen Unterlagen mal nachgucken, wer dann noch dabei war, aber das waren …
LK: Ich kenne nur immer die Publikationen da – nicht? – diese Reihe. Aber ich selbst war nie da, hab das nie persönlich erlebt, wie das war. Ich weiß nur, dass auch – eigentlich Eitelfriedrich Thom in den frühen Jahren, wo das richtig mit dem Spaten in der Hand, da haben die Arbeitseinsätze geleistet …
IA: Absolut, absolut. Und das waren ein Arzt aus Magdeburg, der begeistert Cello spielte, und die kamen wirklich aus Begeisterung für diese, für diesen Gegenstand „Alte Musik“, da kamen die hin und wir haben, also die ersten Tagungen haben wir oben auf dem Dach in so Verschlägen genächtigt, und es war primitiv hoch drei, aber die Begeisterung war so groß, gerade in den ersten Tagen, den ersten Tagungen. Weil der Hunger danach war auch groß. Es gab ja keine Publikationen, es sei denn man hat Freunde gehabt. Also ich habe dann durch Christoph-Hellmut Mahling und andere sehr viel Literatur auch bekommen. Also mich hat das Thema von Anfang an interessiert, und dann haben die das auch sehr unterstützt, das muss ich schon sagen.
LK: Also ich kann das ja nur beurteilen anhand dieser Publikationen, da ist natürlich dann so ein Professionalisierungsprozess da, und da hab ich dann den Eindruck: Ja, das ist dann alles schön, das nähert sich immer mehr den allgemeinen wissenschaftlichen Standards auch an, aber ich hatte den Eindruck, wenn man das so sieht, dieser große Idealismus, der am Anfang da war – wo man noch das Gefühl hatte, man kann jetzt was ganz Unbekanntes, was es überhaupt noch … neu erforschen und dann bestimmte Dinge noch neu entdecken – der verflog offenbar. Ist das, kann man das so sagen?
IA: Ja, das kann man mit Fug und Recht so sagen. Es war dann auch … Also nach der Wende haben dann auch andere noch einen Stempel drauf gedrückt, und der Thom war ja dann tot, der ist ja …
LK: … sehr früh gestorben, ja.
IA: Gott hab’ ihn selig. Für ihn wahrscheinlich gut (lacht). Unmittelbar nach der Wende ist er – während eines Konzertes – vom Pult gefallen, und war tot.
LK: Ach.
IA: Schöner geht’s nicht, sag ich auch immer.
LK: Gut, das vielleicht dazu. Also dieser … was mich fast noch mehr interessiert, ist diese Erfahrung im [Komponisten]verband. Wie bist Du denn zum Verband gekommen, wie hing das zusammen?
IA: Na ich bin … Ich hab Musikwissenschaften auch studiert, wie du weißt, und war am Theater. Und hatte ja, habe zwei Kinder, die damals auch noch Schulkinder waren und hatte mich von meinem Mann getrennt. Und habe Theater und Kinder alleine zu Hause und … das geht einfach nicht. Kinder brauchen Ordnung, die brauchen verlässlich … Die Mutter ist dann zu Hause und wenn du am Theater bist hast du zwei Tage mal frei aber dann bist du von früh bis spät unmittelbar vor der Premiere … Ich bin leidenschaftlich gern am Theater gewesen, hab wunderbare Erinnerungen, aber das ging nicht. Ja und dann hab ich natürlich von Magdeburg aus überlegt: Wo sind die meisten Institutionen, wo ich eventuell eine Stelle kriegen könnte und habe mich erst beim Rundfunk beworben, wurde abgelehnt – wegen der Westverwandten –, und dann habe ich also an allen Institutionen mich beworben, unter anderem auch beim Verband der Komponisten. Und Frank Schneider hat mir später gesagt, er hätte gesagt, bei meinem Vorstellungsgespräch bei [Konrad] Niemann, hätte er hinterher, als Niemann sich dann mit ihm unterhalten hat, gesagt: „Och sie sieht ja ganz niedlich aus, nimm se mal.“ So, dankeschön, das … – so bin ich dazu gekommen.
LK: Wann war das?
IA: 1970.
LK: Ja. Ich glaube der Beethovenkongress 1970, da hattest du schon …
IA: Das war mein erste …
LK: Richtig.
