Friedrich Goldmann
MT (Matthias Tischer): Eine erste ganz verwaltungstechnische Frage: Sie sind der letzte Schüler von Hanns Eisler, einer der mittleren Schüler von Wagner-Régeny und später mal ein Schüler von Paul Dessau. Ich verstehe überhaupt nicht, wie das zusammenhängt.
00:00:23 FG (Friedrich Goldmann): Das ist sehr gut…Also: Ich bin nie Schüler von Paul Dessau gewesen. Ich bin auch nicht Schüler von Hanns Eisler gewesen, sondern nur von Wagner-Régeny. Allerdings war es so: 1962, mit 21 Jahren, habe ich die Hochschule Dresden abgeschlossen und hatte mich an der Akademie beworben als Meisterschüler, und ich wollte zu Eisler gehen, war auch einmal bei Eisler, es hatte mich ein Bekannter dort hingebracht. Wie ich dann später erfuhr, hatte sich Eisler auch bereiterklärt, mich zu nehmen, aber es kam nicht dazu, er starb. Und wir haben dann den bösen Witz gemacht, Eisler sah eine Partitur von mir, und das hat er nicht überlebt. So schlimm war es nicht. Und da hing ich völlig in der Luft …
00:01:03 MT: Was war das für eine Partitur?
00:01:04 FG: Es war ein merkwürdiges Stück für Chor und Orchester. Also eigentlich: Ich fand es ziemlich schrecklich, macht aber nichts. Es gab dann diese Story – da wurden alle möglichen Legenden erzählt –, dass in der Sitzung in der Akademie der Künste, wo es darum ging, ob die Meisterschüler aufgenommen werden, Eisler sich entschuldigt hatte. Er hatte aber vorher gesagt: Also er nimmt den Goldmann, weil: Er hatte gleichzeitig wohl im Berliner Ensemble irgendeine Generalprobe (oder Probe, ich weiß nicht genau). Dort wurde es ihm schlecht, er fuhr nach Hause und setzte sich in den Sessel und starb. Und die Akademie – die Sitzung war noch im Gange – erfuhr davon, dass Eisler gestorben ist – also die übliche Gedenkminute –, und dann soll Paul Dessau gesagt haben (so wurde es mir mal berichtet, ob es stimmt, weiß ich nicht, und wenn, ist es gut erfunden): Es war Eislers letzter Wille, dass der Goldmann Meisterschüler wird. Und damit gab es keinen Widerstand mehr dagegen, dass ich Meisterschüler werden kann. Aber Dessau kannte ich länger, und das war einfach eine Abmachung zwischen ihm und mir, dass wir, obwohl ich ja Jahrzehnte jünger war, nicht in so eine Lehrer-Schüler-Beziehung eintreten. Und deswegen eben „Geh zu Eisler!“, und als der starb, hat sich Dessau dann gekümmert und hatte mir Wagner-Régeny vorgeschlagen. Wollte ich erst gar nicht, ich kannte auch gar nichts von ihm, nur die eine Bühnenmusik (Pauken und Trompeten), die ich ganz schön fand. Und Dessau hatte ich kennengelernt, auch persönlich, 1959. Da haben wir in Dresden in der Schule – das war noch vor dem Abitur – eine Schüleraufführung gemacht: ein Lehrstück von Brecht, Die Ausnahme und die Regel, Musik Paul Dessau. Und das habe ich da komischerweise dirigiert. Wie ich das gemacht habe, ist mir schleierhaft, denn ich hatte nichts mit Dirigieren am Hut, aber es ging irgendwie, und der Dessau kam tatsächlich zu dieser Aufführung, und da war ich außerordentlich interessiert. Ich hatte im Jahr zuvor ein Stück von ihm gehört (ich kannte wenig, also DDR war ja für mich nicht existent, ich lebte in Dresden, aber DDR gab es nicht, das war Dresdner Kreuzchor, das war so eine exterritoriale Gesellschaft; wir reisten im Westen herum und „DDR, was soll das?“), und ich hatte angefangen, mich für Neue Musik zu interessieren, eben so Sachen mit dem, was man damals eben ‚Darmstadt‘ nannte. Ich bin ja auch 1959 dann nach Darmstadt gefahren. Und da lernte ich von diesem DDR-Komponisten Dessau ein Orchesterstück kennen, das wurde in Dresden gespielt, In memoriam Bertolt Brecht, und das passte überhaupt nicht zu dem, was ich sonst aus der DDR kannte. Und das machte mir den Mann interessant und auch diese Bühnenmusik, Die Ausnahme und die Regel. Das ging ein bisschen anderes zu, als das, was man eben sonst in der DDR hörte. Von Eisler kannte ich nur die Bühnenmusik zu Galilei von Brecht, und die fand ich damals schon nicht gut, auch heute nicht. Dann kannte ich Neue deutsche Volkslieder und die Nationalhymne der DDR. Das war für mich kein Komponist, den gab es gar nicht, den habe ich erst später kennengelernt. Und Dessau war erstaunlich, der passte nicht ins Klischee. Und als ich ihn dann kennengelernte, fragte ich ihn auch, was er von Stockhausen halte. Und zu meiner Überraschung sagte der Nationalpreisträger und SED-Genosse Dessau, dass er ihn sehr interessant fände. Nanu? Und dann wurde er quasi belagert von allen anderen Leuten. Ich kam gar nicht dazu, mich mit ihm zu unterhalten, es war klar, alle wollten etwas von ihm, wieso nur ich. Und er hatte seine Frau mit. Na ja, was geht mich die Frau eines Komponisten an. Und die fragte aber dann im tiefsten Sächsisch, ob ich denn den Luigi Nono kennen würde. Und da war ich doch völlig verdattert: Wie kommt denn eine Frau eines Komponisten dazu, einen Namen wie Nono auszusprechen? „Nu, mit dem sind wir gut befreundet.“ Die Frau hieß Ruth Berghaus. Das sagte mir damals noch nichts. Und so kam diese Beziehung zustande. Also, da war ich 17. Das war, so komisch es klingt, einfach durch den Jahrzehnte-Altersunterschied, komisch, doch eher eine freundschaftliche Beziehung. Dessau hat sich wirklich um mich gekümmert und hat mich dann eingeladen. Und dann zeigte ich ihm Partituren, und das war immer ganz spannend. Dann hat er sich immer für mich eingesetzt. Auch wenn es eben zu DDR-Zeiten nicht so sonderlich gut ging. Das war einfach die Beziehung zu Dessau, also wie gesagt, nix offiziell Lehrer. Ebenso wie Bredemeyer, der war auch nicht Schüler von Dessau. Aber wir wurden immer als bessere Schüler gehandelt, das ist so.
00:05:17 MT: Nochmal die Zwischenstation Rudolf Wagner-Régeny: Was war das für ein Unterrichten oder Nicht-Unterrichten?
00:05:25 FG: Ja, das war ein postgraduales Studium, wie man sagt, also Meisterschüler in der Akademie. Ich hatte also meinen Hochschulabschluss, und der Unterricht fand statt jede zweite Woche eine Stunde bei ihm in der Wohnung in Berlin. Ich lebte in Dresden (in Adlerhof da draußen), und als ich das erste Mal zu ihm kam, war ich also sehr verängstigt. Ich kannte den Mann nicht, und ich klingelte, und da bellte irgendein Pudel, fürchterlich, und dann dauerte es lange, gar nichts, dann kamen Schritte gemessenen Ganges, eine Person, und dann ging die Tür auf, und da stand jemand in der Tür so richtig wie man das nach deutschen Klischees: „Ah, ein deutscher Professor tritt einem entgegen“. Und ich ganz schüchtern: „Ja, mein Name ist Goldmann“, und dann kam nach „Guten Tag“: „Ich trinke gerade Wein, trinken Sie auch Wein?“. Dann war ich noch mehr erschrocken, und da sagte ich: „Ja, selbstverständlich.“ Und dann trank ich Wein bei Wagner-Régeny, und das fand ich ganz nett. Später im Unterricht gab es meistens Kaffee, aber sie [Gerty] machte sehr guten Kaffee. Und was ich dann für Musik von ihm kennenlernte, das hatte mit dem, was mich interessierte, auch nicht sehr viel zu tun. Und ich hatte auch erst immer Angst: „Mein Gott, zeige ich ihm überhaupt so was?“ Und irgendwann habe ich das dann auch getan, und dann war es merkwürdig, wie er darauf reagierte. Also, überhaupt nicht: „Ach, was soll dieser Dreck“, was ich erwartet hatte, sondern er sah sich das ganz ernsthaft an, und ich hatte den Eindruck, er kann gar nichts damit anfangen. Aber irgendwo, wenn etwas ihm etwas doch so dünn, dürftig erschien, monierte er das, und er hatte meistens Recht. Also, die Gründe, die er dafür angab, das ist eine andere Frage. Aber eigentlich hatte er da einen ganz guten Blick dafür, ob etwas stimmig war oder nicht. Und das fand ich dann wieder ganz angenehm. Dann gab es noch eine andere Geschichte, die ich auch nicht vergesse: Er hat mich natürlich auch geleimt. Und zwar: Ich war ein lausiger Klavierspieler, einfach weil ich zu faul zum Üben war. Ich war ein guter Blattspieler, aber bloß nicht pianistisch, also wo man üben muss, bitte nichts. Und Wagner-Régeny leimte mich dergestalt, dass er nämlich sagte: „So, jetzt sind Sie Meisterschüler ein Jahr. Und die Akademie – Sie bekommen ja ein gutes Stipendium“ (das war so) – „erwartet nun, dass also jetzt Ergebnisse vorgestellt werden: Und man kann denen ja nicht nur einfach nur Noten schicken, also die Meisterschüler müssen alle selbst auftreten.“ Also, ich muss Stücke fürs Klavier schreiben, die ich auch selber spielen kann – was dann sehr komisch war, weil: Bei dem betreffenden Konzert kam dann einer mit einem Streichquartett. Also wie sollte er das selber spielen? Ich war natürlich so ziemlich der einzige, der sich dann selber ans Klavier setzte und selber was spielte. Und das war einfach ein Trick von ihm. Es sind zwei Stücke, die sind gar nicht so schlecht geworden, aber die wirklich daraufhin nur geschrieben waren, dass ich sie selber spielen kann. Das waren zwei Intermezzi für Klavier, und die wurden dann komischerweise so zehn Jahre später auch noch gedruckt: in irgendeiner Sammlung Klaviermusik der DDR. Und vor zwei Jahren bin ich denen wieder begegnet, als ausgerechnet einer meiner Studenten im Klavierunterricht diese zwei Intermezzi von Herrn Goldmann zu spielen hatte. Das fand ich schon sehr grotesk. Aber das war einer der Wagner-Régeny-Stories.
00:08:39 MT: Was mich verblüfft hat: Ich habe mir jetzt mal die aufgenommenen Vorträge von Wagner-Régeny von der Leipziger Musikhochschule angehört, wo er in Anwesenheit von Rebling sich vehement für elektronische Musik einsetzt, sich vehement für ein allen Stilen offenes Komponieren einsetzt. Auf der anderen Seite, in seinen Tagebüchern der wunderbare Satz „mein serieller Herr Goldmann“ und das freundlichste, denkbare, aber totale Unverständnis: „Schöne Klänge, aber warum komponiert der Mann nicht?“ Wie konnte so etwas Unterricht werden?
00:09:19 FG: Nein, was ich vorher schon sagte: Es ging eigentlich darum, ob er irgendwie bemerkte: Da ist irgendwas faul. Und das bemerkte er, und das war ganz gut so. Man kann es anders sagen, wie der Bredemeyer (das klingt boshaft, ist aber, finde ich, ganz freundlich): „Wagner-Régeny, ein guter Lehrer. Ich habe nichts bei ihm verlernt.“ Es klingt nach Gag, aber es hat was davon, und Sie müssen einfach in Rechnung stellen: Es ist diese DDR-Situation. Es gab im Westen durchaus Verwandtes, also konservative Hochschullehrer en masse, das gibt es ja heute noch. Aber in der DDR, wo es wirklich eine (zu dieser Zeit) geradezu staatliche Lenkung gab, was sein darf, was nicht sein darf, da war ein Mann wie Wagner-Régeny eine wohltuende Figur, und das hatte man nicht erwartet, der hatte diese Offenheit, auch wenn es ihm selber nicht passte. Es gibt ja Texte von ihm, wenn man das liest, das ist so eine (ach, du lieber Schreck) Mischung aus Rilke, Heidegger und was weiß ich was, obwohl er mit Brecht gearbeitet hatte, und damit hat es gerade fast überhaupt nichts zu tun. Und es ist manches Mal so grotesk. Natürlich ist ihm das, was uns damals beschäftigte eher zutiefst fremd geblieben, völlig klar. Aber das macht ja nichts. Also, ich finde ja gerade, man reibt sich doch als junger Mensch auch gerade mit Älteren, man muss ja nicht immer einer Meinung sein. Wenn ich immer nur einer Meinung wäre mit meinen Studenten, was die anbringen, das wäre ja langweilig. Und das war durchaus auch, so gesehen, ein Aspekt des Unterrichts bei Wagner-Régeny. Und man konnte mit ihm über sonstwas reden, also er war wirklich kein engstirniger Typ, also auch wenn man seine Meinung nicht teilte, aber man konnte natürlich mit Wagner-Régeny über (ach, du lieber Schreck) Gott und die Welt reden, und das fand dann eben auch statt. Unterricht im Sinne des „Jetzt gehen wir eine Partitur durch.“. Das war manches Mal nur kurz. Und ich war auch nicht so ein Fleißtyp, der dann sich selbst vornimmt, dem Lehrer …, aber wenn wir schon bloß alle zwei Wochen da sind …, aber jetzt gibt es einen Stapel von mindestens 20 Partiturseiten. Manches Mal hab ich gesagt: „Tut mir leid, also ich beschäftige mich mit etwas, weiß aber gar nicht wohin. Und ich kann heute gar nichts vorweisen.“ Also, das kam auch vor. Und ich verlange auch von meinen Studenten nicht, dass sie nun jede Woche ein Stück anbringen. Es gibt wirklich immer, ja, die schöpferische Pause oder auch mal das produktive Gammeln. Als Wissenschaftlicher darf man das wahrscheinlich nicht, als Künstler muss man es manchmal machen. Und das war, wie gesagt, bei Wagner-Régeny eigentlich kein Konfliktstoff. Im Gegenteil: Das ging immer gut.
00:11:54 MT: Liefen die freundschaftlichen Besuche bei Dessau und der Unterricht bei Wagner-Régeny parallel?
00:11:59 FG: Manchmal ja. Und das war komisch. Es gibt ja bei Dessau in diesen Bach-Variationen zwei Stücke nach Vorlagen: eine von Wagner-Régeny und eine von Goldmann. Er hat zunächst dem Wagner-Régeny nichts davon gesagt, dass er mir eine gibt, und er hat auch mir nichts gesagt, dass er Wagner-Régeny eine gibt. Das war in dem Fall ein bisschen komisch, das war genau die Zeit, wo ich Schüler bei Wagner-Régeny war. Und das war so eine etwas merkwürdige Situation, was dann rauskam.
