Musikgesellschaften
Zusammenfassung
Es handelt sich im Wesentlichen um folgende Gesellschaften:
Neue Bachgesellschaft (gegründet 1900, Sitz Leipzig)
Gesellschaft für Musikforschung (gegründet 1946, Sitz Kassel; zeitweise mit einer Zweiggeschäftsstelle in Leipzig)
Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft (gegründet 1927, Sitz Basel)
Internationale Heinrich Schütz-Gesellschaft (bis 1963 Neue Schütz-Gesellschaft; gegründet 1930, Sitz zunächst Dresden, dann Kassel; zeitweise mit einer Zweiggeschäftsstelle in Leipzig)
Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft (gegründet 1955, Sitz Halle/Saale)
Robert-Schumann-Gesellschaft (gegründet 1957, Sitz Zwickau)
Arbeitskreis Georg Philipp Telemann (gegründet 1961 in Magdeburg im Rahmen des Kulturbundes)
Musikrat der DDR (gegründet 1962, seit 1966 Mitglied im 1949 in Paris gegründeten International Music Council)
International Council for Traditional Music (gegründet 1947 in London als International Folk Music Council, umbenannt 1981)
Association Internationale des Bibliothèques, Archives et Centres de Documentation Musicaux (seit 1959 existierte eine DDR-Ländergruppe)
Debussy-Kreis (1959 als DDR-Pendant zum Pariser Beethoven Cercle gegründet)
Chopin-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik (1962 in Leipzig gegründet)
Darüber hinaus hatten verschiedene internationale Gesellschaften Mitglieder oder Sympathisanten in der DDR. So wurde Eberhardt Klemm vom Gründungspräsidenten der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, Erwin Ratz, als eine Art DDR-Vertretung dieser Gesellschaft angesehen.So implizit im Briefwechsel des Mahler-Forschers Peter Riethus mit Eberhardt Klemm; Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Eberhardt-Klemm-Archiv. Siehe auch: Ossian an Béla: Über Benjamin und Bloch. Aus dem Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Eberhardt und Erika Klemm, hrsg. von Erdmut Wizisla, in: Johnson-Jahrbuch 11 (2004), 11–28. Eine ähnliche Aufgabe fiel ab 1978 dem Weimarer Dirigenten Wolfgang Helmuth Koch für die in München ansässige Hans Pfitzner-Gesellschaft zu.Franz Chlum (Staatliches Sinfonieorchester Saalfeld): Brief an R. Rode (Ministerium für Kultur, Abteilung Musik) vom 21. 3. 1985, Bundesarchiv, DR 1/5116.
Die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg
Obgleich in den Landesverfassungen der SBZ von 1947 (mit Ausnahme Thüringens) die Koalitionsfreiheit gewährt wurde, waren SMAD und SED von Anfang an darum bemüht, die Selbständigkeit von Vereinigungen zu verhindern. Angestrebt wurden monopolistische und zentralistische Vereinigungen, die von der SMAD beziehungsweise SED besser kontrolliert werden konnten. Eine von der Deutschen Verwaltung des Innern initiierte und gemeinsam mit der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung beschlossene Verordnung verbot im Januar 1949 die freie Betätigung künstlerischer Vereinigungen, indem sie deren Anschluss an die damals bereits nahezu vollständig von der SED kontrollierten sogenannten „demokratischen Massenorganisationen“ vorschrieb.Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen. Vom 12. Januar 1949, in: Zentralverordnungsblatt. Amtliches Organ der Deutschen Wirtschaftskommission und ihrer Hauptverwaltungen sowie der Deutschen Verwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung, Berlin, Jg. 1949, Teil I, Nr. 7 (10. 2. 1949), 67 f.; wiederabgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 179–181. Davon betroffen waren von den musikalischen Gesellschaften die Neue Bachgesellschaft und die Hallische Händel-Gesellschaft, die beide ihre Selbständigkeit verloren und sich der Kontrolle des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands unterwerfen mussten. Aber auch der 1951 gegründete Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler durfte zunächst nur im Rahmen dieser 1945 maßgeblich von Johannes R. Becher gegründeten Intellektuellenvereinigung tätig werden. Ebenso wie der Komponistenverband erlangte die Bachgesellschaft ihre Selbständigkeit wenige Jahre später wieder zurück, während die Hallische Händel-Gesellschaft auch fortan nur noch als Arbeitskreis im Kulturbund existierte.