IA: … erste Erfahrung.
LK: Ich hab mal recherchiert – nur um das mal zu sagen – ich hatte erfahren von einem Historiker [Guntolf Herzberg], der eine Rudolf-Bahro-Biographie geschrieben hat,Guntolf Herzberg und Kurt Seifert: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002. dass Bahro an beiden Beethovenkongressen teilgenommen hat, 1970 und 1977.
IA: Richtig.
LK: Und dann hab ich mir mal die Verbandsunterlagen angeschaut, und siehe da …
IA: … da haste gesehen, dass …
LK: Der hat sich da auch immer zu Wort gemeldet und dann ’77 – klar, das ging natürlich nicht mehr – da kam er dann …
IA: Da war er schon ein schwarzes Schaf.
LK: Ja, das ist natürlich klar, da war er nämlich dann im Kongressbericht nicht mehr drin.
IA: Aber ’70 ja. Und den Kongressbericht, den hab ich dann redaktionell betreut. Und das war auch meine erste große, wirklich gleich sehr große Arbeit, die so – diesen Kongress zu betreuen – die auch so, die Kongressteilnehmer, und das war ja alles für mich eine neue Tätigkeit. Ja und dann kam, also ich war dann beim Zentralinstitut für Musikforschung, und da war ich verantwortlich für die Zulieferung der amerikanischen Publikationen, welche Dissertationen in der DDR mit Resümees und so weiter …, das mussten wir …
LK: Hm, das war ja sozusagen für RILM, die DDR-Zentralstelle.
IA: Für RILM! Und dafür hab ich dann also nicht bloß eingesammelt, sondern zum Teil auch Resümees selber geschrieben, wenn die Autoren sich dazu nicht in der Lage fühlten. Und habe viel gelernt, enorm viel gelernt, weil ich mich mit Gegenständen beschäftigen musste, mit denen ich mich freiwillig wahrscheinlich nicht beschäftigt hätte. Aber dann hieß es: Das Zentralinstitut wird aufgelöst und wird an die Akademie der Künste übernommen.
LK: … der Wissenschaften.
IA: Der Wissenschaften und mir wurde dann gesagt, es sei …
LK: Warum, wenn ich mal nachfragen, warum kam es eigentlich dazu, warum hat das … Weil [Harry] Goldschmidt das dann irgendwann abgegeben hat und weil Konrad Niemann …?
IA: Ja. Ich hab ja Goldschmidt gar nicht mehr erlebt, ich habe Goldschmidt nur privat erlebt, also privat, wenn er kam und erzählt hat, dass er gleich beim Checkpoint Charlie jetzt in den Westen geht und so, das war schon …
LK: Ja, der hat ja einen Schweizer Pass immer noch gehabt (lacht).
IA: Höchst makaber, ich weiß. Aber mein Schreibtisch … ich guckte da von meinem Schreibtisch auf den Checkpoint Charlie. Das ist, ja … wo dann eines Tages, wie, da war Frank Schneider auch noch mein Mitarbeiter. Wir waren ja zusammen …, Frank hat ja seine Laufbahn auch bei Niemann begonnen, und wir kamen hin und dann waren diese langen Flure und da stand … Hinten war ja auch ein Ausgang, der Dienstbotenausgang dieses Hauses, aber der war zu, verrammelt, weil das ja dann zu nah an der Mauer gewesen wäre und da hatten sie diese grünen Schildchen „Fluchtweg“ …
LK: (lacht) Der Witz ist gut.
IA: Und da hat Frank auch gesagt, das ist die letzte Illusion. (lacht)
LK: Es war Leipziger Straße 20.