00:12:25 MT: Woran mag das gelegen haben, diese Zusammenarbeit mit Ihnen und mit Wagner-Régeny? Wagner-Régeny war gerade öffentlich ‚tot‘, soweit ich weiß, zu der Zeit?
00:12:38 FG: Bisschen, ja bisschen.
00:12:39 MT: Er war kaltgestellt, aber Sie galt es zu featuren?
00:12:40 FG: Ja, auch. Ja, es spielt einfach eine Rolle. Der Dessau war einfach persönlich mit dem Wagner-Régeny, das war eine Freundschaft, also obwohl der Wagner wieder jünger war als der Dessau, auch fast 10 Jahre. Und die ganze Herkunft…also Wagner-Régeny war nun der Welt, in der der Dessau eigentlich lebte, scheinbar ganz fern und trotzdem über die Beziehung, dass er eben auch mal was mit Brecht gemacht hatte, war es so was ganz anderes. Es war eine freundschaftliche Beziehung. Da hielt der Dessau dran fest, egal was andere Leute davon dachten oder eben Papa Staat. Gerade wenn Wagner-Régeny kaltgestellt ist, ist es auch für Dessau ein Grund, die Freundschaft hochzuhalten. Und es kam noch dazu, dass es so diese Dreiecksbeziehung von Wagner-Régeny seinerseits war: Er war auch mit dem Blacher sehr gut befreundet. Das war Dessau auch, also wieder über drei andere Ecken. Und mit Henze, der von den Jüngeren war. Der war ja komischerweise dem Dessau wieder nachgestiegen und da gab es diese Querbeziehung, wo ja dann später die Jüdische Chronik draus wurde. Blache, Henze, Hartmann: West, und Wagner-Régeny und Dessau: Ost.
00:13:55 MT: Mit Gerlach zusammen.
00:13:56 FG: Ja, der Gerlach-Text.
00:13:59 MT: Sagen Sie noch mal ganz kurz: Es gibt leider überhaupt nichts Orthographes mehr zu den Bach-Variationen. Ist die gesamte Goldmann-Variation von Goldmann und die gesamte Wagner-Régeny-Variation…?
00:14:07 FG: Nein, weil bei meiner hat er verlängert. Aber das kann man ein bisschen an der Partitur sehen. Meine war sehr kurz – ich gebe es ja zu. Das war ihm zu kurz. Ich wollte dieses Rumba-Getöns nicht so dadurch packen und das hat er dann noch verlängert. Das kann man merkwürdigerweise, wenn man die Partitur genau studiert, eigentlich rauskriegen, wo das künstlich dann verlängert ist.
00:14:32 MT: Dann würde ich Ihnen demnächst dann mal eine Vermutung geben und Sie sagen, ob es stimmt – so plus minus. Und zum zweiten Teil, Wagner-Régeny: Ist das ganz Wagner-Régeny oder hat er da…?
00:14:38 FG: Ja, da bin ich auch nicht sicher. Ich glaube gegen Ende hat er…
00:14:44 MT: Ist es nur dieses Thema, was er…?
00:14:45 FG: Nee, nee, das ist schon weitgehend. Das hört man auch. Das ist nicht Dessau, das kriegt man schon mit. Irgendwo die Übergänge: Er musste ja nun wieder Anschlüsse finden, zu dem was danach kommt und dem was vorweg geht, das ist ja nicht ganz leicht. Der Wagner-Régeny kannte, wie ich auch, nur das Thema, also Carl Philipp Emmanuel, ja nicht Johann Sebastian. Der kommt zwar dann auch noch mehrfach vor, aber wir kannten ja nur diesen Bauerntanz von Carl Philipp Emmanuel und hatten keine Ahnung, was der Dessau macht. So: „Machen Sie mal eine Rumba“…keine Ahnung. Und das war lange Jahre das einzige Mal, dass ich ein Saxophon verwendet habe. Eigentlich ist es, glaube ich, das einzige Stück, wo ich jemals von mir aus Saxophon verwendet habe. Das war nicht von Dessau, das war von mir. Und ich stelle gerade mit Erschrecken fest: Ich habe alles Mögliche probiert, aber ich hab nie wieder Saxophon besetzt. Lustig ja, was so beiläufig rauskommt.
00:15:49 MT: Noch eine Zusammenarbeit: Herr Meyer weiß entweder mehr als ich oder hat sich geirrt: In seinem Nachruf auf Knepler schreibt er, ich glaube in einer der letzten Ausgaben von Positionen, über ihre Analyse zusammen mit Dessau, Teppichweber. War das eine Zusammenarbeit? Ich kenne natürlich das Ding, was sie geschrieben haben, das ist in einer wunderbaren Sonntagsschrift von Ihnen durchgeschrieben. Wie ist das Ding entstanden?
00:16:23 FG: Sonntagsschrift, ja?
00:16:24 MT: Das ist oftmals richtig gut leserlich, ja.
00:16:27 FG: Oh Gott, ja, das ist heute nicht mehr so. Nein, der Dessau bat mich drum, dass ich das mache. Und dann habe ich das gemacht und dann hat er noch so zwei Formulierungen reingeklatscht und ein bisschen was rumgedreht.
00:16:38 MT: Wie kam es zu dem Stück?
00:16:40 FG: Das wollte Dessau. Also er fand irgendwie, diese Teppichweber von Kujan Bulak, das sollte man mal drucken. Und ich weiß es schon heute nicht mehr so ganz. Also was weiß ich da noch über die Texte. Damals haben wir ja noch fast Lenin ernst genommen, aber das fiel mir schon ein bisschen schwer.
00:17:06 MT: Es sagte kürzlich einer der Mitherausgeber der Eisler-Gesamtausgabe: „Bestes Stück Eislers nach dem Krieg.“ Ich habe fast den traurigen Verdacht, dass es so ist.
00:17:15 FG: Ja, das ist ein Problem, das spielte eine Rolle. Insofern kam es auf das Stück, das ist schon richtig. Ich habe auch ganz große Schwierigkeiten mit den Komponisten Eisler nach der Rückkehr nach Europa. Ich kenne keine wirklich guten Stücke. Also selbst die späten, diese sieben Ernsten Gesänge sind ja teilweise alt, das sind ja gar keine neuen. Und was er so gelegentlich komponiert hat, also so diese Alt-Rhapsodie, dieses Zeug…es ist so schrecklich! Dann sind aber auch manche Filmmusiken so fürchterlich. Wir haben mal sehr gelacht: Es gab ein Festival, so ein Eisler-Festival. 1973 war das, glaube ich. Und da wurden DEFA-Filme mit Eislermusik gezeigt, allerdings nur in so einem Programmkino. Es war zwar öffentlich, aber das war nur zu dieser Gelegenheit. Da konnte man auch einen populärwissenschaftlichen (in Anführungszeichen) Film über unseren Präsident Wilhelm Pieck [gucken], Musik: Hanns Eisler. Da gab es eine wunderbare Szene drin – das ist mir von dem Film hängengeblieben: Man hört irgendwie die Stimme von Wilhelm Pieck, aber was man sieht, ist nicht Wilhelm Pieck, sondern ein Riesenportrait von Stalin. Und das ist allein schon sehr komisch. Man hört Piek und sieht Stalin. Und das läuft auch ne Weile und zwar gerade so lange, bis man sich auf das Bild orientiert hat und dann sieht man, dass im Film am untersten Rand ganz winzig ein kleines Pult ist. Dahinter steht einer der redet. Das ist Piek. Und dann gibt es den Filmschnitt und dann ist also der Piek groß. Der Text läuft immer weiter und dann sind hinter dem Kopf von Piek so zwei Finger. Die sind größer als der Kopf von Stalin. [lacht] Und dafür macht der Eisler Musik. Die hatten dann auch irgendeine Bühnenmusik verwurschtelt und da gab es dann also Auslegungen dieser Musik von Eisler. In dem Film macht er ja das völlige Gegenteil. Also er hat sich da auch verwurstet in einer Weise, das ist fast erschreckend und insofern kam das mit diesem Teppichweber von Kujan Bulak tatsächlich in mancher Hinsicht besser als manches andere, aber wirklich gut ist es eigentlich auch nicht. Da haben sich auch dann die Meinungen bisschen geändert. Das war ja Anfang der 60er-Jahre – er war gerade gestorben –, und dann nahm ich das noch sehr ernst. Und ich bin skeptisch geworden. Anfang der 80er-Jahre, da sollte ich dann für einen Komponistenverband Eisler dirigieren und dann habe ich mir Stücke nochmal vorgenommen und habe so einen Schreck bekommen. Wir hatten mal das Lenin-Requiem gehört, das war hier Weimarer Musikhochschule Orchester, die spielten das. Es war also so eine entsetzliche Veranstaltung. Das war so die erste Reaktion, auch von allen Berlinern, egal übrigens, ob sie für die DDR oder gegen die DDR waren. Da waren sich plötzlich alle einig. Na ja, gut, die haben den Eisler nicht mehr erlebt, die haben das als Religionsstunde aufgeführt. „Naja“, dachte ich, wahrscheinlich liegt es daran. Dann sollte ich das später mal dirigieren, hab mir das angesehen: Die haben bloß das gemacht, was in den Noten stand. Tut mir furchtbar leid, das kann man nicht aufführen. Das kam nicht aus der DDR, das ist älter. Da habe ich dann vorgeschlagen, stattdessen die Kammer-Symphonie [aufzuführen].
Und da passierte nun wieder etwas: Da gab es eine Schallplattenproduktion der DDR, und die hatte was sehr ruppiges, und dieses Ruppige war durchaus ganz aufregend. Und dann habe ich die Partitur studiert: Die Partitur war bloß gar nicht so ruppig, das war eine Macke der Aufführung. Dann habe ich das ein bisschen auseinandergenommen, und dann war das eine ganz ordentliche Aufführung, wie ich glaubte. Im selben Konzert war dann noch die Kleine Sinfonie von Eisler, also auch ältere Stücke. Da hatte ich so das ungute Gefühl, das war keine gute Aufführung. Und dann wieder dasselbe: Ich wurde bis in die Kritik hinein von den Zeitungen gelobt für die Kleine Sinfonie und völlig verrissen wurde die Kammer-Symphonie. Dann wurden– also man täuscht sich natürlich selber manchmal auch – für mich, also richtig – das fand ich so schön –, die Dinge wieder zurechtgerückt. Das aber wirklich! Zwei, drei Wochen später ließ mir dann Herr Prof. Goldschmidt ausrichten: Jacques Wildberger sei in diesem Konzert gewesen und er hätte hinterher sofort weggemusst, er hätte es so gerne mir selber gesagt und er – also Goldschmidt – überbringt mir es jetzt: „Die Kleine Sinfonie sei nicht so gut gewesen, aber die Kammer-Symphonie sei ein wunderbarer Erfolg gewesen.“ Da war die Welt wieder in Ordnung, ja.
00:21:49 MT: Jetzt, weil wir es gerade gestreift haben, ruhig weiter wild im Vorgehen: Sie haben den Goldschmidt genannt. Der spielt in einer Liga mit dem Meyer und mit dem Knepler, was die Generation anbetrifft. Die haben zum Teil Ende der 50er-Jahre eine Saulus-Paulus-Entwicklung: Wie Knepler, der sich bei ein paar Leuten sogar entschuldigt hat, zumindest sein Denken sehr geändert hat oder wie Meyer, der weniger sein Denken geändert hat. Goldschmidt ist teilweise einer der interessantesten Figuren der Musikwissenschaft geworden, vielleicht gerade, weil er so spinnt.
00:22:23 FG: Er spinnt, okay. Ja, ne sicher, das Spinnen ist manchmal das Beste.
00:22:26 MT: Wenn wer wieder bei Schering anfängt und mit der Hermeneutik auspackt, das ist ja sehr anregend.
00:22:28 FG: Ja, ja.
00:22:31 MT: Sie als junger: Es gibt ein Bild von Ihnen schon als älteren Mann mit der Zigarette gegenüber einem eingefrorenen Ernst Hermann Meyer.Vgl. Lars Klingberg: „Kontrollinstanzen im Musikleben der DDR“, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa 21 (2019), 49–83. In dem Aufsatz wird das Stasi-Dokument veröffentlicht, in dem es heißt: „Ein anderes Beispiel ist die Veröffentlichung des Buches von Ernst Hermann Meyer, wo man heute sich noch wenig mokiert darüber, daß Goldmann mit einem Foto mit Meyer in diesem Buch, vor ihm – wie sie sagen – sozusagen mit der Fingerspitze anspießt. Ich habe mal gefragt, was das eigentlich zu bedeuten hat – dieses große Foto in dem Buch – die Fingerspitze. Da sagt er: ‚Dort habe ich ihn aufgespießt. Denn er ist der Schuldige, daß unsere Kulturentwicklung über Jahre hinweg gewissermaßen nichts geleistet hat‘, weil sie sich ja empfinden als die eigentlichen Initiatoren von Neuem.“ (Aussagen Gerd Schönfelders während des am 24. Mai 1984 stattgefundenen ‚Treffs‘ mit seinem MfS-Führungsoffizier, Oberleutnant Greif; Anlage zum Treffbericht Greifs vom 26. Mai 1984; Quelle: Bundesarchiv, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 3242/90, Bl. 136–140). Wie war der Umgang mit dieser alten Garde? Rebling fehlt natürlich auch noch.
00:22:40 FG: Na, mit dem habe ich nie was zu tun gehabt. Bei Meyer muss man ja wissen – ich habe ja dann an der Humboldt noch studiert, also bei Knepler –, war ich nie, aber zur Prüfung musste ich antreten bei Meyer. Das war natürlich schon happig, weil er wusste ja, was er von mir zu halten hat und ich, was ich von ihm zu halten habe. Er warf mir auch vor: „Also Adorno zitiert man doch nicht so!“ Das war schon alles etwas happig. Das war 1968. Und wir haben uns dann damals sehr amüsiert, dass es plötzlich dieses Foto gab, wo ich mit ner Zigarette auf den Meyer einrede. Das hat der Frank Schneider also auch gezielt in sein Buch da reingenommen. Das fanden wir sehr amüsant. Aber der Hintergrund war ein ganz anderer bei diesem Gespräch. Da musste ich schon sehr lachen. Das war irgendeine Verbandsangelegenheit und Meyer zitierte mich zu sich und da saß ich da bei ihm an dem Tisch. Was ich da auf ihn eingeredet habe, weiß ich nicht, aber er versuchte auf mich einzureden, ganz freundlich. Das konnte er ja! Er konnte ganz freundlich auch Bosheiten sagen, aber in dem Fall war es gar keine Bosheit, vielleicht meinte er es ja sogar freundlich. Er erzählte mir nämlich, er hätte bei einem jungen Kollegen eine solche Wandlung erfahren und er sei so glücklich über diesen jungen Kollegen und das gäbe ihm auch die Hoffnung, dass er bei mir auch so ne Wandlung noch erwarten könne. Da muss ich nachher gesagt haben: „Da täuschen Sie sich mal nicht!“
00:24:03 MT: Wenn ich jetzt diesen ganzen Kram lese, den gerade die älteren Herren gesagt haben, aber dann auch die Jüngeren in ihrem Zorn…also ich hab jetzt gerade die Diskussion um ihre 3. Sinfonie gelesen, wo sie dabei waren. Das ist ein schöner Text…
00:24:16 FG: Ja? Oh Gott, den kenne ich nicht!