In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre entdeckte der Partei- und Staatsapparat sein Interesse an gesamtdeutschen und internationalen Gesellschaften. Dies stand im Zusammenhang mit dem wachsenden Interesse der SED an einer internationalen Anerkennung der DDR als souveränen Staat. Für dieses Ziel versuchten Partei und Staat nunmehr verstärkt nichtstaatliche Organisationen, darunter auch musikalische Gesellschaften, zu instrumentalisieren. Man drängte die Gesellschaften dazu, selbständige, vom Westen unabhängige Leitungsgremien sowie gleichberechtigte Vertretungen der DDR in den Leitungsgremien und separate Geschäftsstellen zu bilden. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 verstärkte die DDR ihre diesbezüglichen Bemühungen. Im Zeichen der Wende in der Deutschlandpolitik der SED nach der Bildung der Großen Koalition in Bonn 1966 wurde dann am 5. April 1967 vom Sekretariat des ZK der SED beschlossen, „daß es für die Existenz und Tätigkeit sogenannter gesamtdeutscher Gesellschaften und für die Mitgliedschaft von DDR-Bürgern in westdeutschen Gesellschaften keine Grundlage mehr gibt“.Protokoll Nr. 24/67 der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 5. 4. 1967, Anlage Nr. 31, SAPMO, DY 30/56949, Bl. 130 f.; Auszug abgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 52. Davon war u.a. die Gesellschaft für Musikforschung betroffen, die fortan ihre Tätigkeit in der DDR einstellen und ihre dortige Zweiggeschäftsstelle auflösen musste. Dass nicht auch die Internationale Heinrich-Schütz-Gesellschaft (bis 1963 Neue Schütz-Gesellschaft) davon betroffen war, erklärt sich aus dem Umstand, dass diese bereits 1964 ihre bisherige gesamtdeutsche Struktur aufgegeben und ihre Leipziger Zweiggeschäftsstelle aufgelöst hatte
Neue Bachgesellschaft
Die Neue Bachgesellschaft (NBG) wurde 1900 gegründet, nachdem ihre 1850 gegründete Vorgängerin, die Bachgesellschaft, ihren Vereinzweck, die Herausgabe einer Bach-Gesamtausgabe, erfüllt hatte. Die Neue Bachgesellschaft sah nunmehr ihre Aufgabe darin, Bach „eine belebende Macht im deutschen Volke und in den ernster deutscher Musik zugängigen Ländern zu schaffen“, wie es in der Satzung hieß.Neue Bachgesellschaft, Leipzig [1910], 21.
Der Zweite Weltkrieg brachte die Arbeit der Neuen Bachgesellschaft vorübergehend gänzlich zum Erliegen. Die Geschäftsstelle in Leipzig war durch einen Bombenangriff am 4. Dezember 1943 zerstört worden, wobei alle Unterlagen vernichtet wurden. Die Gesellschaft reaktivierte sich erst wieder, als es darum ging, das 1950 anstehende Bach-Jubiläum vorzubereiten. Auf ihrer ersten Zusammenkunft nach dem Krieg, am 10. August 1949, übergab ihr ‚Notvorsitzender‘, Thomaskantor Karl Straube, wenige Monate vor seinem Tod den Vorsitz an den Theologen Christhard Mahrenholz. Nachdem die Deutsche Zentralverwaltung des Innern der Sowjetischen Besatzungszone die Selbständigkeit gesellschaftlicher Organisationen per VerordnungVerordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen. Vom 12. Januar 1949, in: Zentralverordnungsblatt. Amtliches Organ der Deutschen Wirtschaftskommission und ihrer Hauptverwaltungen sowie der Deutschen Verwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung, Berlin, Jg. 1949, Teil I, Nr. 7 (10. 2. 1949), 67 f.; wiederabgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 179–181. aufgehoben und in einer ErgänzungsverordnungVerordnung zur Ergänzung der Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen. Vom 19. Juli 1949, in: Zentralverordnungsblatt. Amtliches Organ der Deutschen Wirtschaftskommission und ihrer Hauptverwaltungen sowie der Deutschen Verwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung, Berlin, Jg. 1949, Teil I, Nr. 78 (15. 9. 1949), 696; wiederabgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 183 f. der Neuen Bachgesellschaft auferlegt hatte, sich dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands anzuschließen, erfolgte am 4. Juli 1949 in Berlin die faktische Neugründung der Gesellschaft unter dem Dach des Kulturbundes. Die Interessen dieser Vereinigung vertrat der Kulturbund-Funktionär Karl Kneschke.