IA: So ist es. Na ja, und dann wurde mir gesagt, also, wir hätten schon zu viele Parteilose übernommen, Frank war ja auch parteilos, und entweder ich würde eben meine Meinung ändern und in die Partei gehen oder … Und ich habe das natürlich abgelehnt, und da hat mir Herr Reiner, die grade, da hat der Erich Brüll aufgehört beim „Bulletin“, und die suchte jemanden und da hat sie mir das angeboten. Ich hatte zu der Zeit ja schon sehr, sehr viel auch geschrieben immer, also in „Musik und Gesellschaft“ und für die Zeitungen und so weiter und so bin ich zum „Bulletin“ gekommen und das war mein Glück, das muss ich wirklich sagen. Also ich kann nur das Beste über Vera Reiner sagen, das muss ich wirklich sagen, also ich habe, also die hat schützend die Hand über mich gehalten als [Gerd] Schönfelder mich dann angezeigt hatte beim, bei der Stasi Dresden, und da ist sie extra noch mal hingefahren und hat sich da für mich eingesetzt und …
LK: Ähnliches hab ich übrigens von Gisela Nauck –Gisela Wicke – kürzlich auch gehört. Die das gleiche sagte: Das ist ganz großartig, wie sich Vera Reiner da verhalten hat.
IA: Ja, und sie hat sich auch eingesetzt für Kollegen. Ich weiß jetzt nicht wie der heißt, das ist ein, heute wird er vielleicht auch im Ruhestand sein, ein ganz bedeutender Musikpädagoge, Violin … ein Violinprofessor, der war dann auch an der UdK oder nein, an der „Hanns Eisler“. Also, und der durfte, der war eingeladen auch zu einem Kongress und durfte natürlich auch nicht fahren, weil er entweder – wie ich – Westverwandte oder was weiß ich hatte und da hat Frau Reiner sich eingesetzt und da ist er gefahren. Der war, weil er wirklich so gut war und international bekannt bereits war und von dem Zeitpunkt an ist der dann immer zu Kongressen gefahren. Also, da … und Frau Reiner, mit Frau Reiner hab ich mich auch immer abgestimmt, welche zentralen Themen wir fürs „Bulletin“ nehmen, denn die musste ich ja dann damit zum, na, wo die Johanna Rudolph saß …
LK: Ministerium für Kultur.
IA: Nicht Ministerium, sondern ZK.
LK: Nein, Johanna Rudolph war beim Ministerium für Kultur. Und ZK ist ja hier Ursula Ragwitz …
IA: Ja, also die Reiner musste dann immer dahindackeln und musste das für gut, die müssen es für gut heißen – „Machen sie das Thema … Ja, das können sie machen …“ Und so weiter und so fort. Und es ist etliches auch abgelehnt worden in der Zeit.
LK: Formal war das ja, gehörte das ja in den Musikrat und …
IA: … war dem Ministerium für Kultur untergeordnet, ja.
LK: Aber du bist dir sicher, dass sie nicht ins Ministerium für Kultur musste, sondern zum ZK?
IA: Doch ins Ministerium für Kultur. Nein, bin ich mir nicht sicher.
LK: Hm.
IA: Wahrscheinlich ist es doch Ministerium für Kultur.
LK: Ich schätze auch, ja.
IA: Ja. Also das ist doch schon eine ganze Weile her, also, ja, das verwechsle ich jetzt.
LK: Aber, wie hab ich mir das vorzustellen jetzt, die redaktionelle Arbeit? Also, habt ihr selber Vorschläge gemacht?
IA: Ja, also ich habe meistens … Also ich hatte die Aufgabe auch konzeptionell zu denken und zu überlegen: Welches Thema könnte für das nächste Heft zuträglich sein und das Ausland interessieren? Denn wir waren ja offiziell das Aushängeschild der DDR. Ja, und da sind, einige Themen sind dann auch nicht, haben wir nicht durchgekriegt.
LK: Welche wären das?
IA: Also zum Beispiel wollten wir auch mal Kirchenmusik, ein … Also das war meine Idee. Das haben wir erst, aber nur mit Orgeln durchgekriegt, als irgendein … so 750-Jahrfeier, oder …
LK: … oder Luther wahrscheinlich.
IA: Luther, genau, das Lutherheft war das, ja. Das war die Gelegenheit, dass wir gesagt haben: Mensch, aber nun, nun hauen wir da die Orgeln rein, als Bebilderung. Also mir hat die Arbeit sehr viel Spaß gemacht, ich habe viele … und hatte auch völlig freie Hand, die Autoren zu suchen. Ja, da hat Frau Reiner überhaupt nicht reingeredet. Sie hat nicht einmal zu mir gesagt: „Nein, also den wollen wir nun nicht.“ Oder: „Den wollen wir.“ Sondern sie hat sich da total auf mich verlassen und das war natürlich eine, dadurch auch für mich, sehr befriedigende Arbeit.