00:24:18 MT: Den bring ich Ihnen mal mit.
00:24:20 FG: Ja, okay. Ja, gut.
00:24:21 MT: Wie ernst war das?
00:24:26 FG: Unterschiedlich. In den späten Jahren – 3. Symphonie war ja erst in den 80er-Jahren –, da kann es nicht mehr…
00:24:29 MT: Nein. Wie ernsthaft war es für den jungen Komponisten?
00:24:32 FG: Da gab es Situationen, die waren durchaus bedrohlich. Im Nachhinein wird manches dann nur komisch, aber wenn man drinsteckte, da war es nicht unbedingt so komisch, obwohl ich immer folgendes erzähle: Ich hab wie gesagt in Dresden 1959 bis 1962 an der Hochschule dort studiert und war da allerdings auch ziemlich unvorsichtig. Also ich haute in Diskussion natürlich immer ziemlich auf die Pauke und dachte, ich werde den Leuten mal erklären, was Marxismus ist, wenn die schon so durch sind. Die haben noch nie was gelesen. Ich war damals immer ein kräftiger Marx-Leser und dann habe ich sie immer mit Eisler zugeschüttet, wusste aber gar nicht, dass es eigentlich Adorno war, die Komposition für den Film. Das war übrigens einer der Gründe, weswegen ich dann zu Eisler wollte. Ich habe das dann erst erfahren, dass dieser Text ja gar nicht von Eisler war, sondern von Adorno. Adorno durfte man nicht erwähnen, aber Eisler durfte ich erwähnen. Der Rektor der Dresdner Hochschule [ nannte sich immer Kritiker, aber nannte sich auch Musikwissenschaftler. „Ich bin der Biograf von Joseph Marx [recte: Joseph Haas].Karl Laux: Joseph Haas. Portrait eines Künstlers. Mainz 1931. Ders.: Joseph Haas, Berlin 1954; überarbeitete Fassung: Joseph Haas. Leben und Werk (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8358/86), Leipzig [1958].“ Sagt Ihnen das was?
00:25:45 MT: Nein.
00:25:47 FG: War das so? War der von Joseph Marx oder war da noch jemand anders? Ich überlege jetzt.
00:25:54 MT: Vielleicht steh auch ich auf dem Schlauch.
00:25:55 FG: Nee, ich will jetzt nichts Falsches sagen. Ist jetzt wurscht. Also so nen ganz bürgerlicher, der immer mit Fliege rumrannte, aber gleichzeitig sich als schärfster SED-Kritiker aufspielte, was wirklich grotesk war, weil der hatte auch in der Nazizeit brav mitgezogen. Der jedenfalls wollte mich, wie ich dann später erfuhr, eigentlich rausschmeißen aus der Hochschule. Wenn es aber vor dem 13. August 1961 gewesen wäre, wäre man da eben in den Westen abgehauen. Aber wenn das nach dem 13. August [gewesen wäre], wo das nicht mehr möglich war, wäre das natürlich dann schon wirklich ein großes Problem geworden. Aber ich wurde nicht exmatrikuliert und der Hintergrund war – das war wieder so eine Schönheit, das habe ich erst später erfahren –, dass die in Dresden wussten, dass ich privat mit dem Dessau eben diese guten Kontakte hatte, und Dessau war für die Berlin und vor Berlin hatten die Angst. Deswegen bin ich nicht rausgeflogen. Die waren aber dann froh, dass ich meinerseits dort wegwollte und statt nach 5 Jahren, also nach 3 Jahren, meinen Abschluss kriegte. Also das beruhte einfach auf Gegenseitigkeit: Wir wollten uns wechselseitig loswerden, das ging. Damit hatte ich diesen Dresdner Provinzquatsch hinter mich gebracht, das war ganz erfreulich. Aber eigentlich, also wie gesagt, wenn die mich dort hätten rausgeschmissen, da hätte ich mich ja gleich freiwillig bei der Armee melden können. Da hätte ich zu überhaupt nichts eine Chance gehabt. Also in der Provinz war es noch viel schlimmer als in Berlin. So ohne Weiteres kam man in Berlin wiederum nicht rein, da wurde scharf drauf geachtet. Später gab es natürlich diese illegalen Zuzüge nach Berlin. Was manche Leute sich haben einfallen lassen, war grandios. Und das war der eine Punkt, wo das sehr, sehr bitter werden konnte. Und es gab auch noch Situationen, ich kann mich erinnern, das war selbst Anfang der 70er-Jahre, da wurde ein Kollege im Neuem Deutschland verrissen, also mit Namen. Darauf kriegte der so ne Heidenangst – ich konnte es damals sehr gut nachvollziehen –, dass er überall Hilferufe hinschickte, auch in den Westen. Und es wurde ihm geholfen. Wenn man diese betreffende Kritik heute aus dem Abstand liest, kann man nur lachen, weil da sind die Zeitungen im Westen also viel brutaler. Nur der Punkt ist ein anderer: In der DDR gab es eben nicht westlichen Journalismus, sondern das Neue Deutschland ist ein Parteiblatt gewesen und jeder DDR-Bürger hat gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen, nicht was gesagt wird, sondern was nicht gesagt wird. Das ist natürlich für jemanden, der aus dem Westen kommt, schwer nachvollziehbar. Das, was dort gesagt wird, klingt harmlos, aber was dann zwischen den Zeilen damit gesagt wird, das konnte brutal sein, es konnte existenzbedrohend sein. Im Westen ist – um nochmal vereinfacht zu sagen –, die Haltung die: Hauptsache, ich stehe in der Zeitung, egal wie. Also auch ein Verriss ist besser als nicht in der Zeitung zu stehen. Das war in der DDR umgekehrt: Ich stehe hoffentlich nicht im nd. Aus dem einfachen Grund, dass wenn ich dort verrissen werde, es existenzbedrohend werden kann. Wenn ich gelobt werde vom nd, kann ich die Freunde verlieren. Also das ist eigentlich: „Hoffentlich steht mein Name nicht im Neuen Deutschland.“ Das ist die DDR-Haltung gewesen. Das ist in den späten Jahren dann nicht mehr bedrohlich gewesen, nicht mehr wirklich bedrohlich, aber bis, ja doch, man könnte sogar sagen, bis in die Anfänge der Honecker-Zeit. Dann gab es diese scheinbare Lockerung. Die nachwachsenden Jungen hatten davon immer erst mal nichts. Man gab dann immer nach für das, was eh schon da war. Das traf uns dann. Für uns kam das ganz gut, aber dann wurde den nachwachsenden Jungen, das Leben wieder schwer gemacht. Das zog sich im Grunde genommen bis zum Ende der DDR hin.
00:29:34 MT: Nicht zuletzt, wenn so was wie die Akademie doch einer der offensten Orte für Kommunikation war, habe ich gestaunt, wie Mitte der 80er-Jahre Leute noch mal ihren kulturpolitischen Stalinismus aufwärmen und ausreden dürfen.
00:29:52 FG: Ja, das selbstverständlich. Nein, das muss man eben umgekehrt sehen, also dass auch Leute, die eben keine Stalinisten waren, auch ausreden durften. Das ist wiederum der große Vorteil der Akademie gewesen, das wäre an der Hochschule nicht gegangen. Jemand, der in der Hochschule Äußerungen gemacht hätte, die er in der Akademie ganz selbstverständlich machen durfte, wäre rausgeflogen. Man muss es so rum sehen. Sie dürfen doch nicht vergessen, dass die Mitglieder (mehr als die Hälfte) im Grunde von der Partei ausgesucht waren. Dessau hat sich sehr dafür eingesetzt, dass es eben nicht nach den Parteikriterien ging. Ausgerechnet Dessau, der ja selbst in dieser Partei war. Dass wir damals, der Bredemeyer, der Katzer und ich gewählt wurden, das wäre ohne Dessau nicht gegangen. Es war 1978 und er starb 1979. Ich weiß, wir haben das dann versucht unsererseits durchzuhalten. Das ging ja wirklich so weit, dass die manches Mal tagten, die Parteigruppen, vor den eigentlichen Sitzungen. Dann wurden so Beschlüsse gefasst. Weil die aber bereits wussten, dass der Bredemeyer, der in der Partei war, sowieso nicht mit ihnen stimmt, haben sie den gar nicht eingeladen. Also lauter solche Gags natürlich. Das sind Grotesken. Man muss nur eines sehen: Die Akademie hatte – und das sehr von früh auf, von den 50er-Jahren an – immer auch so die Funktion, Schutzräume zu bilden. Das war als wir Meisterschüler waren. Ich hätte gar nichts anderes machen können damals und das war der Schritt nach Berlin. Das war die Akademie. Ich war der Akademie außerordentlich dankbar. Der Brecht hatte ja die Formalien unterlaufen. Da wurde eben ein Herr Tragelehn Meisterschüler bei Brecht. Der hatte nicht mal Abitur. Das ging ja eigentlich gar nicht, aber Brecht setzte das durch. Das hatte später der Dessau genau da verhoben: Er hatte eben den Herchet, der auch keinen Abschluss hatte, was eigentlich formal gar nicht sein durfte: „Aber selbstverständlich wird der Herchet Meisterschüler.“ Also das sind diese Dinge, wo die Akademie schon eine Schutzfunktion hatte, bei allem Schwachsinn, der natürlich genauso lief. Natürlich waren die Altstalinisten, aber auch junge Stalinisten – die gab es ja auch –bis zuletzt da. Was mancher noch 1989 für ’nen Quatsch von sich da gegeben hat, das ist wirklich teilweise katastrophal.
00:32:07 MT: Es wohnen ja meistens mehrere Seelen in einer Brust. Es ist verblüffend zu sehen, dass Leute, die wie Huchel hervorragendes Kulturfeuilleton machen, wenn sie sich zu Wort melden, es nicht zu ertragen ist. Wie hat man das wahrgenommen als Junger, dass der Dessau mit einem hohen Maße an künstlerischer Kompromisslosigkeit, mit einem hohen Maß an Bereitschaft, tagespolitisch zu liefern, was man heute nicht mehr hören kann – beim besten Willen nicht –, sich mit einem Blauhemd als Achtzigjähriger vor große Hallen stellt und andererseits Geschirr zertrümmert in der Akademie, um gehört zu werden und die Leute eine Stunde lang anbrüllt? Wie ging das in Ihrer Wahrnehmung?
00:32:52 FG: Das war natürlich schon auseinander, aber zunächst gerade bei Dessau – nicht nur bei ihm – war das immer auch natürlich mit der Biografie erklärt, was die durchgemacht haben, diese Leute. Dadurch war für mich auch dieser Spagat schon zu erklären und beim Dessau kamen ja wirklich dann diese Schienen dazu, dass es fast eine Gläubigkeitsübertragung war: das Judentum aufgegeben und dafür den Kommunismus angenommen zu haben. Aber andererseits doch wieder die Gläubigkeit eben nicht, wie so eine christliche, sondern teilweise war das ganz locker.
Er fuhr eben immer ein West-Auto. „Genosse Dessau, wieso haben Sie denn vom Klassenfeind ein Auto?“ Und da sagte der ganz locker und freundlich: „Wissen Sie, wenn der Sozialismus dann auch solche Autos baut wie Mercedes, dann fahre ich auch ein sozialistisches Auto.“ Bums, fertig war die Laube! Es gibt ja die wunderbarsten Storys, also auch wie er die Grenzer fertig gemacht hat: „Motor aus! Ich muss Ihr Auto kontrollieren.“ „Mein Auto kontrollieren Sie nicht!“ Er war einer der ersten, der es durchgesetzt hat, dass er einen Pass kriegte nach Westberlin nach dem Mauerbau mit Auto auch noch. Also nicht mit S-Bahn, mit Auto! Er sollte kontrolliert werden und das verweigerte er einfach. Dann kamen die Büttel: „Aber wir müssen sie kontrollieren, dafür sind wir doch da.“ „Mein Auto wird nicht kontrolliert.“ Und es ging immer hin und her. Und irgendwie kamen dann die Drohungen von ihm: „Dann fahre ich nicht nach Westberlin.“ Das war ja nun die absolute Drohung. Dann riefen die an – das war DDR –, und dann gab es eben eine Sondergenehmigung für Genossen Dessau: Er wird nicht kontrolliert. Die Story erzählte er uns in der Jungfern paar Tage später und sagte: „Wenn ich was aus dem Westen mitschmuggeln soll, brauchen Sie es mir bloß sagen, ist gar kein Problem, ich kann alles schmuggeln, ich werde nicht kontrolliert.“ Ich hatte damals bloß keine West-Verwandtschaft und kein Geld, wo ich gesagt habe, bringen sie mal das und das mit. Der hätte es auch gemacht, also weiß Gott. Ich konnt‘s leider nicht ausnutzen damals und das war natürlich wieder fantastisch. Im nächsten Moment sagte er: Moment, er müsse jetzt irgend ne Huldigung an Ulbricht schreiben. Das haben wir nicht zusammen gekriegt, das ging ja auch nicht zusammen. Aber: „aha!“, der Kommunismus ist eine Verheißung, eine messianische Verheißung. Das sieht er natürlich, das war doch ein weltgewandter Mann. Der sprach perfekt Englisch, Französisch… Der hat lange in Frankreich gelebt, lange in den USA gelebt…, der sah doch was da los war! Aber da war irgendwo der Punkt: „Ja gut, das ist alles Mist, aber das wird schon, das wird schon, es braucht seine Zeit, aber das wird schon.“ Und ansonsten fährt er natürlich nach Westberlin, wenn er was braucht. Das ist doch ganz klar.
00:35:25 MT: Es gibt diese Postkarten von Ihnen: „Darf ich im Garagenzimmer übernachten?“ Was wollten Sie da? Canto Sospeso oder irgendein Nono auf Tonband? Was kam da durch Dessau an Tonträgern, an Büchern, an seine jüngeren Kollegen ran, was relativ schwierig zu kriegen war?