In die Vorbereitungen zur ersten bedeutenden von der Gesellschaft ausgerichteten Veranstaltung, ein für 1950 anlässlich des 200. Todestages Bachs vorgesehenes großes Bachfest in Leipzig, schalteten sich jedoch bald Staat und Partei ein, die der Gesellschaft die Verantwortlichkeit weitgehend aus der Hand nahmen und das Fest zu einer Veranstaltung der staatlichen Repräsentation machten.
Die Zusammenarbeit von Ost und West in der Neuen Bachgesellschaft funktionierte in den folgenden Jahren so lange einigermaßen gut, wie die DDR ihr Anerkennungsbemühen durch die Existenz gesamtdeutscher Gesellschaften nicht gefährdet sah. Bereits in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre verstärkte die DDR jedoch, zunächst mit dem allgemeinen Ziel, sich größere Einflussmöglichkeiten in der Gesellschaft zu sichern, ihre Aktivitäten.
Nach dem Bau der Berliner Mauer wurde im Ministerium für Kultur beschlossen, die NBG aufzulösen und danach eine Bach-Gesellschaft der DDR zu gründen.SED-Hausmitteilung vom 19. 2. 1962, SAPMO, DY 30/83394, Bl. 187–189; abgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 257 f. Doch Verhandlungen des Generalsekretärs des Komponistenverbandes, Nathan Notowicz, mit dem (westdeutschen) Vorsitzenden der Gesellschaft, Christhard Mahrenholz, führten zu einer zeitweiligen Konsolidierung der NBG als gesamtdeutscher Organisation. Infolge des Beschlusses des Sekretariats des ZK der SED von 1967 musste die NBG formell ihren gesamtdeutschen Status aufgeben und sich in eine „internationale Gesellschaft“ mit Ländersektionen umwandeln. Dies blieb jedoch weitgehend auf den formalen Status beschränkt; in der Praxis verstand sich die NBG auch weiterhin als gesamtdeutsche Vereinigung. Die Bemühungen, die in der Folgezeit Mahrenholz’ (ostdeutscher) Nachfolger Hans Pischner der Bildung von Sektionen widmete, blieben weitgehend erfolglos; die einzige wirklich aktive Sektion war bis zum Ende der deutschen Teilung die Sektion DDR. Die Neue Bachgesellschaft war neben der Goethe-Gesellschaft die einzige Kulturgesellschaft, die die deutsche Teilung in gesamtdeutscher Form überdauerte.
Gesellschaft für Musikforschung
Die Gesellschaft für Musikforschung (GfM) wurde am 1. November 1946 in Kiel gegründet. Die konstituierende Versammlung fand am 11. April 1947 in Göttingen statt. Die GfM verstand sich als Nachfolgeorganisation der nach 1933 aufgelösten „Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft“, welche aus der 1917 gegründeten „Deutschen Musik-Gesellschaft“ hervorgegangen war. Von Anfang an war die Gesellschaft gesamtdeutsch orientiert und stand auch ausländischen Interessenten offen. Bis 1968 kam der Vizepräsident aus den Reihen der ostdeutschen Mitglieder. Von 1947 bis 1959 übte dieses Amt Walther Vetter aus, der nach dem Zweiten Weltkrieg Ordinarius am Musikhistorischen Seminar der Berliner Universität (der späteren Humboldt-Universität) geworden war. Der Vorstand, unterstützt von Karl Vötterle, konnte schließlich 1954 erreichen, dass die DDR-Behörden die Errichtung der Zweiggeschäftsstelle in Leipzig genehmigten. Aus Sicht der DDR-Behörden bedeutete die Errichtung der Zweiggeschäftsstelle einerseits eine Art Lizensierung für die Tätigkeit der GfM in der DDR überhaupt, andererseits eine zusätzliche