LK: Ich will übrigens mit Vera Reiner auch noch sprechen, wollen wir auch einen Interview-Termin machen, aber ich schaffe es nicht, die hat wohl ein kaputtes Telefon hab ich gehört. Sie telefonisch zu erreichen …?
IA: Ich hab sie lange, ich hab sie ewig lange … Dadurch, dass ich ja nun auch krank war. Ich hab ja lange im Krankenhaus gelegen und so bin ich etwas aus dem Tritt gekommen.
LK: Also das hab ich auch noch vor, da hab ich auch noch ein anderes Interesse. Weil ich ja Mitglied der Berliner Singakademie bin und hab von Anfang an den Chor sozusagen begleitet.
IA: Und Frau Reiner hat ja – ich weiß nicht wie weit sie jetzt ist – sie hatte ja sich zur Aufgabe gemacht, zu dokumentieren: die Geschichte der Singakademie.
LK: Sie hat unser Archiv, unser Chorarchiv immer betreut.
IA: Und da war sie schon ziemlich weit. Also ich denke sie wird das, wird auch noch da weiter gearbeitet haben. Ich habe, irgendwie ist die Verbindung zwischen uns abgebrochen.
LK: Aber sie besucht immer noch regelmäßig unsere Konzerte, sie ist auch noch vollkommen, also vollkommen, ein …, kann alles machen.
IA: Na dadurch, dass ich nun mehr zur Philharmonie gehe – ich habe ja dort über Jahre Vorträge, Einführungsvorträge gehalten und Programmhefttexte geschrieben. Dadurch ist das, ist das so ein bisschen abgerissen. Also alles kannst du ja nicht noch betrachten, das ist zu viel.
LK: Mir fällt mal noch was ein, was mich interessieren würde. Und zwar: Da hatten wir schon mal auch vor ein paar Jahren uns drüber unterhalten, es gab ja diese Großprojekte, die auch am Zentralinstitut für Musikforschung angebunden waren. Es gab ja dieses Projekt, einen Erbe-…, eine Reihe „Erbe der …“ [herauszugeben]. Das wurde dann anders benannt [„Denkmale der Musik“], weil der Titel schon belegt war.
IA: Ach hör auf …
LK: Also diese Denkmälerreihe dann rauszubringen und dann wurde viele Jahre am ersten Band („Norddeutsche Kammersinfonien“) gearbeitet, das war schon ein … In den 50er Jahren gab es, von Max Schneider herausgegeben, einen Band.Mittel- und Norddeutsche Kammersinfonien, hg. von Max Schneider, Leipzig 1954.
IA: So ist es! Das sollte fortgesetzt werden.
LK: Aber der sollte in erweiterter Form … Und ist dann nie erschienen. Es gab große Pläne, bis zu zwanzig Bände sollten dann erscheinen, vorausgeplant.Zu dieser geplanten Denkmälerreihe s. Lars Klingberg: Georg Knepler und die gescheiterten musikwissenschaftlichen Publikationsprojekte in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren, in: Jörg Rothkamm und Thomas Schipperges (Hg.) in Verbindung mit Michael Malkiewicz, Christina Richter-Ibáñez und Kateryna Schöning: Musikwissenschaft und Vergangenheitspolitik. Forschung und Lehre im frühen Nachkriegsdeutschland, München 2015 (= Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit), 417–433, 430–433.
IA: Du, ich bin da vor Wochen in Schwerin gewesen und habe die ganzen, da waren, da war das Archiv noch im Dom oben auf dem Dach. Ich weiß nicht ob du mal in Schwerin warst, die haben ja Schätze. Also die haben, den ganzen [Johann Wilhelm] Hertel und alles und ich hab das alles aufgenommen, und es sollte eben ein Band erscheinen. Und das ist gescheitert, meines Wissens, damals, dass sich Drei damit eine goldene Nase verdienen wollten oder was weiß ich, als Herausgeber, und die konnten sich nicht einigen, und dann ist das eben im Sande verlaufen.
LK: Stimmt, ich erinnere mich. In der frühen Phase hieß es auch, nicht nur ein Denkmäler-Band, also Notenausgaben, sollten erscheinen, sondern auch so Bibliotheks-…, von Sammlungen, Bibliothekskataloge.