00:35:44 FG: Also unmittelbar war das gar nicht mal so viel. Es kam ab und zu was ran, aber es gab auch solche Sachen: Damals lief in Westberlin in der Deutschen Oper – Städtische Oper hieß sie, glaube ich, da noch, also hier Theater des Westens – Moses und Aaron. Da hatte ich ihn gebeten, ob er da was machen kann – er hatte da Beziehungen –, ob ich da vielleicht ne Karte [bekommen kann] – ich kann es ja gar nicht bezahlen. Dann schickte er ne Karte nach Dresden. „Dann und dann kann ich kommen. Er hat ne Freikarte für mich.“ Da kam ich nach Berlin und freute mich darauf, dass ich Moses und Aaron gucken gehe und dann wurde da der Scherchen krank (oder was) und die fand nicht statt, die Vorstellung. Also da musste ich Moses und Aaron irgendwann erstmal selber dirigieren, bis ich das kennenlernte, so in etwa. Natürlich, er hatte ab und zu eben auch mal was da an Bändern – Platten gab es ja eh kaum was –, wo man was hören konnte, was man sonst nicht hört. Das war aber gar nicht so toll. Aber, der Dessau hat da über’n Blacher beispielsweise auch den Aribert Reimann eingeladen in die Akademie und der Reimann kam und der wusste: Mensch, die Jungs da drüben, die haben ja leider gar nichts. Und er brachte mir dann mit – das war kein Problem, aber doch ein bisschen schon – die Philosophie der Neuen Musik. Ich kannte die zwar, aber ich besaß sie natürlich nicht. Mein Exemplar heute, das hat mir Aribert Reimann mitgebracht. Boulez, die Partitur Marteau sans maître hat mir Aribert Reimann in den 60er-Jahren mitgebracht. Mahler Neunte und später – hat er dem Verlag geklaut – die Lulu, die zweitaktige. Lag rum, hatte er eingesteckt, „könnte er ja gebrauchen“. Ich bin ihm unendlich dankbar gewesen. Ich meine, so hat man sich irgendwie versorgt: Irgendjemand hatte was und dann gab es immer irgendjemand, der fuhr nach dem Westen und brachte was mit. Und das war natürlich auch ne Voraussetzung, dass man was kennenlernen konnte, wenn so ne Mauer da ist. In Sachsen war es schlecht Radio zu empfangen. Es gab immer irgendjemand, der was hatte. Und dann gab es eben so ein Ringtauschverfahren und das funktionierte sehr gut.
Wer wirklich was wissen wollte, konnte sich natürlich auch was… Allerdings war es bisschen mühsam. Es gab Leute, die haben dann hinterher gesagt: „Ja, wir waren ja abgeschnitten, wir konnten ja nichts wissen.“ Das ist völlig Quatsch! Dann waren sie einfach zu bequem. Das sieht man auch heute bei vielen Leuten im Westen: Es ist alles zugänglich, sie kennen nichts. Es hängt nur an den Leuten, an gar nichts sonst. Und das war halt in der DDR auch so.
00:38:14 MT: In den Tagebuchaufzeichnungen von Dessau ist, glaube ich, Mitte der 50er-Jahre schon die lapale Zeile vermerkt: „Boulez, Nono, Stockhausen – die großen ihrer Generation.“ Das ist selbst für Mitte 50er Jahre schon, auch für Darmstadt-Besucher…
00:38:33 FG: Der war 1957 in Darmstadt und daher kommt das. Das ist lustig – das wurde mir dann später erzählt. Ich war 1959 dort und Dessau sagte: „Grüßen Sie Stockhausen!“ Ich sagte: „Ich soll herzliche Grüße von Herrn Dessau ausrichten.“ Dann überlegte er: „Ja!“, und strahlte und das fand er wunderbar. Aha! Dann erzählten mir andere Leute, dass der Dessau nicht alleine dort war, das war ne Komponistenverbandsdelegation. Dann sagten mir Leute dort, dass es unheimlich grotesk war, dass es ne komische Truppe war. Nottowitz, Goldschmidt die waren es, glaube, und Dessau. Das war die Zeit, wo Goldschmidt also noch völlig Schwerstalinist war. Die traten da wohl in Darmstadt auf und versuchten zu überzeugen, dass alles falsch ist, was die machen. Und das muss also eine richtige Komiker-Veranstaltung gewesen sein und nur der Dessau absentierte sich von denen und ging hin und guckte: Was machen Sie?
00:39:25 MT: Es gibt sogar ein Foto davon, wie Dessau hinter lauter Jungschen steht.
00:39:26 FG: Ja, ja. Ja, und das erzählten die mir alle 1959. Das ist sehr kennzeichnend für den Dessau, das war der wirklich bis ins hohe Alter. Der war neugierig, der ging in Konzerte, wenn junge Komponisten aufgeführt wurden. Da kam der. Der kam noch 1979, als er starb – im Januar ging es ihm schon ziemlich schlecht. Da dirigierte ich selbst (musste einspringen) meine 2. Symphonie in der Staatsoper. Da kam er zur Generalprobe. Da ging es ihm schlecht. Ich dachte: „Ich seh‘ nicht richtig, sitzt der olle Paul da!“ Ich fands ganz toll, nicht? Aber da kam der. All das ist einfach enorm gewesen. Da war er trotz seines Alters eigentlich immer ein junger Mann geblieben. Da könnte man sagen: „Na gut, er war nie ein Intellektueller.“ Der Eisler war ein Intellektueller, aber zu früh gealtert. Ja, und deswegen war der Eisler für uns auch überhaupt nicht so wichtig, wenn man das so im Abstand sieht, also der Eisler von 20 Jahren und die Vermittlung jetzt von Schönberg her. Der Dessau kannte den Schönberg auch, aber erst in Kalifornien. Er hat dem Schönberg nie was gezeigt. Er hatte Angst. Ja, und dabei hätte er ihm dieses schöne Stück Les Voix wirklich zeigen können.
MT: Sogar schon die Klavierstudien von 1932/1933 sind sehr hübsch.
00:40:42 FG: Auch, ja! Na sicher.
00:40:46 MT: Na ja, Eislers Klugheit war wahrscheinlich nicht kompatibel mit der Dummheit seiner Zeitgenossen. Also die Versuche von Eisler zu argumentieren, laufen ja prinzipiell vor die Wand.
00:40:50 FG: Eben.
00:40:59 MT: Dessau ist naiv, aber auf ne sehr intelligente Weise. War das ne Masche?
00:41:07 FG: Nee, der war so. Nein, das war ne Lebensklugheit. Das wusste er: Man muss sich erstmal doof stellen, um so richtig… Sie sagten es: Er war naiv. Aber damit konnte er auch spielen. Er wusste ganz genau, er war mal wieder mit seinem Auto viel zu schnell gefahren und wird von der Polizei gestoppt. Und Dessau, der so ruppig sein konnte, war ganz freundlich zu dem Büttel, ganz freundlich: „Ja ja, ich weiß. Seien Sie lieb, machen Sie es bitte schnell, ich hab‘ es nämlich sehr eilig!“ Ganz freundlich und der konnte nicht rumschnauzen. Ein anderer hätte gesagt: „Ich bin ja National…!“, oder weiß ich was. Da waren sie ganz stur. Da war er saumäßig klug und das ging wirklich ganz schnell: Der Büttel war ganz freundlich. Das war nicht erwartet. „Wenn er mit einem dicken Mercedes angefahren kommt, wird der sich hier aufspielen oder sonst was.“ Dessau nicht. Und umgekehrt: Wenn MuG-Mann ihm mal ganz blöde kam, dann konnte der aber wirklich die Leute anrotzen. „Wo kommen Sie her? Vom Komponistenverband? So sehen Sie auch aus!“ Der ganze Saal lachte. Tiefer konnte man jemanden nicht beleidigen, ne?
00:42:16 MT: Machen Sie mal für mich anschaulich: Wenn sich Leute in Zeuthen trafen, was geschah da? Außer, dass getrunken und gesprochen worden ist. Das ist vollkommen klar.
00:42:26 FG: Dessau trank kaum. Er rauchte ja auch nicht. Er hatte mir gesagt – ich war ja starker Raucher: „Muss das sein?“ Aber er verbot es nicht. Ich rauchte und die Berghaus rauchte ja auch. Er trank ganz wenig. Er hatte bis zu seinem 55. Lebensjahr stark geraucht, und zwar doppelt so viel wie ich.
Es kam halt ganz drauf an, wer oder was sich im Hause Dessau traf. Aber es war halt ein wirklich offenes Haus. Über das BE waren natürlich Schauspieler da. Das Theater, das ist ja so eine merkwürdige Mischung, da treffen sich ja die verschiedensten Professionen: Da sind die Schauspieler, die Dramaturgen, Bühnenbildner, da ist die bildende Kunst da, dann sind Techniker irgendwo auch mit dabei…Und da hatte der Dessau ein wirklich weites Umfeld. Also alle wussten: Bei Dessau ist das Haus offen, wenn man über was reden will. Bei Dessau kann man über alles reden. Und Schriftsteller kamen da. Bei Dessau habe ich den Heiner Müller nicht kennengelernt, das schreibt der Müller in seiner Erinnerung nieder: „Dessau war der große Kommunikator.“ Das stimmt nicht, aber indirekt eben doch. Ich lernte bei Dessau den Karl Mickel kennen, der schrieb auch Texte für ihn, später die Oper. Und über Mickel lernte ich den Tragelehn kennen. Und wenn man Tragelehn kennenlernt, dann musste man Heiner Müller kennenlernen. Das war ganz klar! So, das waren die Wege und so lernte man Leute kennen. Das war für mich damals, also aus dem sehr provinziellen Dresden kommend…ich will nicht Dresden-Beschimpfung machen. Dresden hat auch seine wunderschönen Seiten. Auch eben wenn so eine Tradition erstmal da ist, das ist ja was. Die Dresdner Staatskapelle ist natürlich eben wirklich eines der absoluten Toporchester. Und das hat man eben auch studiert. Das ist der Vorteil. Aber alles, was wirklich an Neuem kam, das ist in Dresden sowieso ein bisschen problematisch, aber nun noch mit DDR-Sozialismus zusammen…das war schon eine ziemlich ungute Mischung zu dieser Zeit. Da wollte ich dringend raus und war heilfroh über die Theaterwelt, in der ich mich da rumgetrieben habe. Da kriegte ich das, was man ganz schlicht Horizonterweiterung nennt. Und es begann immer in Zeuthen, wenn man so wollte und das ging eben auch international. Schauen Sie, die DDR war nun mal abgeschnitten. Nach Dresden hätte sich doch nie jemand verirrt, aber nach Zeuthen kam dann auch Herr Nono und Herr Leibowitz. Die habe ich bei Dessau im Hause kennengelernt und was weiß ich, wer da nicht alles auftauchte. Das waren einfach diese wunderschönen Situationen, ganz unterschiedliche, je nachdem, wen man eben antraf, welche Runden zusammen waren. Manches Mal war es eben auch bloß ein lustiges Gequatsche, das kam dort genauso vor wie anderswo, nur dass man wusste, es ist ein Ort, wo man nicht hinterm Berg halten musste, und da konnte man sich drauf verlassen. Als der Müller verboten wurde, die Stasi von der Umsiedlerin alle Exemplare beschlagnahmte, hatte der Dessau irgendwo einen Riecher und hatte sich vom Heiner Müller eins geben lassen. Die Stasi hat wirklich alles beschlagnahmt. Auf die Idee bei Dessau [vorbeizugucken], das hätten sie nicht gewagt. Natürlich hatte Dessau immer ein Exemplar. Tragelehn hatte es im Kopf und der Dessau als Text. Und das das war so ne Selbstverständlichkeit, das gab es sonst nicht. Da hatten eben andere, selbst wenn sie hoch angesehen waren, mit Verlaub, schlicht Schiss. Das muss man nicht jedem vorwerfen. Der Seghers wurde das immer vorgeworfen, dass sie dann so ’n bisschen feige war. Ja gut, andererseits die kannten natürlich wiederum auch ihre kommunistischen Funktionäre aus den 20er-Jahren. Unter Umständen wird geschossen. Es gab immer auch Grund zur Feigheit. Vielleicht ist der Dessau immer ein bisschen naiv gewesen, weil er eigentlich in der Zeit, anders als Brecht und Eisler, noch nie mit den Kommunisten zu tun hatte. Der kannte wahrscheinlich die Funktionäre auch nicht so gut wie die beiden. Das kann durchaus sein.
00:46:20 MT: Das halte ich für sehr plausibel. Dieses vor und zurück, rechts und links lässt sich an der Kompositionsästhetik von Dessau sehr gut festmachen. Sie haben vorhin von gläubig gesprochen. Er bedient sich ja ganz prinzipiell bei Bach, indem er für die schlimmsten Sachen wie in dem Gedenkmarsch für Wilhelm Pieck einfach drei bereits bestehende Stücke montiert. Er klebt sie zusammen. Die Partitur ist so schlampig geschrieben, das hat keine fünf Stunden gedauert. Wo geht das weiter in der Musik und wie teilt sich das möglicherweise den Leuten mit, die in seinem Umfeld ihr Komponieren vervollkommnet haben oder angefangen haben zu komponieren?
00:47:03 FG: Also diese Ebene von Stücken hat man schlicht nicht mehr ernst genommen. Das ist ganz simpel. Zum Teil kannte man sie auch gar nicht. Da sagte auch er selber: „Weg!“ Das war auch ziemlich klar. Das sind Ebenen von Gebrauchsmusik, die so sich nicht halten. Er hatte da ja auch ne richtige Theorie. Die war übrigens älter, die hatte er aus den 20er-Jahren natürlich schon, also diese frühen bisschen Hindemith ähnlichen Geschichten. Wie hieß das? Eisenbahnspiel?
00:47:34 MT: Ja, auch dieses Konzert für Quartette…
00:47:36 FG: Ja, was sehr, sehr schön ist. Keiner wollte das machen. Wirklich ganz spät noch mal – das war noch Dessaus Tod – habe ich den Nico Richter de Vroe überredet, dass der das macht. Der hat das wirklich gemacht. Das ist ne Sack-Arbeit und es ist sauschwer für die Geiger. Und da hat der Komponistenverband sich noch beschwert, dass der ein Honorar kriegt, das ein bisschen höher war. Das haben wir an so einem Dessautag mal gemacht. „Der sei doch gar nicht Solist.“ Solche Frechheit! So toll waren die Honorare nicht. Wirklich nicht. Also, dieses Gucken aus den 20er-Jahren, auch raus aus den etablierten Zentren, die zwar nicht abgeschafft werden – das war nicht Dessaus Haltung –, aber schon diese Verbindung, also Alltagsmusik, das war so eine Geschichte, die hatte er, glaube ich, schon aus den 20er/30er-Jahren mitgebracht und durch die Emigration ist er allerdings zu nichts gekommen. Er hat es dann wieder aufgegriffen in der DDR-Zeit, auch diese Kollektivkompositionen immer wieder geradezu obsessiv zu machen. Also Jüdische Chronik ist ja nur eine Geschichte…
00:48:50 MT: Lilo Herrmann, als…
00:48:52 FG: Zum Beispiel. Immer wieder ein Versuch. Es ging oft daneben, aber Bredemeyer hatte das dann versucht seinerseits festzumachen. Es gibt auch immer so ein paar Stücke, aber es ist nicht wirklich viel.
00:49:10 MT: Das letzte hat mir viel zu viele Fragen auf einmal in den Kopf gejagt. Ich kenne, dass wenn man einen Komponisten, der eine Zeit in der DDR verbracht hat, fragt: „Hat es sowas wie eine eigene Kompositionsästhetik in der DDR gegeben?“, dann kommt erst mal: „Nö.“ Ist mir klar, warum das so ist. Aber es scheint, ein paar Anknüpfungspunkte zu geben. Sie haben vorhin den Müller genannt. Der Müller meinte: „Wenn es“ – in seinen Erinnerungen, die er da auf Band gesprochen hat – „einen Grund gab in der frühen DDR zu bleiben, war es Brecht.“ Alle Komponisten, die in Ihrer Lehrergeneration waren, haben sich zu einem gewissen Grad über Zusammenhang mit Brecht definiert. Hat es der Musik was gesagt?
00:49:53 FG: Der Musik, das weiß ich nicht. Also auch in der DDR war Brecht natürlich ne umstrittene Figur. Also einerseits wurde er zum Klassiker stilisiert, auch von der Partei. Andererseits liebte die Partei den Brecht auch nicht gerade.