Möglichkeit zur Einflussnahme. So zielten sie sie in den folgenden Jahren auf die Errichtung zweier voneinander unabhängiger Sektionen in der GfM, um die in der DDR lebenden Mitglieder organisatorisch zu separieren und als Interessensvertreter der DDR zu instrumentalisieren. Seit 1958 bestand ihr Ziel darin, die DDR-Mitglieder aus der GfM herauszulösen und in einer neu zu bildenden DDR-Gesellschaft zu vereinen, doch beabsichtigten sie, dieses Vorhaben nur für den Fall umzusetzen, dass der Versuch scheitert, mehr Autonomie für die DDR-Vertreter zu erreichen. Dieser Kompromiss war nach dem Bau der Berliner Mauer obsolet. Nun wurden konkrete Pläne für die Errichtung einer „Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft“ ausgearbeitet. Durch einen Vermittlungsversuch des Verlegers Karl Vötterle lenkte die DDR-Seite jedoch unmittelbar vor der Realisierung dieses Plans ein. Man einigte sich darauf, eine Kommission einzusetzen, die eine Satzungsänderung zur Errichtung einer Sektion DDR innerhalb der GfM vorbereiten sollte. Zur Umsetzung dieses Vorhabens kam es aber nicht mehr; der Beschluss des Sekretariats des ZK der SED vom 5. April 1967 entzog dem gesamtdeutschen Status der GfM die Grundlage. Der „Austritt“ der (formal nie gegründeten und auch nicht in der Satzung verankerten) „Sektion DDR“ aus der GfM fand dann auf einer gemeinsamen Sitzung am 3. September 1968 in Ost-Berlin statt. Den ostdeutschen Mitgliedern wurde es fortan verwehrt, weiterhin der Gesellschaft anzugehören; die Zweiggeschäftsstelle in Leipzig wurde aufgelöst.
Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft
Die Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft (IGMW), englisch International Musicological Society (IMS), die 1927 in Basel als Nachfolgerin der Internationalen Musikgesellschaft gegründet wurde, wurde erst relativ spät von der SED als Objekt politischer Instrumentalisierung erkannt. Das mag mit dem Aufbau dieser Gesellschaft zusammenhängen, die nicht aus nationalen Verbänden besteht, sondern aus Einzelmitgliedschaften. Lediglich bei der Formel für die Besetzung des Direktoriums – des wichtigsten Leitungsgremiums – spielt die nationale Herkunft eine Rolle.
In den fünfziger und frühen sechziger Jahren gehörten der Gesellschaft auch einige in der DDR wohnende Personen an. Wegen der Nichtanerkennung ihres Staates wurden sie bei Direktoriumswahlen der gesamtdeutschen Mitgliedschaft zugerechnet. Erst in den Jahren nach dem Bau der Berliner Mauer begannen die DDR-Behörden damit, sich um eine Anrechnung der DDR als unabhängiges Land (und damit indirekt um die völkerrechtliche Anerkennung des zweiten deutschen Staates) in der IGMW zu bemühen. Offenbar gewann für die DDR ein Engagement in der IGMW erst dann an Attraktivität, als sich die Erfolglosigkeit ihrer ähnlich gearteten Anstrengungen im Rahmen der Gesellschaft für Musikforschung abzeichnete. Einen zusätzlichen Schub bedeute auch der Beschluss des Sekretariats des ZK der SED von 1967, der ihrem Engagement in der GfM auch formal ein Ende setzte. Die GfM wurde nun als „westdeutsche Gesellschaft“ fallengelassen, und man konzentrierte alle Investitionen auf die IGMW, in der Hoffnung, hier langfristig bessere Erfolgsaussichten für die politische Instrumentalisierung zu haben.