IA: Genau!
LK: Analog zu dem, was Herr Kümmerling noch an der sächsischen Landesbibliothek in Dresden vorbereitet hatte, dann ist der ja in den Westen gegangen vor dem Mauerbau und dann hat [Wolfram] Steude ja den von [Harald] Kümmerling erstellten Katalog herausgegeben dann.Die Musiksammelhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden, unter Verwendung von Vorarbeiten Harald Kümmerlings im Auftrag der Sächsischen Landesbibliothek beschrieben von Wolfram Steude, Leipzig 1974; westdeutsche Lizenzausgabe: Wilhelmshaven 1974 (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte 6). Mit diesem Deposita aus den verschiedenen sächsischen …
IA: Eben. Und das sollte eben auch mit der norddeutschen …, also …
LK: Ah ja.
IA: Denn Schwerin hat die meisten Schätze. Die sind inzwischen alle katalogisiert, da hat der Christoph Henzel hat, und namentlich Krüger, Ekkehard Krüger …Ekkehard Krüger: Die Musikaliensammlungen des Erbprinzen Friedrich Ludwig von Württemberg-Stuttgart und der Herzogin Luise Friederike von Mecklenburg-Schwerin in der Universitätsbibliothek Rostock, Beeskow 2006.
LK: Ich weiß, da gibt es einen Mann.
IA: Ekkehard Krüger hat sich sehr, ich glaube der hat sogar eine Doktorarbeit über diese Problematik geschrieben. Und Rostock hat auch noch viel, aber mehr hat Schwerin.
LK: Und warum ist das, wenn ich nochmal fragen darf, warum ist das, also nicht …?
IA: Also, ob das stimmt, was man uns damals, oder mir, gesagt hat … Es konnten sich die oberen nicht einigen wer der Herausgeber sein soll und da hatten wohl mehrere Interesse daran. Ich weiß es nicht, ob es stimmt, es ist jedenfalls ungeheuerlich, wie viel Arbeit da investiert worden ist. Ich bin Wochen in Schwerin gewesen und habe da Tag für Tag oben auf dem Dach das katalogisiert.
LK: Also, soweit meine Quellenstand reicht, gab es diese Idee – also solche Kataloge herauszugeben – nur am Anfang, als diese ganze Idee entstanden ist mit diesen …
IA: Das kann sein!
LK: Und dann ist da komischerweise alles aufgegeben worden oder verloren gegangen. Es ging dann nur noch um diesen ersten Band viele Jahre und der ist dann dennoch nicht erschienen.
IA: Also, wenn man überlegt, wie viel Arbeit da investiert worden ist … Es ist ungeheuerlich, aber so ist es.
Anmerkungen
- Wolfram Iwer: Biografie im Dialog, in: Adele Stolte. „Ich bin vergnügt mit meinem Glücke“. Gesungen – gelebt – bewahrt, hg. vom Förderverein der Potsdamer Kantorei an der Erlöserkirche e. V., Potsdam 2007, 17–47.
- Guntolf Herzberg und Kurt Seifert: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002.
- Mittel- und Norddeutsche Kammersinfonien, hg. von Max Schneider, Leipzig 1954.
- Zu dieser geplanten Denkmälerreihe s. Lars Klingberg: Georg Knepler und die gescheiterten musikwissenschaftlichen Publikationsprojekte in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren, in: Jörg Rothkamm und Thomas Schipperges (Hg.) in Verbindung mit Michael Malkiewicz, Christina Richter-Ibáñez und Kateryna Schöning: Musikwissenschaft und Vergangenheitspolitik. Forschung und Lehre im frühen Nachkriegsdeutschland, München 2015 (= Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit), 417–433, 430–433.
- Die Musiksammelhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden, unter Verwendung von Vorarbeiten Harald Kümmerlings im Auftrag der Sächsischen Landesbibliothek beschrieben von Wolfram Steude, Leipzig 1974; westdeutsche Lizenzausgabe: Wilhelmshaven 1974 (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte 6).
- Ekkehard Krüger: Die Musikaliensammlungen des Erbprinzen Friedrich Ludwig von Württemberg-Stuttgart und der Herzogin Luise Friederike von Mecklenburg-Schwerin in der Universitätsbibliothek Rostock, Beeskow 2006.