00:50:08 MT: Das war Taktik, allgemeine.
00:50:08 FG: So ist es. Andererseits werden die nun schön brav in der christlichen Erziehung in der Regel auch von Brecht nichts wissen wollen. Für die war der Brecht also auch eine Art „Gott sei bei uns!“ Ich gehörte zu denen, die über Brecht angefangen haben in der Schulzeit, die DDR überhaupt wahrzunehmen, dass es das überhaupt gab. Was ist Sozialismus? Was soll denn das überhaupt sein? Also insofern bin ich Brecht-geschädigt, ganz schwer! Über Brecht kam man da zu etwas. Eben auch die Musikernamen Eisler und Dessau hatten dann natürlich irgendwas mit Brecht zu tun, und zwar Dessau, das ich anfangs schon erzählte, 1958 mit nem Stück wie In memoriam BB. Für mich viel interessanter als Eisler mit den Neuen deutschen Volksliedern oder ähnlichem. Andererseits, dass man dann dahinterkam: „Schau mal her, was ist das hier für ein lustiges personelles Gefädel.“ Das Wort, was Adorno ja auch benutzte. Der Eisler schreibt mit Adorno in der Emigration gemeinsam ein Buch. Er war Schüler von Schönberg. Der Dessau hat auch mit dem Schönberg zu tun. Erst in der Emigration vorher mit Leibowitz in Paris, dann auch mit Schönberg in den USA. Und die schöne Story, die der Dessau erzählte, als er zunächst nicht den Lukullus komponieren wollte, den Brecht ihm da angeboten hatte. Und dann die kleine Bosheit von Brecht: Er, Dessau, kenne doch den Strawinsky. Er soll doch mal zu Strawinsky gehen und fragen, ob er es macht. Das hat Dessau später erzählt. Zum Glück war er nicht interessiert. Man hatte urplötzlich sowieso das Gefühl: Moment mal! Man hat eigentlich über dieses personelle Gefädel sofort Kontakt zu wichtigen Linien des Geschehens in diesem 20. Jahrhundert. Das hat eben in dieser Form natürlich schon was DDR-spezifisches, dass eben Brecht, Eisler, Dessau, diese Figuren waren, über die das lief. Andererseits, und deswegen natürlich auch ein bisschen die Abwehr von DDR-Spezifik, für den Zusammenhang, um den es da ging, war die DDR doch zu klein. Natürlich ist es anders als so. Ich bin auch immer mehr davon überzeugt, je größer der Abstand da wird, dass sich auch in der Ästhetik sehr wohl sehr eigene Vorstellung entwickelt haben, also auch beispielsweise eben eine andere Vorstellung von der Autonomie der Künste. Nicht, dass es keine Autonomie gab, das hätte die Partei am liebsten gesehen, aber eine gleichsam absolute Autonomie, das war eigentlich aus den Erfahrungen mit der DDR so kaum vorstellbar. Wenn man so bestimmte Debatten heute sieht, sind die Debatten so langsam längst wieder dort, wo wir in der DDR schon mal waren.
00:52:53 MT: Na, man kann sich aber auch im Ost-West-Vergleich fragen, was gruseliger ist. Ob nun eine Komponisten- und Künstlerschar auf die Spielwiese geschickt wird und alimentiert wird: „Aber bitte macht das nur dort und ihr kriegt eure Musiker lieber mit den 20 Leuten, die kommen. Ihr kriegt euer Studio in Köln.“ Oder die andere Variante.
Sie haben dieses Stück genannt, schon zweimal, das In memoriam Brecht. Das ist ja eine verrückte Sache. Da erfindet er das, was wir dann später mal Polystilistik nennen, bedient sich gleichzeitig eines Montageverfahrens. Das ist ja nicht gemeinsam komponiert, sondern der Mittelteil ist von 1948 in einer reizenden Kammerbesetzung. Das ist er nie losgeworden. Ist das mal gespielt worden?
00:53:35 FG: Nee, also ich kenne es nicht.
00:53:37 MT: Er hat es ja reingeschrieben für einen Stich sogar. Es ist nie weiter was geworden dann. Dann diese kleine Sekundgeschichte am Anfang, die verbunden ist mit dem letzten Satz, in dem die halbe Reihe verwendet wird, und im Lamento dann eben die ganze Reihe, die in der Mitte des Stückes auseinanderbricht, um am Schluss wieder wörtlich zu kommen. Haben Sie die Noten schon in der frühen Zeit in die Hand bekommen?
00:54:02 FG: Nee, die habe ich erst später gesehen. Ich weiß nicht, das ist ja gedruckt… Wann ist das gedruckt? Das ist ja viel später.
00:54:05 MT: 1962, glaube ich, gedruckt. Das ist früh! Ich habe auch gestaunt.
00:54:07 FG: Also da bin ich nicht sicher, ob ich es da schon hatte. Ich habe es bei ihm mal gesehen, aber das war noch die Handschrift. Aber wenn man so schnell mal reinguckt, sieht man ja nichts. Ich habe es gehört in Dresden und das war für mich erst einmal absolut erstaunlich. Das hatte ich nicht erwartet, dass ein in der DDR als DDR-Mensch angesehener Mann, Nationalpreisträger, SED-Mann, der da Politzeugs schreibt, so ein Stück Musik schreibt. Also nach dem, was ich sonst von der DDR wusste und kannte, gab's das da alles gar nicht. Weil ich weiß noch, wie ich mich da durchgeschlagen habe aus einer Dresdner Bibliothek Schönberg [auszuleihen]. Was gab’s? Ausgerechnet die Suite op. 25 In die Landesbibliothek durfte man als Schüler leider nicht rein damals, also nur in die Stadtbibliothek. Und da gab es fast nichts, aber die Suite op. 25 für Klavier hatten die. Die habe ich mir dann ausgeliehen und abgeschrieben. Es war 1957. Und dann gab es genau in dieser Zeit in Dresden ein paar Aufführungen. Es war grotesk. Da wurde die Symphonie von Webern gespielt. Da war ja mal ein Dresdner Kammerorchester, die in Darmstadt waren, und dort das dort unter Maderna gespielt haben. Die kamen zurück. Das wurde dann von dem erwähnten Hochschulrektor später alles richtig kaputt geschlagen nach 1960. Dann gab es Schönberg. Die Fantasie für Geige und Klavier op. 47 habe ich da in Dresden gehört. Und in dieser Zeit komponierte Dessau In Memoriam BB. Das ist schon eine sehr merkwürdige Erfahrung. So ’was hatte man öffentlich noch nicht gehört. Also man kannte bissl Schostakowitsch. Bartók war ja– außer Konzert für Orchester und vielleicht 3. Klavierkonzert – auch nicht so gerne gesehen, gehört. Bartok ging noch, das war noch Humanismus. Also die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, doch, die gab es ab und zu. Das war das Radikalste, was man kannte. Und da kam der Dessau. Das war schon erstaunlich. Später, als ich mich beworben habe, erschienen zu dieser Zeit Guernica und diese 3 Intermezzi. Da habe ich dann Guernica zur Bewerbung 1959 in der Hochschule gespielt. Ich habe das sicher nicht gut gespielt, ich konnte das gar nicht. Das war viel zu schwer. Aber das war wirklich für mich ein ganz erstaunlicher Vorgang, dass es sowas gab. Das passte überhaupt nicht in dieses Bild, das ich mir von DDR machte.
00:56:26 MT: Mal ganz weit musikgeschichtlich: Gibt es so eine Anverwandlung von Dodekaphonie, wie sie Dessau betreibt, nochmal irgendwo? Weil, er ist ja alles andere als streng. Er hat diese Flächen, diese zwölftönigen, manchmal sieht man mal die ganze Reihe… Wagner-Régeny macht auch Melodien. Der denkt sich zwölftönige Melodien aus, wie es ja auch Bartók im 2. Violinkonzert macht. Ist das ein eigener Weg?
00:56:58 FG: Nee, das würde ich nicht so sehen. Wobei, also ich kann es gar nicht mal genau sagen. Es gab ja in Dresden einen Komponisten, der hatte eine Symphonie geschrieben und ging dann immer rum und sagte auf gut Sächsisch: „Nicht weitersagen, es ist auch eine Zwölftonreihe drin.“ So als Zeichen des ganz großen Widerstands. Das waren alles Grotesken. Insofern hat es sicher alles Mögliche gegeben. Und wenn die Leute überhaupt sich die Mühe gemacht haben, sich damit auseinanderzusetzen, hat es sicher jeder wirklich auf seine Fummelei getan. Also da gab es ja weder offiziell Literatur noch Unterricht etwa. Ich habe komischerweise mich an Zwölftonreihen nie so sonderlich interessiert und selbst an dem Seriellen nicht. Ich bin eigentlich relativ früh weg. Streng genommen habe ich fast nie mit Reihen gearbeitet.
00:57:47 MT: Im Gegensatz zu Brede. Dort hatten sie ja eine Omnipräsenz.
00:57:49 FG: Ja, natürlich. Ja, sicher. Aber eben auch Bredes Herangehensweise ist nicht unbedingt mit der von Dessau vergleichbar. Insofern weiß ich es wirklich nicht…Haben Sie mal bei Herchet geguckt? Mir sind die immer zu dick. Da bin ich immer zu faul, um zu versuchen rauszukriegen, wie der das baut.
00:58:13 MT: Bei Herchet bin ich mir überhaupt noch nicht so sicher, aber das ist ne ganz andere Geschichte. Aber ganz abgesehen davon: Bis Zwölf zählen ist ja die eine Geschichte, polystylistisch komponieren ist doch eine Sache, die wir, wenn wir es ganz pauschal machen, nicht zu Unrecht nach Osteuropa stellen um 1960 herum.
00:58:27 FG: Ja pardon, das gibt es bei Henze natürlich auch. Gucken Sie sich mal den frühen Berio an! Also, sagen wir mal mit dem großen Hausieren, mit dem Begriff, das hat man dann eben auf Osteuropa gestellt, aber ich bin da sehr, sehr skeptisch. Boulez hat darauf hingewiesen: Im technischen Sinne ist Eklektizismus auch Messiaen. Das ist einer der größten Eklektizisten technisch gesprochen, wenn man das jetzt gar nicht pejorativ meint. Und da haben Sie das. Da haben Sie Polystlistik, den ganzen Franz von Assisi. Das ist herrlich. Man muss nicht katholisch werden – also hoffentlich nicht. Also das ist seltsam. Der Dessau hat natürlich immer diese Spiele getrieben. Er hat dann eben in Frankreich und in den USA immer auch diese zwölftönigen Spiele (seine Herangehensweise) [getrieben] und das bleibt, wie es immer heißt, sehr dessauisch. Da hat er fast ein ganzen Personalstil, egal ob er die Reihe so dreht oder anders. Das ist wurscht. Dann geht er aber immer auch zu dieser Zeit parallel dazu auf – ja, nennen wir es mal mit Vorsicht – neoklassizistische Techniken oder Stilistiken. Er kommt hier zurück in den Osten und was macht er? Also eigentlich hat das meiste auch von den Bühnenmusiken halt gerade nichts mehr mit der Schönberg‘schen Ecke zu tun. Es taucht interessanterweise wirklich groß erst da wieder auf, wo der Brecht tot ist: Im In Memoriam BB in den Außenteilen. Da kommt das plötzlich. Und dann kommt es später immer mal wieder, immer auf andere Art, nicht immer ganz glücklich. Ich habe da immer ein bisschen meine Schwierigkeiten. Die Stücke sind selten wirklich mal durchgebaut, also im Meer der Stürme gibt es so wunderbare Sachen und dann gibt es aber auch so Durchhängepassagen. Die Dirigenten stöhnen zu Recht. Man kann es nicht machen wegen dieser abstrusen 9/16tel-Takte, wo man wirklich nicht weiß warum eigentlich und die dann die Dirigenten anfangen zu begradigen. Da wird es noch schlimmer, wenn sie es nicht machen. Es klappert immer. Also selbst ein Mann wie Gielen hatte da seine Mühe. Da sagte er: „Oh Gott, das hört er aber gar nicht gerne.“ Das ist wirklich ein Problem. Da war er ja wirklich fasziniert, also dass da die Sowjetunion dort auf dem Mond landete. „Toll! Nicht die Amerikaner.“ Obwohl die Kinder da in Amerika lebten. Das ist auch wieder so eine Groteske.
01:01:06 MT: Es gibt auch einen Streichquartettsatz, den verunglückten Kosmonauten, wo es um den Weltraum ging.
01:01:10 FG: Ja, da hatte er ne Macke. Das konnte ich nie so ganz nachvollziehen.
00:00:03 MT: Sagen Sie zu den Talenten noch was! Man kann es nennen, wie man will.
00:00:05 FG: Also um Gottes Willen, ich bin selber technisch alles andere als talentiert, aber der Dessau…also ich hab zwei linke Hände, er hatte vier. Die Berghaus machte sich dann lustig. Er sagte immer, dass er dem Schönberg irgendwas geholfen hatte. Da sagte die Berghaus ganz trocken: „Wie hast du denn das fertig gebracht?“ Das ist sehr grotesk, dass gerade so jemand, wirklich so ein Faible entwickelt und geradezu fasziniert ist, von irgendwelchen Weltraumsachen. Ja, also es mussten schon die Sowjets sein. Dass so ein Ami da rumhüpft, das hat Dessau überhaupt nicht interessiert, aber wenn die Sowjets… Meer der Stürme, das fand er so toll! Ich meine dieses hohe E da oben, das klingt ja auch echt schön, das ist doch richtig gut. Gut, das sind so Merkwürdigkeiten. Oder, und das finde ich nicht so gut, diese Appassionata-Bearbeitung. Leibowitz hat das Mal dirigiert hier in Berlin in der Staatsoper mit Schönberg-Variationen und Beethoven-Konzert. Ein schönes Programm.
00:01:14 MT: Was fange ich an oder was fangen Sie an mit dem angeklebten Grabspruch?
FG: Gar nichts.
MT: Wie kommt denn sowas? Der passt da ja nicht mal dran, den könnte man ja fast sogar weglassen.
00:01:21 FG: Ich kann damit gar nichts anfangen. Ich gebe zu, das habe ich auch völlig verdrängt. Also jetzt, wo sie es aussprechen, erinnere ich mich wieder dunkel, aber ich weiß es gar nicht mehr.
00:01:38 MT: Das Stück ist ja wunderschön. Dieses Komponieren Über, gerade bei den großen Sachen, bei den Orchesterkompositionen, ist das ein didaktisches Moment? „Ich führe euch jetzt an was Schwieriges und dann dürft ihr euch wieder entspannen und dann kommt wieder was, was schwer zu hören ist“?