Über die bislang geübte Praxis der Delegationsbildung bei Kongressen hinaus begann sich die DDR Ende 1963, in Vorbereitung des Kongresses, der im Jahr darauf in Salzburg stattfand, in der IGMW zu engagieren. Insbesondere ging es darum, bei den Direktoriumswahlen mit einer eigenen Landesliste antreten zu können. Dazu war es notwendig, die Zahl der Mitglieder auf mindestens 20 zu erhöhen, denn von dieser Zahl an sahen die damals geltenden Statuten das Anrecht der Mitglieder eines Landes auf einen Sitz im Direktorium vor. Nachdem sich die beiden für zuständig angesehenen Staatsorgane (Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen und Ministerium für Kultur) darauf verständigt hatten, für welche der aufzunehmenden neuen Mitglieder sie die Zahlung der in Schweizer Franken zu entrichtenden Mitgliedsbeiträge übernehmen wollten, konnte mit der Aufnahmeaktion begonnen werden. Doch folgte die Leitung der IGMW dann der Argumentation eines Gutachtens eines Schweizer Juristen und lehnte den Antrag der DDR-Vertretung auf Anerkennung der DDR als selbstständigem Staat ab. Im Jahr 1967 jedoch revidierte der neue IGMW-Präsident Vladimir Fédorov (Paris) diese Entscheidung – unter Berufung auf eine statutenwidrige Abstimmung des Direktoriums. Dieses Verfahren führte zu Protesten zahlreicher Mitglieder der Gesellschaft, wozu Wolfgang Osthoff (München) die Initiative ergriffen hatte. Diese Intervention bewirkte, dass die Entscheidung Fédorovs teilweise zurückgenommen werden musste, letztlich aber wurde 1971 den DDR-Vertretern dann endgültig gestattet, als eigene Gruppe in der IGMW behandelt zu werden. Infolge dieser Entscheidung wurde am 24. Februar 1972 in Ost-Berlin eine „Ländergruppe“ der IGMW gebildet – ohne dass es dafür eine statutenmäßige Grundlage gab. Die Aktivitäten der DDR-Vertreter zur politischen Instrumentalisierung der IGMW ließen nach 1972 stark nach. Nach der internationalen Anerkennung des zweiten deutschen Staates war die Motivation zu einem weiteren Engagement in dieser Gesellschaft geschwunden. Ohnehin hatten nach der Aufnahme der DDR in die UNO internationale nichtstaatliche Organisationen ihre außenpolitische Stellvertreterfunktion weitgehend verloren.
Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft
Die Entstehung der in Halle ansässigen Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft hing zusammen mit der deutschen „Händel-Renaissance“, der Wiederbelebung insbesondere des Händelschen Opernschaffens seit Anfang der 1920er-Jahre.
Die unmittelbare Vorgängerorganisation war die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Hallische Händel-Gesellschaft. Die Besprechungen, die der Gründung vorausgegangen waren, hatten schon im Jahr 1946 begonnen; die unmittelbare Gründungsphase setzte im Oktober 1947 ein. Mit der Bildung der Gesellschaft sollte an einen bereits während des Zweiten Weltkrieges entwickelten, wegen der Kriegsereignisse aber damals nicht realisierten Plan angeknüpft werden: 1943 hatte das Kulturamt der Stadt Halle bereits einen Satzungsentwurf zur Gründung einer Händel-Gesellschaft ausgearbeitet. Schon 1939 sah ein vom hallischen Oberbürgermeister unterzeichneter Plan vor, als Ersatz für zwei erfolglose Organisationen der Händel-Pflege – die Händel-Gesellschaft in Leipzig und den Händelverein in Halle – eine „Händelgemeinschaft“ zu gründen, deren Vorsitzender stets der jeweilige Oberbürgermeister sein sollte.[o. A.]: Plan betr. Gründung einer Händelgemeinschaft, Typoskript, 23.3.1939, Stadtarchiv Halle (Saale), Kap. VI Abt. B Nr. 10 Bd. 1; vgl. Lars Klingberg: Die Gründung der Hallischen Händel-Gesellschaft – eine ‚bürgerliche‘ Vereinigung ohne Zukunftschance im Sozialismus, in: Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe, Susanne Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014 (= Studien der Stiftung Händel-Haus 2), Teil 1, 433–454, 433.
Bereits im Jahr 1949 wurde die Hallische Händel-Gesellschaft ein Opfer der Verordnung über die Beendigung der Selbständigkeit aller Kulturvereine in der Sowjetischen Besatzungszone (siehe oben). Ebenso wie die Neue Bachgesellschaft musste sie sich dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands anschließen. Die Bemühungen des Sekretärs, wenigstens eine relative Autonomie nach dem Vorbild der Bachgesellschaft zu erreichen, nämlich einen Anschluss lediglich in Form einer korporativen Mitgliedschaft der Gesellschaft im Kulturbund, scheiterten. So blieb der Hallischen Händel-Gesellschaft in der Folgezeit keine andere Wahl, als die Form eines „Arbeitskreises“ in der Kulturbund-Ortsgruppe Halle des Kulturbundes zu akzeptieren.