00:01:58 FG: Doch das hat er manchmal. Also diese Art von didaktischer Neigung, ist glaub ich da. Deswegen geht er auch in die Schule – in die Normalschule, nicht in die Musikschule – und bringt den Kindern bei, wie man Liedleins komponiert. Das ist auch ganz rührend. Er schreibt den Taktwechsel nicht, weil es ihn musikalisch interessiert, sondern damit die Musiker nicht einschlafen, damit die ne Nuss zu knacken haben. Also wirklich völlig abstruse Überlegungen. Es gibt Komponisten, die das tatsächlich dann ganz gezielt machen und daraus dann Theorien entwickeln, die mir die Latschen ausziehen. Bei Dessau hatte das durchaus was Lustvolles, aber war manchmal auch absurd. Das kann durchaus sein, dass so ’was wie diese angehängte Grabschrift auch in so einem Kontext steht. Gott, da gibt es schon so manches Verunglückte. Es gibt eben auch so manche Massenliedern, die schön geschrieben sind. Wie der Heiner Müller mir erzählte, dass der Dessau ihn gebeten hat: „Mach doch mal wieder was!“ Da hatte er kein Problem, da kann er auch ruhig was reinschreiben. Wenn der Dessau was komponiert, versteht sowieso kein Mensch den Text, also das spielt keine Rolle. Müller hatte sicher große Schulden bei Dessau und das war die absolute Großzügigkeit von Dessau: Der schenkte dann nichts, sondern sagte: „Heiner, mach mir mal einen Text.“ Und dann waren die Schulden beglichen, fertig. Der Müller wäre bloß nie auf die Idee gekommen: Das Lied wurde nie gesungen, aber die Handschrift mit dem Text wurde im Neuen Deutschland abgedruckt. Das ist natürlich tödlich! Da haben wir uns auch manches Mal gefragt: Was ist los? Was geht da in dem Kopf von dem Alten vor? Wir haben es eigentlich immer auf die Erfahrung der Emigration gedrängt. Wenn man eben als Jude aus Deutschland wegmusste und diesen ganzen Scheiß sehen musste, wie da wirklich Existenz eben absolut gefährdet war. Er sollte ja noch 1933 ’ne Filmmusik machen, wenn Sie diese Geschichte kennen, wo er instinktiv Recht gehabt hat, der Mann. Da hat er ’nen Instinkt gehabt: Nichts wie weg! Und plötzlich – das haben ja viele Leute, gerade die, die gerade aus der jüdischen Emigration zurückkamen, gesagt: „Also in der DDR…also der Antisemitismus war in der Provinz genauso, aber in Berlin spielte er glaube wirklich keine Rolle und man konnte eben wirklich angstfrei leben als Jude.“ Die andere Angst, die plötzlich über die Gulags kam, die haben die, glaube ich, die ersten Jahre nicht so ernst genommen. „Wir sind doch Kommunisten, da passiert das nicht.“ Dass es andererseits bei den deutschen Kommunisten natürlich auch einen latenten Antisemitismus gab, das haben sie wahrscheinlich verdrängt. In Berlin ist er, glaube ich, nicht so spürbar geworden, in der Provinz schon.
00:04:49 MT: Noch irgendwie 1963 erzählte er Gerty und Rudolf Wagner-Régeny, dass sie eben in den Schnee vor dem Haus ein Hakenkreuz getrampelt haben. Und es muss während der Lukullus-Aufführung der Staatsoper zahlreiche…
00:04:58 FG: Da ja, stimmt schon. 1963? Das wundert mich eigentlich. Das war die Zeit, wo ich das dann wahrnahm, also eben in Sachsen. Der konnte sich nicht groß äußern, es war ja verboten: „Sie haben sich nicht zu äußern!“ Aber umso mehr schwelte er natürlich im Grunde genommen. Wir haben es damals genommen: Na ja, gut, nach 15 Jahren ist das eben noch nicht vorbei. Das haben wir so als Nachwirkung genommen. Dass sich das die ganze DDR-Zeit durchgehalten hat, und dann nach 1989 teilweise also derart fett wieder rauskam, da muss ich sagen, das hab‘ ich so auch nicht für möglich gehalten. Das war wirklich ein bisschen der Unterschied zwischen Berlin und der übrigen DDR. Also um 1960, dass sich es da in Berlin noch gezeigt hätte…Da kannte ich nur diese Geschichte hier in Westberlin, wo dem Scherchen wegen Moses und Aaron das Auto abgefackelt wurde und solche Geschichten. Also das in Zeuthen, das hat er mir nie erzählt, das wusste ich nicht, dass er da noch 1963…oh Gott! Also ich habe es eigentlich hier in Berlin als überhaupt nicht mehr relevant empfunden, also auch in Ostberlin. Das war vollkommen wurscht. Und das war das Angenehme an Berlin gegenüber eben dem Rest der DDR.
00:06:19 MT: Sie haben Filmmusik gesagt. Der Rienäcker hat was Kluges gesagt irgendwann mal in den Achtzigern. Er meinte dieses montierte Komponieren, was ich bei keinem Komponisten so kenne wie bei Dessau, fordert natürlich raus zu einer handlungsdramaturgischen Befragung dieser Musik und hat wahrscheinlich was mit dem Komponieren mit der Stoppuhr in der Hand und ähnlichem zu tun. Kann das sein?
00:06:53 FG: Würde ich mich nicht so festlegen wollen. Also es ist so: Man muss keine Filmmusik komponieren. Jeder, der im 20. Jahrhundert aufwächst, hat Erfahrung mit Filmen gemacht. Also ob das noch die Stummfilmzeit war, was ja Dessaus früheste Erfahrung war, die wir nicht mehr erlebt haben. Aber in den 50er-Jahren noch diese kleinen Vorstadtkinos, diese Minischläuche, die Ihre Generation kennengelernt hat. Das haben wir noch erlebt. Und andererseits in Dresden, da gab es ein Kino, die Schauburg hieß das, also mit einer richtigen Kinoorgel noch, und die wurde bedient! Das kennt man doch heute gar nicht mehr. Also seine Kinoerfahrung, Filmerfahrung hat jeder gemacht, da muss man gar keine Filmmusik schreiben, damit in unser Wahrnehmungsfeld der Aspekt Montage eingeht. Aber schauen wir mal zurück in der Literatur. Das ist nämlich interessant. Was ist denn da eher? Die Montage oder der Film oder die Fotografie? Beim Meyerbeer zum Beispiel gibt es solche Montagegeschichten, gerade in Hugenotten. Die sind immer fantastisch. Im Grunde genommen entwickelt er musikalisch ein Montageprinzip und da gibt es den Film noch nicht. Aber zu der Zeit wird das entwickelt. Das geht da los.
00:08:06 MT: Was ist die Tanzszene im Don Giovanni anderes?
00:08:07 FG: Joa, auch die kann man schon… Ja, aber gut, man kann es selbst da. Also das heißt: Auf der Schiene des Theatralischen hat es den Punkt des Montierens natürlich schon sehr viel länger gegeben. Aber wie gesagt: Bei Mozart sind es sicher noch Einzelfälle, die es da gibt, natürlich. Aber bei Meyerbeer ist das natürlich ganz handfest.
00:08:30 MT: Meinen Sie vor der Schlittschuhgeschichte oder in der Rollschuhballszene?
00:08:34 FG: Nee, die ganze Verschwörungskiste in den Hugenotten.
00:08:38 MT: Ach bei den Hugenotten, Entschuldigung.
00:08:42 FG: Und das ist so eine grandiose Szene im 4. Akt! Das ist so unglaublich! Wenn man genau hinsieht, montiert er und es fällt bloß zunächst gar nicht auf. Der baut Module, im Grunde genommen, und die werden aneinandergereiht. Das ist also ein solches Wahnsinnsspiel! Da wird natürlich die ganze Story, also diese wirklich abstruse Verschwörungskiste…es wird ja wirklich ein Pogrom da verabredet und es geht wie eine ZK-Sitzung, Politbüro los. Und das aber 1836. Da greift man sich wirklich an den Kopf. Also wie gesagt: Dass im Laufe des 20. Jahrhunderts Montageprinzipien auftreten, ist, glaub ich, das normalste auf dieser Welt. Ich meine selbst Stockhausen macht es doch laufend. Es geht los bei Hymnen und bei solchen Geschichten.
00:09:30 MT: Und die Sachen, die immer wieder verändert werden.
00:09:31 FG: Und das dann später sowieso. Ich weiß nicht, was die ersten Sachen [waren], aber bei Hymnen ist es evident, da geht das los. Nicht bloß, weil es die Hymnen sind, sondern auch, was dann an Technik, an Materialien kommt. Ich hab‘ voriges Jahr in Irland ein ganz frühen Stockhausen dirigiert, was ich nicht kannte: Formel. Also der Titel kam ja später, aber nen frühes Orchesterstück. Das hieß anders: Studie oder so ähnlich. Er hat es nie aufgeführt und hat es erst 1978 aufführen lassen unter dem Titel Formel. Das habe ich voriges Jahr in Irland dirigiert und dadurch lernten wir uns kennen. Das ist manchmal ganz schön, wenn man dirigiert: Man lernt Stücke kennen, die man sonst gar nicht kennenlernt. Und da ist eine Mischung. Teilweise aus kompositorischer Unerfahrenheit heraus, ist das technisch fast wie eine Montage. Und die Versatzstücke, die sind manchmal messiaenisch. Da merkt man, dass er bei Messiaen war. Das ist sehr komisch, also den ganz frühen Stockhausen plötzlich so in messiaenischen Montageecken wandeln zu sehen. Das ist ganz komisch, das hat mich amüsiert. Aber wie gesagt, zurück zu Dessau: In Amerika hat er ja keine Filmmusik geschrieben, da hat er nur instrumentiert. Davon lebte er. Also er hatte nicht die Beziehung in Hollywood. So hat er mir das erzählt. Ich weiß nicht, ob Sie da genauere…
00:10:50 MT: Sie müssen sich mal angucken: Es gibt gedruckte Klavierauszüge, zum Beispiel House of Frankenstein. Er hat eine ganze Reihe von Gruselfilmen mit einem Co-Autor zusammen – er lässt sich nicht mehr sagen, ich habe schon wieder vergessen, wie er heißt – gemacht. Es sind hinreißende Inzidenzmusiken. Ganz, ganz wildes Orchestergetöne.
00:11:09 FG: Also er hat erzählt, er sei nie dazu gekommen, für Hollywood wirklich Filmmusik zu schreiben. Das sei ihm nicht gelungen. Aber, er hat orchestriert. Das hätte er gemacht. Und davon hat er gelebt, eine Zeit lang da in LA. Da sagte er: „Das Schönste war, wenn also wirklich dann so in der Vorlage des Komponisten dann ein einzelner Ton kam“, und dann sagte er: „Über die ganze Seite, eine Klarinette, ein Ton und wieder Dollars!“ Da sagte ich: „Wunderbar!“ Nein, das Montageprinzip in den Kompositionen, das läuft ja bei ihm, glaub ich, wirklich sehr unabhängig von Filmmusik. Nun könnte man sagen: In den Theatermusiken. Aber gerade der Lukullus, die zunächst wirklich erste größere zusammenhängende Theaterarbeit, die nicht Schauspielmusiken für Brecht sind, ist gar nicht so sehr Montage, komischerweise.
MT: Das fällt mir eigentlich nur bei den Orchestermusiken auf. Auch in der Kammermusik ist es überhaupt nicht so.
00:12:12 FG: So ist es nämlich. Das ist nämlich wirklich merkwürdigerweise, dort, wo man es gar nicht so erwarten sollte. Deswegen bin ich da sehr skeptisch, dass so in diesen direkten Bezug zur Filmmusik zu bringen. Also dass die Erfahrung „Film“ für jeden Menschen ne Rolle spielt, das kann man gar nicht wegstecken. Also selbst wenn man es wollte. Heute kommt noch Fernsehen dazu. Was das indirekt auslöst, weiß ich gar nicht. Also Zapping, das kann man im Film wiederum so nicht haben. Da ist von Montagen gar nichts mehr.
00:12:46 MT: Lassen Sie mich noch mal zurückgehen in der Zeit. Anfang der 60er-Jahre, ich glaube 1963, versucht die Akademie die ehemaligen Meisterschüler wieder rückzubinden an den Verein aus sehr verschiedenen Gründen. Einerseits um ihnen beim beruflichen Fortkommen wahrscheinlich zu helfen. Andererseits um ein bisschen zu gucken, was die da so machen. Und es wird so eine Art Juniorliga eingerichtet. Da gehen die Akten ein bisschen auseinander. Die tagt, glaube ich, nicht oft, die Juniorliga, und es gibt auch richtig Stunk.
00:13:21 FG: Ja, aber nicht innerhalb dieser Juniorliga. Da nicht. Den Stunk gibt es höchstens im Verband.
00:13:23 MT: Nein, da überhaupt nicht, sondern sie legen ein Programm vor, was sie machen wollen. Erzählen Sie was davon! Ich habe nichts rausgekriegt.
00:13:29 FG: Also mit dem Programm weiß ich gar nicht. Ging das so weit? Also eigentlich war es nichts, weil die Akademie hat das ermöglicht, was ich auch sehr nett fand, dass sich ehemalige Meisterschüler treffen und auf diese Weise wirklich nen Austausch pflegen. Also was machen die einzeln? Was ich von manchen wirklich gar nicht wusste. Dann wurden eben wirklich auch mal Partituren getauscht. Da konnte man mal sehen, was andere machen, weil es wurde ja nie aufgeführt, vieles. Dadurch lernten sich Leute kennen. Da tauchte eben Dittrich auf. Ich kannte den vorher gar nicht. Also alle möglichen Leute. Ob da jetzt Programme gemacht wurden, da kann ich mich eigentlich gar nicht mehr erinnern, also ganz so toll ist es nicht. Es war auch nicht so häufig, aber natürlich: Junge Leute haben schon ne Menge Ideen, da kommt ne Menge zusammen. Es kann schon sein, dass irgendjemand dann mal was aufgeschrieben hat.
00:14:15 MT: Schwaen wollte das, glaube ich, sehen als Sekretär, was sie da machen und hat sich was schreiben lassen.
00:14:20 FG: So wird es gewesen sein. Das kann sein. Also ich hab‘ es nicht gemacht, ich weiß nicht, wer es gemacht hat. Ich weiß nicht, ob der Schwaen derjenige war, der da die meiste Angst hatte. Von wem das dann ausging, weiß ich nicht. Jedenfalls, der Komponistenverband hat dann so gedrückt, wir haben es zerschlagen. So habe ich es gehört, so wurde es damals erzählt, dass der Komponistenverband das nicht wollte, dass in der Akademie so eine Parallelwelt aufgebaut wird.
00:14:48 MT: Das hat angeblich unruhige Stimmen aus den Musikhochschulen im Lande gegeben, die sagten: „Was machen die denn da? Wir wollen das auch machen.“
00:14:57 FG: Ja, das kann durchaus sein. Die Musikhochschulen waren zwiespältige Einrichtungen. Sie sind nie in dem Sinne nur Dreckseinrichtungen oder großartig, sondern sie sind immer sehr schizoid im Grunde genommen. Gerade an der Dresdner Hochschule gab es vorzügliche Instrumentallehrer und auch Gesangsleute, die hervorragend waren. Aber gerade in diesem ganzen Bereich Wissenschaft, Theorie, Geschichte, Komposition, da sah es eher dünn aus und da war die Ideologie am Zuge. Das war in den anderen Hochschulen im Grunde genauso. Dann gab es allmählich natürlich auch diese Parteimage, dass in manchen Punkten wahrscheinlich selbst die Instrumentallehrer nur eine Stelle kriegten aus irgendeiner Parteischiene heraus. Also da waren die durchwachsen, aber was die ganze Entwicklung des jeweils Neuen anging, waren sie alle zusammen. Die eine wie die andere: Reaktionäre, stockreaktionäre Bastionen. Das heißt: Musikhochschulen, Konservatorien sind immer Bewahrungs-Anstalten. Und wenn jetzt noch dazu kommt, dass eine Staatsideologie das nochmal verschärft, dann gibt es wirklich einen Synergieeffekt der besondersten Art, wo dann eben wirklich in dieser Hinsicht die Musikhochschulen der DDR was ganz Schreckliches waren. Im Westen sind die Musikhochschulen auch sehr unterschiedlich. Nicht jede ist wie jede. Andererseits gibt es auch da solche Defizite. Von der Struktur her ist es ja nicht anders als an den Osthochschulen: Da ist der Instrumentalunterricht, der Gesangsunterricht, da sind Klavierabteilungen – das ist nochmal ein Sonderfall für sich, also Klavierhochschulen kann man sagen. Die Komposition ist da irgendwo so, nicht das fünfte, sondern das siebte Rad am Wagen. Und was in der DDR ideologische Indoktrination war, ist im Westen ne pure Lehrstelle. Also wissenschaftliche Ästhetik gibt es gar nicht, weil das könnte ja Indoktrination, Ideologisierung sein. Und das ist natürlich ein Irrsinn, das sind Defizite. Da muss man immer sehen, dass man da bisschen dazwischensteuert.
00:17:11 MT: Wie geht ein junger Komponist mit einer offiziösen verordneten Poetik um?
00:17:20 FG: Ganz einfach. Es gibt eben – Pardon – Arschlöcher, die was verordnen und dann wird das gemacht. Und dann gibt es halt Leute, die sagen: „Was wird hier verordnet? Was taugt das?“, und wenn es nicht taugt, macht man es nicht. Man reibt sich natürlich auch daran, also man nimmt es unter Umständen ernst und sagt: „Was ist das für ein Quatsch?“ Das gab es auch, solche Phasen: Der Dessau wollte mich mal überreden, in die Partei einzutreten. Dann habe ich angefangen und habe mir auch Gründe moralischer Art [überlegt]. Nicht, wie es dann im Nachhinein war, sondern dass ich nicht reif für die Partei bin. Weil, die Partei entscheidet kollektiv darüber, was letzten Endes richtig und was falsch ist. Das kann ich nicht mit dem Komponieren vereinbaren, die Entscheidung darüber zu befinden. Die Verantwortung, was in einem Takt steht, ist meine, und die kann ich nicht delegieren. Ich kann so nicht in die Partei eintreten. Das geht nicht. Im Nachhinein klingt das fast seltsam. Das war auch gar nicht als Ausrede, das war ganz ernst so gemeint. Irgendwann hab‘ ich den Dessau – hinterher hab‘ ich mich richtig geärgert, wie gesagt, der war ja Jahrzehnte älter als ich, über vier Jahrzehnte –, als er da mal wieder kam, ihn richtig in seinem Haus – auch noch in Zeuthen – angebrüllt: „Ich will das nicht!“ Da war es für mich entschieden. Das ist dann wiederum etwas, was grandios bei Dessau war: Da hatte er eigentlich einen unglaublichen Takt. Der hat nie wieder auch nur mit einer Silbe es auch nur erwähnt. Da konnte man sich bei Dessau drauf verlassen und das ist einfach wirklich grandios gewesen. Erst machte man mal so einen Versuch und wenn das dann entschieden ist: „nein!“, dann gab es nicht etwa irgendwie so ne Verletztheit oder: „Dann rede ich nicht mehr mit ihm.“ Nichts! Sondern dann war das entschieden und war vorbei und dann hielt er sich auch dran und das war wunderbar.
00:19:08 MT: Sie haben Sachen, die wurden nicht aufgeführt. Wie hat ein junger Komponist in den 60er-Jahren gelebt? Also Brede hat für’s Theater gearbeitet…
00:19:15 FG: Vom Skatspiel mit Brede im Deutschen Theater.
00:19:19 MT: Hat er so schlecht gespielt?
00:19:20 FG: Nein, wir waren gut. Wir waren die Kassierer. Die Schauspieler wurden da abgezockt. Also es ist so: Das muss man schon dazu wissen, dass also der nackte Lebensunterhalt in der DDR sehr billig war. Man konnte mit sehr, sehr wenig Geld leben. Ich brauchte Geld. Also Lebensmittel interessierten einen ja gar nicht – das Nötigste. Ansonsten musste Geld her für Zigaretten und Kaffee. Das musste irgendwie rankommen, und das war natürlich schwierig, das ist wohl wahr. Aber, es gab dann diese Schiene zu DDR-Zeiten, die bis zuletzt durchgefahren wurde – ich hatte es zuletzt nicht mehr nötig, deswegen habe ich es auch nicht mehr gemacht: So Gebrauchsmusik, also Theatermusik. Brede hat es ja dann auch hauptberuflich getan. Ich bin immer von Theater zu Theater geritten: Hier mal was gemacht, dort mal was gemacht, meist schlecht bezahlt, dann mal, wenn man Glück hatte, ein bisschen besser… Oder am Berliner Ensemble: Das war wunderbar! Da hatte nämlich jemand gemeint: „Das sei ideologisch problematisch“, und dann wurde das ausgesetzt und ich kriegte aber ein halbes Jahr Monat für Monat weiter Geld, musste gar nichts tun. Das war natürlich grandios, das ist mir im Kapitalismus noch nicht gelungen.
MT: War das der Siegmund-Schultze? Die Sache?
00:20:33 FG: Nee, nee, das war Sieben gegen Theben. Das hatte mit Musik nichts zu tun. Intern hat da irgendjemand gesagt, das sei ideologisch nicht lösbar, gerade Langhoff. Dann schaltete sich irgendwie die Kulturabteilung beim ZK, also die schlimmste Behörde, die es gab, ein. Dann lag das eben ein halbes Jahr auf Eis, aber ich wurde monatlich bezahlt. Das war also fantastisch. Nicht viel, also 600 Mark pro Monat, aber das war für mich wahnsinnig viel Geld 1968. Und das ein halbes Jahr, also nur für ab und zu trifft man sich. Sehr schön, war wunderbar. Später kam dann gegen Ende der 60er-Jahre Hörspielmusik beim Rundfunk dazu. Das wurde extra bezahlt und das war insofern ne ganz gute Schule. Es ist fast ein bisschen schade, dass es das für die jungen Komponisten heute so kaum noch gibt. Weil: Man musste dann sehr schnell liefern. Das ging ja so: „Herr Goldmann, hätten Sie Lust, ein Hörspiel zu machen?“ Dann war die erste Frage: „Wann war die Sendung?“ „Achso, gestern. Dann kann ich es morgen machen.“ Also man musste wahnsinnig schnell arbeiten lernen. Ist richtig Brotarbeiten.
00:22:04 MT: Ist das ein Stück DDR, dieses auf den Punkt kommen, was bei Dessau ein tagespolitisches Komponieren ist: Heute die Nachricht in der Zeitung gelesen, morgen den Text dazu, übermorgen dirigiert es Kegel, was ja Brede dann auch macht in einer sehr anverwandelten Weise?
00:22:19 FG: Brede hat’s gemacht, ja. Das hatte manchmal auch eine unfreiwillige Komik, auch bei Brede. Natürlich ist das komisch, wenn das nd…
00:22:31 MT: Rhau an Rau und ähnliches.
00:22:32 FG: Lauter solchen Quatsch. Aber er komponiert das dann für irgendeinen großen Chor, also wahnsinnig kompliziert, was nur ein Berufschor erster Klasse leisten kann. Natürlich leistet es keiner, weil eh die sich überhaupt entschließen, es zu machen, ist die Nachricht sowas von vorbei. Da gab es natürlich auch groteske Geschichten. Nee, das Auf-den-Punkt-bringen nenne ich einfach erstmal handwerklich, dass man sowas auch mal lernt. Das ging ja dann weiter, beim Rundfunk beispielsweise: Aha, man hat ein paar mehr Musiker, man muss ein bisschen organisieren – was nie meine starke Seite war. Dann muss man Leute finden – ich hab‘ sie dann auch gefunden –, die das Organisieren für einen übernehmen. Aha, jetzt will der Regisseur vielleicht haben: Ne Besetzung, 7, 8 Leute. Moment, da muss man das ja dirigieren. Da kann man nicht noch einen Dirigenten engagieren, das wird ja nicht bezahlt, also muss man es selber machen. Das schult, das schult! Das würde ich so manchen angehenden jungen Komponisten schon empfehlen. Das, was wir auf der Hochschule nicht gelernt haben, das haben wir dann über solche praktischen Dinge gelernt. Da hab‘ ich ne Menge gelernt. Sowohl das Schreiben als auch das Drumherum. Also: Wie schwierig ist es, Musik zu machen? Wie schwierig ist es, dass es zustande kommt? Natürlich hat man dann manches Mal auch Sachen ausprobiert für ganz andere Sachen, die einem eigentlich wichtiger waren, aber wo man keine Chance hatte, dass es aufgeführt wird. Auch das war natürlich dann wichtig. Andererseits, es ist ja so: Ein junger Komponist muss natürlich die Möglichkeit haben, Aufführung erleben zu können, und seien sie auch nicht die allerbeste Qualität. Aber überhaupt zu kontrollieren, was da denn rauskommt mit dem, was er macht. Also man kann nicht ewig nur Trockenschwimmen. Also ich meine, da tut sich ja an den Hochschulen einiges. Es ist ja nicht so, dass sie völlig unbeleckt rausgehen. Es gibt schon Möglichkeiten. Wir hätten es uns manchmal besser vorgestellt, aber zu DDR-Zeiten da in der Hochschule hatten wir gar keine. Die Einzige, die ich in Dresden dann mal hatte, die hat dann auch noch mein Lehrer unterlaufen, angeblich um mich zu schützen. „Ich würde da in offene Messer laufen, wenn die Aufführung stattfindet.“ Ich glaube, es war übertriebene Sorge. Ich glaube, er hatte Angst um sich. Da war ich dann auch sehr verärgert. Denn das fehlte einem, das musste man sich dann über Gebrauchsmusik nacharbeiten. In der Schule hat man nie genug gelernt. Das interessiert die ja nicht. Und Aufführungsmöglichkeiten hatte man nicht. Das ist mühsam, es verzögert aber auch. Es ist dann ne zweischneidige Angelegenheit. Andererseits ist es auch so, dass man ewig nur dem Tag nachrennt, gerade fürs eigentliche Komponieren das nun gerade nicht macht, was im Westen oft viel, viel härter zugeht. Wo ist der Trend? Was ist denn gerade als Trend da, wo manche Leute also hinterher hecheln? Wo man dann sagt: „Ticken die noch richtig?“ Im Grunde ist das alles nur Spielwiese. Was soll das? Wenn jetzt die öffentlichen Gelder nachlassen, dann wird so manche Spielwiese kaputt gehen. Was machen die Leute dann?
MT: Vielleicht gehen wir rückwärts, gehen zur Gebrauchsmusik zurück?
00:25:35 FG: Ja, das ist auch Quatsch. Aber ich denke, da sind ein paar Umbrüche. Schauen Sie sich mal bestimmte andere Länder an! Da gibt es zwar auch staatliche Förderung, aber in Skandinavien (in Finnland haben die mehr Förderung als in Schweden): Es sind ganz andere Bedingungen. Und wie leben da die Leute? Und einfach hier: „Ich werde mal Komponist. Freischaffend“, geht so einfach nicht. Das kann man machen, aber wovon lebt man dann? Da muss man ja was anderes suchen. Das waren Sachen, da legte der Dessau schon nen Wert drauf. Ja klar, er hat sich mal durchschlagen müssen. Er hat ja mal auf einer Hühnerfarm gearbeitet, um so nen paar Brötchen zu verdienen. Nein, ich will doch um Gottes Willen nicht jetzt sagen: „Die jungen Leute heute sind so verwöhnt. Die sollen mal auf einer Hühnerfarm arbeiten.“ So nen Quatsch! Aber es gibt schon so ne Sache bei Hegel: Da ist eben das Bewusstsein von Nöten als eine Voraussetzung von Kunst. Da haben wir genug erlebt in unserem Leben. Nein, ich kann nicht sagen: „Junge Generation, ich wünsch euch mal ein paar mehr Erfahrungen von Nöten.“ Die kommen von ganz alleine. Das ist ein sehr buntes deutsches Phänomen: Es geht uns gut und es wird uns immer besser gehen. Und das zerbricht langsam. Also da ist die DDR selbstverständlich dran schuld, das ist ganz klar, das ist auch so. Nein, nein, natürlich, wie der Müller sagt: „Die Mauer hat den Westen geschützt.“ Die Firma konnte gesundschrumpfen. Und das ist vorbei.
00:27:07 MT: Mir fallen noch zwei Sachen ein, dann gebe ich auch langsam Ruhe. Die reizenden Bilder: Dessau und Goldmann dirigieren Essay.
00:27:19 FG: Dessau dirigierte, ich nicht.
00:27:22 MT: Wie sind Sie zum Dirigieren gekommen?
00:27:24 FG: Aus Not, weil das machte ja niemand. Also musste man es selber machen.
MT: War Dessau ein guter Dirigent?
00:27:30 FG: Nicht so sehr gut, nein. Er war ja mal als Kapellmeister tätig, immerhin. Klemperer war sein Chef und Walter. Also das war nicht gerade irgendwer. Aber er hatte dann auch keine Praxis mehr und manches Mal war er rein im technischen. Da machte er sich auch wie so ein Spaß draus. Manches konnte auch sehr gut gehen, aber manches, was er dann nicht hatte, war auch nicht so toll. Aber ich fand das schon enorm. Da setzte er sich ein. Dirigierte von mir Essay. Essay I war zweimal verboten worden vom Rundfunk in Leipzig. Also was heißt verboten? Nein, es waren wieder mal so die üblichen Weisungen verboten. Die Wirkung war wie ein Verbot, aber offiziell war es kein Verbot.