Anlässlich der ersten Händelfestspiele in Halle wurde 1952 im kleinen Kreis von Händel-Forschern und -Interpreten über die Gründung einer gesamtdeutschen Händel-Gesellschaft beraten.Vgl. Walther Siegmund-Schultze: Aufgaben und Ziele der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, in: Händel-Jahrbuch 2 (1956), 7–20, 7. Inzwischen hatten sich allerdings die politischen Verhältnisse im östlichen Teil Deutschlands schon so weit verändert, dass es für die Verwirklichung eines solchen Vorhabens des Segens der DDR-Behörden bedurfte. Nach den Vorstellungen des Ministeriums für Kultur sollte die Gesellschaft einen gesamtdeutschen Vorstand haben, zugleich aber sollte gewährleistet werden, dass „die Initiative bei uns in der DDR liegt“.Hans Pischner: Brief an Joachim Mückenberger vom 8. 10. 1954, SAPMO, DY 30/85141, Bl. 3 f; vgl. Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 165. Um dies zu erreichen, orientierte man sich an dem kommunistischen Volksausschuss-Modell: Nach außen repräsentierte als Präsident eine allseits anerkannte, jedoch politisch einflusslose ‚bürgerliche‘ Persönlichkeit – es war dies, wie schon bei der Hallischen Händel-Gesellschaft, der Musikwissenschaftler Max Schneider –, während die Richtungskompetenz allein in kommunistischen Händen lag. Letzteres wurde im Fall der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft durch die Einsetzung des parteitreuen Musikwissenschaftlers Walther Siegmund-Schultze in die Funktion des „Wissenschaftlichen Sekretärs“ erreicht. Nach diesen Vorgaben wurde die Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft am 23. April 1955 in Halle gegründet. In den Vorstand wurden auch drei ausländische Händelforscher sowie als ständige Vorstandsmitglieder die Verleger der Hallischen Händel-Ausgabe (Bärenreiter und Deutscher Verlag für Musik) gewählt.
Nach dem Tod Max Schneiders wurde 1967 Ernst Hermann Meyer Präsident der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft. Die im selben Jahr neu gefasste Satzung – in Angleichung an die DDR-Sprachregelung hieß sie nun Statut – passte die Ziele der Gesellschaft an die in der DDR herrschende Ideologie an. Erklärtes Ziel der Vereinigung war nun nicht mehr die bloße „Verbreitung“ von Händels Werk, sondern eine Verbreitung des Werkes „im Geist des Humanismus“.Vgl. die Satzung der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft [von 1955], in: Händel-Jahrbuch 2 (1956), 173–175, mit dem Statut [von 1967], in: Händel-Jahrbuch 13/14 (1967/1968), 215–219; vgl. Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 167.
Trotz ihrer internationalen Mitgliedschaft handelte es sich bei der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft um eine vollständig in das politische System der DDR eingepasste Organisation. Nach der im SED-Staat üblichen Verfahrensweise wurden alle Vorstandssitzungen in einer Parteigruppe vorbereitet und mit der SED-Bezirkleitung Halle koordiniert. Die westdeutschen und ausländischen Mitglieder konnten sich jedoch den Luxus leisten, bei bestimmten Entscheidungen Widerspruch einzulegen. So verhinderten auf der Versammlung im Jahr 1960 mehrere Mitglieder die vorgesehene Annahme einer vom Leiter des Händel-Hauses in Halle, Konrad Sasse, vorbereiteten Resolution, mit der sich die Gesellschaft von „allen Verfälschungen des Werkes Georg Friedrich Händels, die z.Z. der Herrschaft des Faschismus in Deutschland und entgegen den Auffassungen der friedliebenden Kräfte in jüngster Vergangenheit, in Ausgaben und Aufführungen der Deutschen Bundesrepublik erfolgt sind“, distanzieren sollte.[o. A.]: Diskussion der Mitgliederversammlung der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft am Montag, den 25. 4. 1960, Typoskript, Stiftung Händel-Haus, Halle (Saale), Bibliothek, Bestand: Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, 1a.4, Bl. 230–259, hier Bl. 240. Das Protokoll folgt einem Tonbandmitschnitt der Mitgliederversammlung, der erhalten geblieben ist: Stiftung Händel-Haus, Halle (Saale), Audioarchiv, Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, Mitgliederversammlung, HGMV 1960.06.23.
Literatur
Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3).
Lars Klingberg: Die Neue Bachgesellschaft in der Zeit der deutschen Teilung, in: Rudolf Eller (Hg.): 100 Jahre Neue Bachgesellschaft. Beiträge zu ihrer Geschichte, Leipzig 2001, 101–113; wiederabgedruckt in: Joachim Lüdtke (Hg.): Bach und die Nachwelt, Bd. 4: 1950–2000, Laaber 2005, 211–225.