00:28:15 MT: Da wurde, glaub ich, ganz so im Hintenrum über Kosten…
00:28:19 FG: So dumm, ganz saublödes Argument! Dann gab es der Kegel auf und der Dessau setzte an. Dann erzählte er mir auch ne wunderbare Story, weil im selben Konzert spielte ein Konzertmeister bei der Staatsoper in Leipzig das Concerto funebre von Hartmann. Und die Eroica wollte er unbedingt dirigieren. Das war sein eigentlicher Wunsch: Er wollte die Eroica dirigieren. Dann erzählte er mir: Eigentlich kamen die vom Rundfunk zu ihm und wollten den Goldmann rausschmeißen. Das war DDR! Mit solchen Begründungen: „Es kann nicht in einem Konzert ein BRD- und ein DDR-Komponist gleichzeitig aufgeführt werden, das geht nicht. Also Hartmann ist nen BRD-Komponist und da die Verpflichtung des Solisten da ist, können sie Hartmann nicht rausschmeißen, dann muss der Goldmann weg. Das ist so eine Rundfunkauflage.“ Und da sagte Dessau: „Ja gut, selbstverständlich! Dann suchen Sie sich einen anderen Dirigenten!“ Da wollten sie ihn aber als Dirigenten haben. Diese Regel hat es beim Rundfunk nie gegeben. Natürlich kamen Hartmann und Goldmann im selben Konzert. Nur der Dessau sagte halt: „Ich dirigiere das Programm so wie es ist oder ich dirigiere nicht.“ Und da wollten Sie ihn eben doch als Dirigenten haben, also gab es plötzlich diese Auflage nicht. Das gehörte auch zu den Qualitäten von Dessau. Das habe ich dann auch ein paar Mal noch genutzt: Einfach stur bleiben! Biennale: „Ich dirigiere nur, wenn ich die Programme bestimmen darf. Ich lasse mir nicht hier von irgendjemandem einreden und wenn da jemand dagegen antwortet, sage ich sofort ab.“ Die versuchen es, aber nicht lange. Das hätten viele Leute machen können. Das haben zu wenig gemacht. Das konnte nicht jeder machen, nicht jeder Kleine, etwa ein Provinzdirigent – das ist gar nicht abwertend –, der meinetwegen wirklich dort anfängt und dann ist die Stasi drauf. Aber es gab genügend Leute, die einen großen Namen hatten und die das alle machen hätten können. Die meisten haben es nicht gemacht.
00:30:06 MT: Zweite Form von künstlerischer Selbstverwaltung: Gruppe Neue Musik Hanns Eisler. Sagen Sie noch zwei Sätze dazu!
00:30:14 FG: Das fand ich eine ganz enorme Geschichte. So 1970 fing das wohl an. Die treibenden Pole waren der Glaetzner und der Schenker, die aus dem Rundfunksinfonieorchester Leipzig heraus diese Gruppe bildeten. Die stabilisierte sich dann eben mit der bekannten Besetzung: Oboe, Englischhorn, Posaune, Schlagzeug, Klavier, Bratsche, Cello, Bass. Da war mal ne Zeit lang noch ne Geige dabei, die hatte dann nen Antrag auf Ausreise aus der DDR gestellt und durfte dann nicht mehr mitspielen. Dann haben sie nie wieder einen Geiger gefunden, also blieb es dann dabei, aber die meisten Mitglieder waren von Anfang an da. Die Bratsche hatte nochmal gewechselt und Schlagzeug. Die haben dann wirklich über Jahre sehr viele Dinge gemacht, die eben sonst nicht gingen. Und sie wurden angegiftet. Es gab also lauter Ärger, immer wieder.
Und auch da hat sich Dessau dann mitunter engagiert. Er hat auch diese Shakespeare-Geschichte für sie gemacht und der Fritz Schenker hat dann Guernica und diese Intermezzi instrumentiert für die Gruppe. Das war das Erste, was ich dort bei denen dirigiert habe. Oh Gott, ich wusste erst gar nicht, wie ich das dirigieren soll. Das war ganz schön lang. Aber es tröstete mich, dass der Fritz Schenker sagte: „Was hast du denn da in die Posaune geschrieben? Das musst du ja spielen. Oh Gott, das muss ich ja üben!“ Wunderbar! Also das waren wirklich richtig schöne Sachen. Das waren natürlich nicht immer alles Top-Konzerte. Wo gibt's das schon? Aber es waren eben im Laufe der Jahre auch richtig schöne Sachen dabei und sie haben wirklich eine Menge gemacht, was sonst eben in der DDR nicht ging bis hin zu Cage Klavierkonzert. Wir haben Schnebel geholt. Die Glossolalie haben die gemacht. Also alles Mögliche. Das war ne sehr verdienstvolle Angelegenheit. Der Witz ist, dass die dann – wann war das? – damals 1996 ich sag mal so nen Versuch einer Reanimation gemacht haben. Da hat mir der Glaetzner gesagt, ich soll ein Konzert dirigieren. So: „Gerne!“ Und wie kam's dann: Ich musste alle Sechse dirigieren. Das fand ich dann schon doch ein bisschen lästig zu ganz schlechten Honorarbedingungen. Es ist einfach so: Wenn die Leute dann so um die 60 herum sind (eine war schon über 60 und die anderen nicht weit weg davon), kann man das dann nicht einfach so reanimieren. Das funktioniert nicht, selbst wenn die Einzelnen noch einen hohen Standard haben. Aber das ist dann glaube ich nicht mehr zu machen. Das ist typisch: Solche Gruppen sind junge Gruppen und die sind logischerweise eben dann auch nur eine begrenzte Frist da und dann kommt eine andere junge Gruppe. Es ist was anderes mit einem Orchester, aber auch Orchester haben diese Fluktuation. Dann schauen sie sich an, hier Berliner Philharmoniker. Die haben sich derart verjüngt, die sind heute ein völlig anderes Orchester als vor 20 Jahren. Und sie spielen auch anders und sind offener. Bitte, es geht! Es gibt Orchester, bei denen bewegt sich gar nichts. Aber bei solchen Gruppen, ist das schwierig. Die Frage wird doch dann selbst bei so Gruppen wie Ensemble Modern auftauchen. Beim Ensemble intercontemporain ist es was anderes, weil Ensemble Modern ist zwar eine Professionalisierung, die eben nicht an diesen Jugendstatus gebunden ist, aber trotzdem mit der Selbstverwaltung als Gruppe, bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich auf lange Zeit noch gut geht. Dann wird’s neue Gruppen geben.
44 MT: Letzte Frage: DDR als sehr zentralistisches Ding erinnert mich teilweise mehr an Frankreich als an die Bundesrepublik. Zu welchen Anteilen war Neue Musik in der DDR ein Berlin-Phänomen?
00:34:02 FG: Lange Zeit gar nicht. In den späten 50er-Jahren gab es ausgerechnet in Dresden ein paar Sachen, dann verlagerte es sich nach Leipzig. Leipzig war dann lange Zeit wirklich das Zentrum. Es ging damit los, dass der Kegel als Chef des Rundfunksinfonieorchesters mit einem seiner ersten Konzerte Schönbergs Überlebender von Warschau machte. 1963 machte er Epitaffio per Federico García Lorca von Nono, und Dessau immer. Das war Pflicht, also Dessau war so sein Lieblingskomponist. Der wurde immer uraufgeführt in Leipzig. Und dann nach und nach kamen die Jüngeren rein, wobei Kegel dann zu den Jungen auch schon nicht mehr so viel [Kontakt] hatte, aber der Schenker saß im eigenen Orchester, okay. Von mir hat er die 1. Symphonie gemacht. Einiges dann schon. Irgendwann hatte dann Kegel keine Lust mehr und das war ein bisschen das Ärgerliche, dass die Nachfolger es nicht mehr gemacht haben. Weder der Hauschild, der dann auch abgehauen ist, noch der Pommer, der dann überhaupt nichts mehr gemacht hatte. Das war katastrophal. Dafür war eben dann die Leipziger Gruppe da und später gab es dann an der Hochschule die Gruppe Junge Musik. Da tauchten Leute wie Schleiermacher auf, und das sind ja heute noch die Aktivposten. Da ist so eine Kontinuität in Leipzig. Und Berlin war lange Zeit wirklich in Sachen Neue Musik, also Ost-Berlin jetzt, völlig tote Hose. Da ging fast gar nichts. Also gut, dass die Staatsoper ne Dessau-Oper machte… Erst in den 70er-Jahren, oder genauer gesagt späte 60er mit der Gründung der Kammermusik-Gespräche in der Komischen Oper. Und die wurden angegiftet! Aber da lebte Felsenstein noch und Felsenstein war ein Staat im Staat. Da brauchten die gar nicht so eine Angst haben. Der Matthus hatte immer Angst, das war so furchtbar. Wenn Felsenstein gesagt hat: „Dazu hab‘ ich ‚ja‘ gesagt“, dann konnten die kommen und niesen. Wozu Felsenstein „Ja“ gesagt hatte, das fand statt, das war gesetzt. Da braucht man gar keine Angst haben. Dann hat der Frank Steiner da mitgemischt…da kam dann in der Komischen Oper einiges. Das war dann späte 60er-Jahre. Und in den 70er-Jahren gab es immer mal wieder so vereinzelte Anlässe. Es gab ein Ensemble – die waren aber zunächst gar nicht für Neue Musik – die Bläservereinigung in Berlin. Aber, weil es eben nicht viel alte Literatur gab, brauchten sie neue Sachen. Und die waren dann interessiert! Die machten dann Dittrich, Goldmann, was weiß ich was…Das war dann eine Berliner Truppe. Und trotzdem war es schwer. Es gab dann die Biennale vom Verband, und die war zunächst stilistisch einfach katastrophal reaktionär, also wirklich übertraditionalistisch. Das war grauenvoll. Es war bloß trotzdem ein Treffpunkt. Und allmählich kam dann doch nen bisschen mehr in die Szene rein. Die Komische Oper lief immer weiter. Dann haben die teilweise an der Staatsoper versucht, sowas ähnliches im Apollosaal aufzubauen, aber das funktionierte nicht richtig. Später – und das war auch wieder grotesk – ausgerechnet in dem Stasi verseuchten Palast der Republik gab es dieses Theater im Palast. Die machten dann Sachen. Es war eigentlich akustisch bescheuert, dieses Theater, es war richtig schlimm, aber da fanden dann diese Dessautage alle zwei Jahre statt. Da fanden teilweise die verrücktesten Sachen statt – ausgerechnet dort! Also ich habe mich amüsiert! Irgendwo hasste man das Ding eigentlich, aber: Mensch, allein dieses Theater im Palast hat manches Mal mehr Neue-Musik-Veranstaltungen gemacht, als in der ganzen DDR sonst üblich waren. Solche Verschiebungen waren aber dann wirklich 80er-Jahre. Das gibt es aber im Westen auch immer wieder: Die Zentren bleiben nicht, Zentren wandern. Gerade auch in Westberlin. Da war ne Zeit lang hier völlig tote Hose mit Neuer Musik. Oder dass da Sachen sind, wie dass ein Herr Ligeti in Westberlin ist und sich um ne Stelle bewirbt an der HdK, und gar nicht eingeladen wird. Das sind solche grandiosen Traditionen hier in Westberlin, also das ist schon ein starkes Stück. Das hat sich dann wieder gewandelt. Dann gab es plötzlich wieder Aktivitäten und dann ist Berlin fast schon wieder ein richtiges Zentrum, dann mal wieder nicht. Also es wechselt, okay. Nein, der Zentralismus der DDR war es witzigerweise künstlerisch so nicht. Das Theater: Da war Berlin immer der Platz. Das Theater war der Magnetpunkt, um den sich sehr viel herum gruppierte. Ein Mann wie der Achim Freyer war eben immer Theatermann. Eigentlich wollte er Maler sein. Da hatte er aber eben keine Chancen in der DDR, also musste er über das Theater was machen. Dann war der Grund, er haut in den Westen ab, weil er es satt hat, immer nur Bühnenbilder zu machen. Und was hat er im Westen gemacht? Er hatte ne Bühnenbild-Professur, okay. Und dann hat er noch Regie geführt. Nein, das ist ganz lustig… Auch Achim Freier hat man eben über Dessau kennengelernt. Der machte für die Berghaus in Dresden die Bühnenbilder. So war’s! So habe ich den Freyer kennengelernt. Um 1960 rum, natürlich. Und da gab’s herrliche Bilder, wo der Dessau Essay dirigiert. Da kam der Freyer noch nach Leipzig und da gibt es schöne Bilder, die ich irgendwann mal gefunden habe mit Freyer, meiner Frau, Dessau und mir. Das war richtig lustig, ja.
Und wie gesagt, das waren so diese Mischungen: Also die Schriftsteller, die Regisseure, was weiß ich was… Und selbst manche Wissenschaftler gingen ja dann gerne ins Theater. Also nicht nur in die Vorstellung, sondern in die entsprechenden Kantinen. Damit waren es wirklich Horizonte…das ist leider heute fast nicht mehr so. Gehen Sie mal hier ins Theater: Oh je. Also gut, ich war jetzt lange nicht. Schaubühne soll jetzt teilweise wieder ganz interessant sein, aber was ist denn im Deutschen Theater? Ach Gottchen. BE? Ja manchmal. Diese Zentrale aber, das hat es heute nicht.
MT: Die Zentralen sind jetzt woanders. Die sind gerade nicht in den Konzertsälen und in den Theaterhäusern.
00:39:56 FG: Das Problem ist, dass es überhaupt keine Zentralen mehr gibt. Also ich bin ja völlig einverstanden damit, dass man gegen Zentralen versucht vorzugehen, wenn die so selbstgefällig und unbeweglich werden. Also Hierarchien ausbaut, die keinerlei Beweglichkeit mehr haben. Da muss man auch was gegen ne Zentrale unternehmen. Aber das ist ja eher so nen bundesrepublikanischer Trend: Um Gottes Willen, was nach Zentrale riecht, ist verdächtig. Es ist nen Zentralkomitee. Es gibt keine Zentralen mehr. Und da ist eine Flachheit, das sind nicht flache Hierarchien, sondern es ist Leerheit eigentlich. Das halte ich schon eher für bedenklich. Interessant ist ja, wenn der Lachenmann in den Musikkonzepten eben auch für die Spielwiesen spricht, die Höhle des Löwen dann für ihn aber dann interessanterweise die Konzertsäle sind. Dort bewährt es sich eigentlich erst. Da ist natürlich was dran. Das ist ein ganz unguter Trend in der bundesrepublikanischen Entwicklung, der auch, glaube ich, sehr spezifisch bundesrepublikanisch ist.
Transkription: Eva Hermerschmidt
Anmerkungen
- Vgl. Lars Klingberg: „Kontrollinstanzen im Musikleben der DDR“, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa 21 (2019), 49–83. In dem Aufsatz wird das Stasi-Dokument veröffentlicht, in dem es heißt: „Ein anderes Beispiel ist die Veröffentlichung des Buches von Ernst Hermann Meyer, wo man heute sich noch wenig mokiert darüber, daß Goldmann mit einem Foto mit Meyer in diesem Buch, vor ihm – wie sie sagen – sozusagen mit der Fingerspitze anspießt. Ich habe mal gefragt, was das eigentlich zu bedeuten hat – dieses große Foto in dem Buch – die Fingerspitze. Da sagt er: ‚Dort habe ich ihn aufgespießt. Denn er ist der Schuldige, daß unsere Kulturentwicklung über Jahre hinweg gewissermaßen nichts geleistet hat‘, weil sie sich ja empfinden als die eigentlichen Initiatoren von Neuem.“ (Aussagen Gerd Schönfelders während des am 24. Mai 1984 stattgefundenen ‚Treffs‘ mit seinem MfS-Führungsoffizier, Oberleutnant Greif; Anlage zum Treffbericht Greifs vom 26. Mai 1984; Quelle: Bundesarchiv, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 3242/90, Bl. 136–140).
- Karl Laux: Joseph Haas. Portrait eines Künstlers. Mainz 1931. Ders.: Joseph Haas, Berlin 1954; überarbeitete Fassung: Joseph Haas. Leben und Werk (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8358/86), Leipzig [1958].