Lars Klingberg: Die Gründung der Hallischen Händel-Gesellschaft – eine ‚bürgerliche‘ Vereinigung ohne Zukunftschance im Sozialismus, in: Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe, Susanne Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014 (= Studien der Stiftung Händel-Haus 2), Teil 1, 433–454.
Anmerkungen
- So implizit im Briefwechsel des Mahler-Forschers Peter Riethus mit Eberhardt Klemm; Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Eberhardt-Klemm-Archiv. Siehe auch: Ossian an Béla: Über Benjamin und Bloch. Aus dem Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Eberhardt und Erika Klemm, hrsg. von Erdmut Wizisla, in: Johnson-Jahrbuch 11 (2004), 11–28.
- Franz Chlum (Staatliches Sinfonieorchester Saalfeld): Brief an R. Rode (Ministerium für Kultur, Abteilung Musik) vom 21. 3. 1985, Bundesarchiv, DR 1/5116.
- Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen. Vom 12. Januar 1949, in: Zentralverordnungsblatt. Amtliches Organ der Deutschen Wirtschaftskommission und ihrer Hauptverwaltungen sowie der Deutschen Verwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung, Berlin, Jg. 1949, Teil I, Nr. 7 (10. 2. 1949), 67 f.; wiederabgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 179–181.
- Protokoll Nr. 24/67 der Sitzung des Sekretariats des ZK vom 5. 4. 1967, Anlage Nr. 31, SAPMO, DY 30/56949, Bl. 130 f.; Auszug abgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 52.
- Neue Bachgesellschaft, Leipzig [1910], 21.
- Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen. Vom 12. Januar 1949, in: Zentralverordnungsblatt. Amtliches Organ der Deutschen Wirtschaftskommission und ihrer Hauptverwaltungen sowie der Deutschen Verwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung, Berlin, Jg. 1949, Teil I, Nr. 7 (10. 2. 1949), 67 f.; wiederabgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 179–181.
- Verordnung zur Ergänzung der Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen. Vom 19. Juli 1949, in: Zentralverordnungsblatt. Amtliches Organ der Deutschen Wirtschaftskommission und ihrer Hauptverwaltungen sowie der Deutschen Verwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung, Berlin, Jg. 1949, Teil I, Nr. 78 (15. 9. 1949), 696; wiederabgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 183 f.
- SED-Hausmitteilung vom 19. 2. 1962, SAPMO, DY 30/83394, Bl. 187–189; abgedruckt in: Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 257 f.
- [o. A.]: Plan betr. Gründung einer Händelgemeinschaft, Typoskript, 23.3.1939, Stadtarchiv Halle (Saale), Kap. VI Abt. B Nr. 10 Bd. 1; vgl. Lars Klingberg: Die Gründung der Hallischen Händel-Gesellschaft – eine ‚bürgerliche‘ Vereinigung ohne Zukunftschance im Sozialismus, in: Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe, Susanne Spiegler: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Beeskow 2014 (= Studien der Stiftung Händel-Haus 2), Teil 1, 433–454, 433.
- Vgl. Walther Siegmund-Schultze: Aufgaben und Ziele der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, in: Händel-Jahrbuch 2 (1956), 7–20, 7.
- Hans Pischner: Brief an Joachim Mückenberger vom 8. 10. 1954, SAPMO, DY 30/85141, Bl. 3 f; vgl. Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 165.
- Vgl. die Satzung der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft [von 1955], in: Händel-Jahrbuch 2 (1956), 173–175, mit dem Statut [von 1967], in: Händel-Jahrbuch 13/14 (1967/1968), 215–219; vgl. Lars Klingberg: „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen, Kassel u. a. 1997 (= Musiksoziologie 3), 167.
- [o. A.]: Diskussion der Mitgliederversammlung der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft am Montag, den 25. 4. 1960, Typoskript, Stiftung Händel-Haus, Halle (Saale), Bibliothek, Bestand: Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, 1a.4, Bl. 230–259, hier Bl. 240. Das Protokoll folgt einem Tonbandmitschnitt der Mitgliederversammlung, der erhalten geblieben ist: Stiftung Händel-Haus, Halle (Saale), Audioarchiv, Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, Mitgliederversammlung, HGMV 1960.06.23.